Die Islamische Republik Iran ist ein autoritär regiertes Land. Bürgerpartizipation im politischen Raum, zum Beispiel bei Wahlen, ist eingeschränkt und obliegt vielschichtigen Kontrollmechanismen unter der Ägide nicht demokratisch legitimierter Gremien. Auch anderweitiges gesellschaftspolitisches Engagement der Bevölkerung unterliegt stets strengen Regeln. Zwar wird in der Verfassung der Islamischen Republik in Kapitel 3 dargelegt, welche Rechte die iranische Bevölkerung besitzt.
Dieser Missstand zieht sich wie ein roter Faden durch die nunmehr 41-jährige Geschichte der Islamischen Republik. In der öffentlichen Debatte wird das durchaus offen und kontrovers diskutiert – auch von Amtsinhaber*innen in Ministerien, durch Parlamentarier*innen oder gar dem amtierenden Präsidenten.
Zivilgesellschaft und Autokratien
Nach den Demokratisierungswellen in Südamerika und Südeuropa bestand in den 1970er und 1980er Jahren die Hoffnung, dass diese Welle auch den Nahen und Mittleren Osten erreichen würde. Doch eine ähnliche Liberalisierungsbewegung und eine Öffnung der politischen Systeme kam zwischen Marokko und Iran kaum zustande. Ein prominenter Ansatz in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung suggeriert, dass dies primär auf zu schwachen Druck vonseiten der Zivilgesellschaft auf ihre politischen Eliten zurückzuführen ist. Darum bequemten sich diese in ihren unangefochtenen Machtverhältnissen und brauchten ihrer Bevölkerung keinen politischen Raum einräumen. Für diese vermeintliche Schwäche der Zivilgesellschaft sind in der Forschung vornehmlich zwei Erklärungsansätze zu finden.
Autor*innen wie Ellie Kedourie, Samuel P. Huntington oder Steven Heydemann sehen den Grund hauptsächlich im kulturellen Kontext der Länder des orientalischen Raumes. Soziale Wertesysteme, Familienstrukturen und tiefe Religiosität fördern aus ihrer Sicht in der Bevölkerung selbst das Streben nach autoritären Strukturen. Begründet wird dies unter anderem mit einem ausgeprägten Hierarchiebewusstsein, das sowohl durch traditionelle Werte als auch durch islamische Gebote bestimmt wird. Dies wirke in letzter Konsequenz jedweden Bemühungen für mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Bevölkerung in gesellschaftlichen und politischen Fragen entgegen. So bliebe der zivilgesellschaftliche Druck auf staatliche Strukturen schwach und zu unbedeutend, um auf eine Liberalisierung der autoritären Verhältnisse hinzuarbeiten.
Ein zweiter Erklärungsansatz, vertreten von Wissenschaftler*innen wie Augustus Richard Norton, Mehran Kamrava, Asef Bayat oder Rex Brynen, sieht vor allem die seit jeher vorherrschenden politischen Strukturen der Länder im Nahen und Mittleren Osten als wesentlichen Grund für die Schwäche zivilgesellschaftlicher Akteure. Die illiberalen Kontexte hätten bereits seit dem Osmanischen Reich bestanden und sich während der Kolonialzeit und den darauffolgenden postkolonialen Diktaturen in jenen Ländern fortgesetzt. Jedwede gesellschaftliche Strömung in Richtung Liberalisierung sei zerschlagen oder im besten Fall kooptiert und deren Führungskräfte in das Machtgefüge eingewoben worden, um zu verhindern, dass sie ein alternatives politisches Modell entwickeln und einfordern. Dieser zweite Ansatz ist insofern hilfreicher, als dass er den Blick dafür öffnet, in welchen Bereichen es Raum für zivilgesellschaftliches Handeln gibt und mit welchen Methoden und Wegen dieser Raum eingenommen und bespielt werden kann.
Während man in demokratischen Kontexten vor allem organisiertes gesellschaftliches Engagement – etwa in Form von Bürgerinitiativen, NGOs, Stiftungen, Vereinen – der Zivilgesellschaft zuschreibt,
Zivilgesellschaftlicher Aktivismus wird überdies vorschnell als Engagement betrachtet, demokratische Verhältnisse zu schaffen oder zu erhalten. Während zivilgesellschaftliche Akteur*innen in westlichen Demokratien (wie politische Stiftungen in Deutschland) sich zur Aufgabe gemacht hätten, die Wehrhaftigkeit ihrer Demokratie zu stärken, strebten sie in autoritären Kontexten nach eben jener demokratischen Ordnung. Diese Sichtweise ist sicherlich nicht falsch, und doch ist sie verkürzt mit Blick auf die Rolle und das Potenzial zivilgesellschaftlicher Akteur*innen und Organisationen in einem autoritären Kontext wie dem der Islamischen Republik. Denn in einem illiberalen Umfeld gibt es andere Prioritäten und entsprechend andere Vorgehensweisen. Es unterscheiden sich maßgeblich Einschätzungen über das, was an gesellschaftspolitischen Zielen erreichbar, dringend und zielführend ist.
Im westlichen Diskurs über Bürgerrechte stehen aus gutem Grund die Presse- und Meinungsfreiheit, faire politische Partizipationsmöglichkeiten und das uneingeschränkte Versammlungsrecht im Vordergrund, und sie gelten als elementare Bausteine einer demokratischen Ordnung. Doch in Iran und vielen anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens herrschen Verhältnisse, in denen um viel Grundsätzlicheres zu kämpfen ist, um das man sich in Europa nicht sorgen muss, wobei die Corona-Pandemie aktuell auch hier für Verschiebungen sorgt. Das Streben nach Sicherheit und körperlicher Unversehrtheit, Zugang zu Bildungseinrichtungen, erreichbare Gesundheitsversorgung, ein Mindestmaß an rechtsstaatlicher Ordnung sowie die Möglichkeit, auf einem funktionierenden Arbeitsmarkt erwerbstätig zu werden: All dies sind existenzielle Bedürfnisse, die Millionen von Menschen in vielen autoritären Kontexten wie Iran zuallererst gesichert wissen wollen. Und so entsteht für einen weiten Teil der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Iran die Prämisse, ihrer Bevölkerung primär mit Blick auf diese Belange zu dienen. Überall dort, wo der Staat versagt und/oder überfordert ist, treten viele dieser Organisationen in Erscheinung, um den Bedürfnissen der Bevölkerung nachzukommen. Jene Akteur*innen und Organisationen können hierbei nicht per se als Motor oder Förderer der Demokratie verstanden werden. Denn es ist keineswegs gesagt, dass ihr Einsatz zum Wohl der Gesellschaft mit einem Bestreben nach einer Liberalisierung der politischen Ordnung des Landes einhergeht.
Im gleichen Atemzug muss erkannt werden, dass die gesellschaftlichen Nöte in weiten Teilen der iranischen Bevölkerung sehr lebensnah und unmittelbar sind. Das macht sie wesentlich dringender als die Frage nach dem politischen System ihres Landes. Gewissermaßen ist es sogar Luxus, sehr viel Zeit und Energie in die Frage der politischen Ordnung zu stecken; Zeit, die unter den gegebenen Umständen im Land viel eher darin investiert wird, das eigene wirtschaftliche Überleben und das Dach über den Kopf zu sichern. Nicht ohne Grund nimmt man stets an, dass es die Mittelschicht ist, die Treiber von Demokratisierungsprozessen ist. Denn sie kann es sich leisten, diesem Ziel viel Zeit zu widmen. Dass durch die erschwerten Lebensbedingungen tief greifende Unzufriedenheit und Wut gegenüber der politischen Elite herrschen, steht ebenfalls außer Frage. Doch ein Systemwechsel oder politischer Umsturz erscheinen als Ideen viel zu abstrakt. Stattdessen wird nach Wegen gesucht, im Konkreten die Situation zu verbessern. Hierbei wird manchmal gegen, manchmal komplementär und gelegentlich sogar gemeinsam mit dem Staat gearbeitet, sofern entweder gute Kontakte bestehen oder aber staatliche Behörden einen unterstützenden Beitrag leisten können.
Wichtig ist überdies, dass das Milieu dieser Akteure nicht entscheidend dafür ist, ob sie zur iranischen Zivilgesellschaft hinzuzählen sind. Häufig werden nur solche Individuen, Organisationen und Initiativen als "zivilgesellschaftlich" betrachtet, wenn sie nicht aus religiösen und politisch konservativen Kreisen stammen.
Soziales Engagement
Wohlfahrt
Wohlfahrt und Versorgung der besonders Hilfsbedürftigen übernehmen vornehmlich zahlreiche Engagierte aus dem religiöskonservativen Milieu. Nahezu jede größere Moschee in Iran organisiert Gruppen aus ihren Gemeinden, die an religiösen Feiertagen Straßenzüge schmücken, Süßigkeiten in der Nachbarschaft verteilen, aber eben auch dafür sorgen, dass sich die Ärmsten zwei Mal am Tag warme Mahlzeiten in der Moschee abholen können. Manchmal werden über diese Kreise auch Sachspenden (etwa Haushaltsgeräte) oder Hilfsgelder verteilt. Wichtig ist zu erwähnen, dass die hierfür zur Verfügung stehenden Mittel weitestgehend von den Moscheen selbst eingenommen und verwaltet werden. Es gehört zu den Pflichten im Islam, eine zakat, einen Anteil ihres Vermögens, als Beitrag für hilfsbedürftige Mitmenschen abzutreten. Dieser wird in der Regel an Moscheen gezahlt, der Staat hat keinen Zugriff, und versteuert wird es auch nicht. Mitunter werden diese immensen Finanzmittel auch veruntreut, doch es werden eben auch wichtige gesellschaftliche Hilfsleistungen unabhängig vom Staat erbracht. Auch wenn es aus dem religiösen Establishment zahlreiche einflussreiche Geistliche gibt, die durchaus kritisch zu den politischen Verhältnissen des Landes stehen, muss angenommen werden, dass die zivilgesellschaftliche Tätigkeit aus diesem Kreis eher systemkonform und konsolidierend auf die staatlichen Strukturen wirkt. Die Hilfsbedürftigen selbst stehen nicht unbedingt in einer Linie mit diesen Institutionen, sind aber von ihnen abhängig.
Gesundheitswesen und Pflege
Ein Großteil der in Iran aktiven NGOs arbeitet im Gesundheitswesen. Eine erstaunlich große Anzahl widmet sich hierbei der Drogenproblematik, ihrer Prävention, Behandlung und Aufklärung. Die Zahl der Drogenabhängigen in Iran schwankt zwischen 2,5 und 3 Millionen. Harte Drogen sind in Iran zu erschwinglichen Preisen zu bekommen.
Im Gegensatz zu den Moscheegemeinden verfügen diese NGOs nur sehr bedingt über finanzielle Mittel. Sie sind auf private Spenden angewiesen und auf die Bereitschaft von medizinischen Fachkräften, ehrenamtlich für sie zu arbeiten. Sie holen sich bei staatlichen Behörden häufig infrastrukturelle Unterstützung, indem sie beispielsweise mietfrei Räumlichkeiten zur Behandlung ihrer Patient*innen zur Verfügung gestellt bekommen, oder aber problemfrei ihre Tafeln öffentlich zugänglich einrichten können. Gerade weil ein hoher Anteil an den ohnehin erschreckend hohen Hinrichtungsfällen in Iran auf Drogendelikte zurückgeführt wird, ist die zivilgesellschaftliche Tätigkeit in diesem Feld besonders wertvoll. Es muss auch diesem Engagement angerechnet werden, dass die Drogen-Gesetzgebung in den vergangenen zwei Jahren entschieden verändert wurde und nur noch sehr viel schwerer wiegende Delikte des Drogenhandels und -besitzes zu einem Todesurteil führen können.
Auf dem Feld der Pflege versorgen etablierte Organisationen wie Asayeshgah-e Kheyriye-ye Ma’lulin va Salmandan-e Kahrizak Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen, die nicht hinreichend familiär unterstützt werden können. Ihnen wird bei der Bewältigung des Alltags geholfen, durch Einkäufe, Behördengänge, Fahrdienste oder körperliche Pflege. In diesen Kreis der Pflegebedürftigen fallen die vielen Versehrten des Irak-Iran-Krieges (1980–1988), insbesondere die schätzungsweise etwa 100000 Kriegsversehrten mit Spätfolgen des Einsatzes von Chemiewaffen durch Saddam Hussein. Die hier aktiven Organisationen übernehmen Pflegeleistungen von Medikation bis Physio- und/oder Schmerztherapie.
Bildungswesen
In Iran besteht Schulpflicht. Der kostenlose Zugang zum Schulangebot gilt seit einigen Jahren auch für die Kinder illegaler Flüchtlinge (zumeist aus Afghanistan).
Umweltschutz
Ein in den vergangenen zwei Jahren hochpolitisiertes Feld ist der Umweltschutz. Eine ganze Bandbreite von langjährig aktiven NGOs, Forschungszentren und einzelnen Aktivist*innen, Journalist*innen und Intellektuellen widmete sich in den vergangenen Jahren verstärkt den zum Teil dramatischen Umweltproblemen Irans. Ihre Arbeit wurde von der Regierung des 2013 ins Amt gewählten Präsidenten Hassan Rouhani so sehr geschätzt, dass wichtige Aufgaben in diesem Segment offen an zivilgesellschaftliche Akteure ausgeschrieben wurden – aus dem klugen Gedanken heraus, dass es diese Akteure sind, die wesentlich besser wissen, welche Form der Aufklärungsarbeit für Mülltrennung und -reduzierung, geringeren Wasser- und Energieverbrauch und ähnliche alltägliche Phänomene notwendig ist und wie man diese gestaltet. Der hier zur Verfügung stehende Raum für zivilgesellschaftliches Engagement schien bedeutend zu wachsen.
Doch dann erfolgten Ende 2017, Anfang 2018 herbe Rückschläge durch den Sicherheitsapparat Irans. Über Jahre hinweg hatten Umweltexperten staatliche Stellen dazu aufgefordert, die Umweltprobleme des Landes als dringende Sicherheitsrisiken einzustufen. Damit hatten sie Erfolg, denn der Sicherheitsapparat unternahm genau das. Doch das bedeutete, dass fortan Forschung und Aktivismus in diesem Feld unter akribischer Beobachtung stand. Begründet wird es damit, dass sensible Daten über die iranische Geografie ermittelt und über die Zusammenarbeit mit ausländischen NGOs auch ins Ausland übermittelt werden. So griff der iranische Sicherheitsapparat brutal ein, nahm mindestens acht namhafte Umweltaktivist*innen fest und bezichtigt sie bis heute der Spionage für ausländische Regierungen,
In der Summe wird im Feld des sozialen Engagements der iranischen Zivilgesellschaft deutlich, dass der Staat bei aller Skepsis gegenüber NGOs dankbar ist für die Arbeit, die dort geleistet wird.
Politischer Aktivismus
Schon immer eingeschränkt ist hingegen der zivilgesellschaftliche Raum für politischen Aktivismus. Dieser ist vor allem an den Universitäten Irans stark ausgeprägt. Ganz gleich ob vor oder nach der 1979er Revolution: Die Protestbewegungen Irans finden ihren Ursprung stets unter der Studentenschaft. Zumindest machen sie einen bedeutenden Teil von sozialen Bewegungen aus. Denn sie geben dem zu veräußernden Unmut ein ideelles Gerüst, manchmal eine Ideologie. Erst dann werden aus Wutausbrüchen echte politische Bewegungen. Hierauf hat der Staat in Iran einen sehr strengen Blick, erlaubt Aktivismus nur solange, bis die allgemeine Ordnung in Gefahr gerät.
Mittlerweile sind fast elf Jahre vergangen seit der zuletzt wohl größten politischen Protestbewegung in Iran seit 1979: der Grünen Bewegung. Sie formierte sich im Sommer 2009, nachdem ein beachtlicher Teil der Bevölkerung hinter den Wahlergebnissen der Präsidentschaftswahl Wahlfälschung vermutete. Mit dem Slogan "Wo ist meine Stimme?" zogen am 15. Juni 2009 offiziellen Schätzungen zufolge etwa drei Millionen Menschen in einem Schweigemarsch durch Teheran.
Folglich ging der Staat bei Straßenprotesten mit immer größerer Härte vor. Mehrere Tausend Demonstrant*innen wurden festgenommen, Dutzende getötet. Mit dieser Bewegung sympathisierende Journalisten verloren ihren Job, Student*innen und Dozierende wurden aus den Universitäten verbannt. Namhafte Reformpolitiker wurden ins politische Abseits gestellt, inhaftiert oder anderweitig mundtot gemacht. Die politischen Führer der Bewegung und Präsidentschaftskandidaten 2009, Mir-Hossein Mousavi und Mehdi Karroubi, stehen bis heute unter Hausarrest.
Die bittere Lektion aus dieser Episode des politischen Protests in Iran besagt, dass einer noch so friedlichen und von namhaften politischen Figuren unterstützte Protestbewegung in den Machtstrukturen der Islamischen Republik keinerlei Raum geboten wird: Weder werden ihre Forderungen noch ihre politische Identität anerkannt, es gibt keinerlei versöhnliches Entgegenkommen, stattdessen Zurückweisung und Zerschlagung. Es mag daran liegen, dass diese Bewegung, ganz gleich ob nun der Vorwurf des Wahlbetrugs zutraf oder nicht, Eigenschaften einer echten sozialen Bewegung aufzuweisen schien, die womöglich für den Machtapparat hätte zu stark werden können. Denn die Grüne Bewegung ist aus einem etablierten politischen Lager, den eslaahtalab (Reformern) entstanden, die seit den späten 1990er Jahren kontinuierlich und konstant für mehr politische, kulturelle und gesellschaftliche Freiheit einstehen. An der Spitze dieser Bewegung standen zwei namhafte Revolutionäre der ersten Stunde: Mousavi war Premierminister in den Kriegsjahren 1980 bis 1988 (als es diesen Posten noch gab), Karroubi war von 2000 bis 2004 Parlamentssprecher und Gründer der Reformpartei E’temaad-e Melli. Schließlich wurde "Das Grüne Manifest" (manshour-e sabz) für diese Bewegung verfasst und eine eigene Partei namens Grüner Pfad der Hoffnung gegründet. Doch das änderte nichts daran, dass die Ziele und Ansätze dieser Bewegung ins Leere liefen – zumindest für eine gewisse Zeit. Denn schon bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2013, bei der der amtierende Präsident Hassan Rouhani Violett zu seiner Kampagnenfarbe machte, waren neben violetten Symbolen auch grüne Fahnen und die Konterfeis der Anführer der Grünen Bewegung Mousavi und Karroubi wieder zu sehen. Die Ideen, Ziele, Ambitionen und Aspirationen der Grünen Bewegung lebten weiter.
Doch ein tatsächliches Wiederaufleben der Bewegung hat es nicht gegeben. Ebenso wenig hat es seither eine ähnlich tiefgehend organisierte Protestbewegung in Iran gegeben. Gewerkschaften und Verbände, die die Einzelinteressen bestimmter Berufsgruppen vertreten, rufen immer wieder zu Streiks, Protestkundgebungen und weiteren Aktivitäten auf, um ihren Unmut zu äußern. Doch bleiben diese zumeist in ihrem Ausmaß sehr überschaubar und in ihrer Sache sehr speziell. Aus ihnen erwachsen keine politischen Bewegungen von größerer Tragweite. Zwar hält der Staat auch diese Gewerkschaften klein und unter strenger Beobachtung. Doch sie werden nicht so gefürchtet wie eine politische Bewegung, die zum Ziel hat, an der politischen Struktur des Landes zu rütteln. Daher werden vereinzelt stattfindende Proteste und Demonstrationen geduldet und ihnen dafür besondere Orte in den Städten zugeteilt.
Anfang 2018 und Ende 2019 eskalierten Proteste jedoch. Es kam in weiten Teilen des Landes zu außergewöhnlich gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstrant*innen und Sicherheitskräften. 2018 wurden sie angestachelt von erzkonservativen Feinden der Regierung Rouhani, weil dieser ein Budget für das kommende Haushaltsjahr vorgelegt hatte, das seinen Rivalen nicht passte. Die Proteste, die in Mashhad losgingen, entwickelten eine Eigendynamik, weiteten sich in insgesamt 84 Städte und Orte aus und zogen sich zwei Wochen lang hin. Ihre Ausbreitung war beachtlich, doch die Zahl der Demonstrant*innen gering. Landesweit wurden knapp 100.000 gezählt. Es gab Tausende Festnahmen und laut offiziellen Zahlen 24 Tote. Anders als 2009 äußerten Regierungsvertreter bis hin zum geistlichen Oberhaupt und Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei Worte des Verständnisses für die wirtschaftlichen Nöte der Protestierenden, wenngleich ihr Vandalismus klar verurteilt wurde.
Als die Regierung im November 2019 beschloss, die Benzinpreise zu erhöhen, brachen erneut in weiten Teilen des Landes Proteste aus. Und diesmal entwickelten sich diese in einigen Regionen des Landes zu regelrechten Straßenschlachten. Das Gewaltniveau war nochmal um ein Vielfaches höher als Anfang 2018. Neben staatlichen Gebäuden und Polizeistationen wurden auch Privathäuser und teils kritische Infrastruktur der Ölindustrie des Landes attackiert. Dies veranlasste die Sicherheitskräfte ihrerseits zu unnachgiebiger Härte. Amnesty International und weiteren Menschenrechtsorganisationen zufolge sind um die 300 Menschen in nur zwei Wochen getötet worden.
Schnell wurden Vergleiche gezogen zwischen den Protesten vom Januar 2018 und November 2019 mit der Grünen Bewegung. Doch die Unterschiede sind erheblich. Die Grüne Bewegung entstand aus einer umstrittenen Präsidentschaftswahl und somit einem rein politischen Ereignis heraus. Sie formierte sich aus einem Kreis politischer Aktivist*innen mit klar umrissenen Ideen und einer zugrundeliegenden politischen Agenda der seit über zwei Jahrzehnten bestehenden Reformbewegung. Sie hatten ein konkretes Ziel (Neuwahlen) und folgten mit klarer politischer Führung und geleitet von den beiden Politikern Mousavi und Karroubi ihren Forderungen, als politische Subjekte und Bewegung anerkannt zu werden. Ihr Vorgehen war gänzlich gewaltfrei, und sie zog Millionen statt nur Hunderttausende auf die Straße. Auch spontanem, unorganisiertem Aktivismus wurde eine gemeinsame Richtung gegeben. Es ist natürlich denkbar, dass die eher wie Wutausbrüche ohne politische Ideologie wirkenden Proteste von 2018 und 2019 über die Zeit eine ähnliche Dynamik gewinnen. Hierfür müssten sich ihnen jedoch einflussreiche Aktivist*innen und politische Figuren anschließen oder aber aus ihnen hervorgehen. Es gibt sicherlich das Phänomen führerloser Bewegungen. Doch eine klare politische Orientierung, die über Maximalforderungen hinausgeht, wird es brauchen, um zu einer sozialen Bewegung zu werden.
Blickt man auf die Rolle der iranischen Zivilgesellschaft im politischen Raum, sind es vornehmlich die gewaltfreien Bewegungen, deren politische Ziele potenziell Einzug in den staatlichen Diskurs erlangen können. Die kurzen Proteste nach dem versehentlichen Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs im Januar 2020 durch die Luftwaffe der Revolutionsgarden entsprangen allesamt aus den Universitäten. Auch sie waren zahlenmäßig klein. Doch die Offenlegung des Glaubwürdigkeitsverlustes der Militärelite wirkt nach und wurde auf politischer Ebene von vielen namhaften Persönlichkeiten mit vertreten. Dieser Prestigeverlust der Revolutionsgarden führt zu ihren überaus weitreichenden Bemühungen, sich mit besonders großem Engagement während der Bewältigung der Corona-Pandemie so gut wie möglich zu rehabilitieren. Natürlich wirken auch Unruhen wie die von 2018 und 2019 auf politischer Ebene nach. Der Unterschied zu sozialen Bewegungen ist jedoch, dass hier mit einigen wenigen Maßnahmen – vor allem wirtschaftlichen Anreizen – ein weiter Teil der Demonstrant*innen zufriedengestellt werden kann, während eine halbwegs solide formierte soziale Bewegung fortwährende politische Mitsprache einfordern wird. Selbst im Falle der Grünen Bewegung konnte man beobachten, wie die Protestbewegung zunächst zerschlagen wird, manche ihrer politischen Forderungen jedoch später – mit der Wahl Hassan Rouhanis 2013 – unter Gesichtswahrung der Eliten Einzug in den staatlichen Diskurs erhalten.
Staat und Gesellschaft in der Corona-Krise
Die Corona-Krise hat Iran mit voller Wucht getroffen. Das Land wurde im globalen Vergleich früh von der Pandemie heimgesucht. Reisen zwischen Iran und China fanden noch lange Zeit weiterhin statt, obwohl das Virus in China längst ausgebrochen war. In dieser Zeit der fortwährenden Delegationsreisen, so wird vermutet, muss Irans "Patient Null" ins Land eingereist sein. Warum sich das Virus dann rasend schnell verbreitete, hat mehrere Gründe. Der Staat reagierte viel zu spät und viel zu langsam. Bis erkannt wurde, welch tödliche Bedrohung im Land kursiert, war das Virus längst in verschiedenen Landesteilen zugegen. Die gebotenen Gegenmaßnahmen verliefen aufgrund der schwergängigen Bürokratie staatlicher Stellen sehr langsam. Die hochqualifizierten und weltweit renommierten Forschungsinstitutionen Irans sind kaum mit den politischen Entscheidungszirkeln verbunden, etwa im Gegensatz zum Robert-Koch-Institut in Deutschland. Epizentrum war die Heilige Stadt Qom, eine Zwei-Millionen-Stadt, in der pro Jahr 20 Millionen Besucher*innen allein aus Iran ein- und ausreisen. Bis über Quarantänemaßnahmen überhaupt nachgedacht wurde, waren bereits infizierte Bürger*innen schutzlos in der Stadt unterwegs.
Zudem leidet Iran unter den über Jahrzehnte angehäuften Einschränkungen durch US-Sanktionen. Das medizinische Personal von Krankenhäusern ist sehr gut ausgebildet und hält im weltweiten Vergleich mit. Wenn es jedoch um die technische Ausstattung und Verfügbarkeit von Medikamenten geht, ist Iran arg in Bedrängnis bei der Behandlung chronischer Krankheiten und natürlich bei der Bekämpfung einer Pandemie.
Hierbei spielte die beschriebene Vielfalt der iranischen Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle: Eine Gruppe von Privatunternehmern gründete die Kampagne Nafas (Atem).
Nachdem zahlreiche Moscheen ihre Pforten schließen mussten, wird der großflächige Innenbereich vielerorts dafür genutzt, Masken zu produzieren und Lebensmittelpakete zusammenzustellen. Auch die Verteilung an die Haushalte wird aus den Moscheegemeinden heraus koordiniert. Manch Automobilhersteller ist dazu übergegangen, Beatmungsgeräte für die Behandlung der Covid-19-Patienten zu produzieren. Und der nach dem tödlichen Fiasko mit der ukrainischen Passagiermaschine in Ungnade gefallene Militärapparat errichtet mobile Krankenhäuser mit mehreren tausend Betten.
Es wird interessant sein, mit Abstand zu dieser Gesundheitskrise zu untersuchen, ob und inwieweit sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Islamischen Republik gewandelt hat. Es gilt als ein wahrhaft universelles Phänomen, dass man in Zeiten einer Krise zusammenrückt. Ob das in Iran auch der Fall sein wird, wird sich vor allem dann zeigen, wenn die wirtschaftlichen Schäden dieser Krise die Bevölkerung erreichen. Den Staat erwartet nach der Überwindung der Pandemie sogleich die nächste große Herausforderung.