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Irans Wirtschaft im Zeichen von US-Sanktionen und Corona-Krise | Iran | bpb.de

Iran Editorial Die Atomvereinbarung mit Iran. Gegenstand, Genese, Gefahren Sicherheitsdenken und Machtprojektion. Iran im Nahen Osten Schiiten und Sunniten. Ein politisch-religiöser Konflikt der Gegenwart Von Verbündeten zu Erzfeinden. Zur kurzen, aber wirkmächtigen Geschichte der USA-Iran-Beziehungen Eine Theokratie hinter republikanischen Fassaden. Machtstrukturen der Islamischen Republik Iran Irans Wirtschaft im Zeichen von US-Sanktionen und Corona-Krise Irans Zivilgesellschaft. Soziales Engagement und politischer Aktivismus in einem autoritären Staat Karten

Irans Wirtschaft im Zeichen von US-Sanktionen und Corona-Krise

Wilfried Buchta

/ 13 Minuten zu lesen

Bereits vor der Corona-Pandemie, die auch in Iran seit Februar 2020 wütet, war Teherans Wirtschaft in einer Krise, die durch die ab Mai 2018 erneut verhängten US-Sanktionen noch verschlimmert wurde. Anfang 2020 waren alle ökonomischen Indikatoren, die den Zustand der Wirtschaft Irans abbilden, negativ. War bereits 2018 das Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent gegenüber 2017 gesunken, ging es 2019 noch einmal um knapp 10 Prozent zurück, und der Internationale Währungsfonds prognostiziert für 2020 ein Minus von 6,5 Prozent. Im Zeitraum zwischen 2010 und Anfang 2020 bewegte sich die Inflationsrate zwischen 20 und 40 Prozent, und sie steht derzeit bei 41 Prozent, Tendenz steigend. Als Folge dessen sank die Massenkaufkraft der aktuell etwa 84 Millionen Einwohner drastisch, worunter die ärmeren 70 Prozent der Bevölkerung am meisten leiden. Man schätzt, dass aktuell mindestens sechs Millionen Iraner arbeitslos sind, wovon Frauen und Jugendliche am stärksten betroffen sind.

Grundlagen und Performanz der iranischen Wirtschaft

Im Unterschied zu den reichen arabischen Golfstaaten, deren größtenteils monostrukturierte Wirtschaftssysteme fast allein auf Förderung und Export von Rohöl fußen, verfügt Iran neben großen Öl- und Gasvorkommen (bei Reserven an Öl und Gas steht Iran an vierter beziehungsweise zweiter Stelle weltweit) über ein großes Reservoir gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Noch wichtiger: Iran hat eine relativ breite industrielle und wirtschaftliche Basis. So waren beispielsweise an der Teheraner Börse 2019 Firmen aus über 40 Industrie- und Wirtschaftszweigen gelistet, darunter Petrochemie, Bergbau und Mineralerzeugnisse (Eisen, Kupfer, Blei, Aluminium), Bau-, Stahl-, Auto-, Agrar-, Zement-, Textil- und Bekleidungsindustrie, Nahrungsmittelproduktion und -verarbeitung und Tabakverarbeitung.

Die Grundlagen für diese breite industrielle Basis wurden in der Ära der Pahlavi-Monarchie (1925–1979) gelegt. Nach der Etablierung der Islamischen Republik Iran verstaatlichten die neuen Machthaber 90 Prozent der Industriefirmen und Wirtschaftsbetriebe sowie fast alle Banken. Zudem schlug sich der sozialegalitäre Elan des neuen Revolutionsregimes in ökonomischen Errungenschaften für breitere Bevölkerungsschichten nieder. Hauptnutznießer waren vor allem Khomeinis treueste Anhänger, die von ihm ab 1979 politisch und sozial aufgewerteten und umworbenen Armen und mostazafan (Entrechtete), die beim Umsturz des Schah-Regimes das Fußvolk der Revolution bildeten. Energisch trieb das Revolutionsregime den Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur in nur zehn Jahren voran – eine gigantische Leistung, zumal angesichts der hohen wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Lasten, die Teheran damals gleichzeitig durch den Krieg gegen den Irak (1980–1988) aufgebürdet wurden. Binnen der ersten Dekade des neuen Regimes wurden alle Landstraßen des Landes asphaltiert. Somit wurden erstmals Transportverbindungen zwischen allen Städten und den entlegensten Dörfern möglich gemacht. Durch neu geschaffene revolutionäre Entwicklungsorganisationen zur Förderung der Agrarwirtschaft und der Landbewohner erhielten selbst winzige und abgelegene Dorfgemeinden Anschluss an Stromnetze und Verteilsysteme für sauberes Trinkwasser. Auch das Gesundheitswesen wurde massiv ausgebaut und verbessert. Dank des Ausbaus des Schulwesens sank die Analphabetenquote in der ersten Regimedekade von 80 auf unter 20 Prozent. Parallel zu der wachsenden Zahl von Schulabsolventen wurde durch die Gründung Dutzender neuer Hochschulen im ganzen Land auch der höhere Sektor der Bildungsinfrastruktur ausgebaut. Heute gibt es in Iran 4,5 Millionen Studierende, von denen über 55 Prozent Frauen sind.

Im regionalen Vergleich hat Iran für seine Wirtschaftsentwicklung exzellente Ausgangsbedingungen. Trotzdem stagniert die wirtschaftliche und soziale Entwicklung und bleibt bis heute weit hinter ihren Potenzialen zurück. Woran liegt das? Iran unterließ es, einen konsequenten Entwicklungskurs einzuschlagen, der das Land auf eine dauerhafte industriell-technologische Basis, vergleichbar etwa der von Südkorea, hätte heben können. Im Ergebnis kann Iran bis heute Wohlstand und Lebensstandard seiner Bevölkerung nicht dauerhaft sichern, im Gegenteil: Heute leben 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze; der durchschnittliche Mindestlohn ist zwischen 2010 und 2018 von monatlich 400 Dollar auf 100 bis 130 Dollar gesunken. Kurzum: Die Zahlen offenbaren, dass Irans Revolutionsregime sein 1979 an das iranische Volk gegebene Versprechen, für soziale Gerechtigkeit und Wohlstand zu sorgen, gebrochen hat. Schuld an dieser sozialen Misere sind neben externen Faktoren wie den US-Sanktionen vor allem aber hausgemachte politisch-ideologische Faktoren, allen voran aber die Misswirtschaft und Korruption in Kreisen der Machtelite, deren Lebenselixier die Teilhabe an den Öleinkünften ist.

Bis heute krankt Irans Wirtschaft an ihrer einseitigen Abhängigkeit von Staatseinkünften aus den Ölexporten. 2014 machten die Öleinnahmen 33 Prozent des Staatshaushaltes und 24 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Wie in anderen nahöstlichen Ölrentenökonomien auch ist das Öl für Iran zugleich Segen und Fluch. Avancierten doch die Öldeviseneinnahmen zum Hauptmotor für die Entwicklung der Wirtschaft, den Ausbau der technischen und medizinischen Infrastruktur und den Erhalt des Wohlfahrtsstaats. Den Erhalt dieses Wohlfahrtsstaats lässt sich das Regime durch Subventionen für zahlreiche Grundnahrungsmittel, Heizöl und Autobenzin Unsummen kosten: 2006 machten Subventionen für Energieträger und Nahrungsmittel 25 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Somit bestimmt die Höhe des Rohölpreises in großem Maße über Wohl und Wehe Irans. Und vom Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs im September 1980 bis zur Corona-Krise 2020 schwankte dieser Preis in Bandbreiten, die dem Auf- und Ab einer Achterbahnfahrt gleichen. Im April 2020 lag er bei nur mehr 20 Dollar. Gerade derzeit sind Irans Erdöleinkünfte so niedrig wie nie. Um einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu gewährleisten, braucht Iran einen Ölpreis, der im jährlichen Mittel zwischen 110 und 130 US-Dollar pro Barrel Öl (131 Liter) liegt. Teherans Finanzhaushalt kommt in immer stärkere Schieflage, insbesondere seit der Wiedereinführung der US-Sanktionen im Mai 2018, die Irans Ölexporte massiv einbrechen ließen. Betrugen sie noch Mitte 2018 etwa 2,7 Millionen Barrel pro Tag, sind sie stufenweise infolge der immer besser greifenden US-Sanktionen bis April 2020 auf 144.000 Barrel pro Tag zurückgegangen.

Der lange geleugnete Ausbruch der Corona-Pandemie in Iran, von der Regierung erst spät, nämlich am 19. Februar 2020 offiziell eingestanden, trifft das Mullah-Regime zur Unzeit, in der es nicht nur mit einer schwereren Wirtschaftskrise und Finanzmittelknappheit kämpfen muss, sondern auch mit einer Legitimationskrise. Das wirtschaftliche Elend führte zum Ausbruch zweier landesweiter sozialer Protestwellen, nämlich zur Jahreswende 2017/18 und im November 2019. Beide Male schlug das Regime mit brutaler Härte die Unruhen nieder. Zukünftige soziale Unruhen sind angesichts der fortdauernden Wirtschaftskrise wahrscheinlich; der Legitimationsverlust des Regimes wurde nicht zuletzt durch den Abschuss eines Passagierflugzeugs mit 176 iranischen Fluggästen am 8. Januar 2020 über Teheran befördert und trägt zur Erklärung bei, warum nur wenige Iraner dem Corona-Krisenmanagement des Regimes vertrauen.

Corona-Krise

Die von Irans Regierung seit Februar 2020 ergriffenen Corona-Bekämpfungsmaßnahmen lesen sich wie eine Chronik von Versäumnissen, Vertuschungen und Versagen. Einer der Gründe dafür hat mit politischer Rücksichtnahme und der "China-Connection" zu tun. Um sein politisches Überleben zu sichern, ist Iran auf Gedeih und Verderb auf die enge politische und vor allem ökonomische und kommerzielle Kooperation mit China angewiesen. Durch die US-Sanktionen in ernste finanzielle Bedrängnis geraten, kann Iran auf China als einen der letzten Käufer des iranischen Öls ebenso wenig verzichten wie auf Chinas milliardenschweres Engagement im Aufbau der iranischen Industrieinfrastruktur, ein Feld, auf dem Peking durch Kreditvergabe und Entsendung Tausender Techniker zahlreiche Projekte vorantreibt.

Als im Dezember 2019 China offiziell den Ausbruch des neuartigen Coronavirus weltweit publik machte, spielte die Regierung in Teheran die Gefahr einer möglichen Verbreitung in Iran herunter. Und obwohl der frühere iranische Gesundheitsminister Hassan Ghazizadeh-Hashemi (2013–2019) Ende Dezember 2019 Präsident Hassan Rouhani vor dem drohenden Ausbruch der Corona-Pandemie gewarnt hatte, unterließ er es zwei Monate lang, vorbeugende medizinische Schutzmaßnahmen zu ergreifen und präventive Notfallpläne zu erarbeiten. Derweil lief der reguläre tägliche Flugverkehr zwischen Iran und China uneingeschränkt weiter. Bis er schließlich Anfang März 2020 eingestellt wurde, wurden Flugpassagiere beider Nationen nur oberflächlich oder gar nicht auf Virusbefall getestet. Bedacht darauf, Ängste und Verunsicherung im Volk um jeden Preis zu vermeiden, entschied Rouhani die Warnungen von Regierungsfunktionären, die bereits Corona-Verdachtsfälle in der Stadt Qom gemeldet hatten, zu ignorieren. Zu viel stand auf dem Spiel. Sollte doch die Beteiligung möglichst vieler Iraner an zwei für das Selbstbild des Regimes hochbedeutsamen Veranstaltungen gewährleistet bleiben: den alljährlich am 11. Februar abgehaltenen Siegesfeiern der 1979er Revolution und den für den 21. Februar angesetzten Parlamentswahlen. Erst am 19. Februar 2020 meldete das Gesundheitsministerium, zwei infizierte Personen in Qom entdeckt zu haben. Sonderbarerweise starben die beiden schon am gleichen Abend. Das wiederum erhärtete den unter anderem auch von der WHO geäußerten Verdacht, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Seuche schon landesweit ausgebreitet hatte. Doch selbst nach dem offiziell eingestanden Ausbruch des Virus fuhr die Regierung fort, die Seuche zu verharmlosen und ihr Ausmaß zu vertuschen. Derweil verbreitete sich die Pandemie schnell und ungehemmt in allen 31 Provinzen Irans. Bis zum 10. März waren schon mehrere Dutzend Regierungspolitiker am Coronavirus erkrankt, darunter auch der stellvertretende Gesundheitsminister und 29 der 290 Parlamentsabgeordneten; einige starben später daran.

Dass die 1,2 Millionen Einwohner zählende Stadt Qom, in der 40.000 schiitische Geistliche und Theologiestudenten lehren und leben, Epizentrum der Seuche war, sollte sich als fatal erweisen. Denn Qom ist nicht nur das wichtigste theologische Lehr- und Wissenschaftszentrum der schiitischen Welt, sondern auch Sitz des Masouma-Schreins, der – neben dem Imam-Reza-Schrein in Mashhad – wichtigsten schiitischen Wallfahrtstätte des Iran. Die Grabstätten der Heiligen sind Anziehungsorte zahlloser schiitischer Pilger aus aller Welt. Sie drängen Tag und Nacht dorthin, um zu beten und die Heiligen um beruflichen Erfolg, Gesundheit und Genesung bei Krankheit anzuflehen. Bestandteil der tradierten Glaubenspraxis ist, die silbernen Gitterstäbe, mit denen die Heiligensärge umgittert sind, zu berühren und zu küssen.

In Qom operiert auch die International Al-Mustafa-University (IMU) mit ihren 30.000 überwiegend ausländischen Studenten. Sie unterliegt strengster Geheimhaltung, weil sie theologisches Missionarsausbildungswerk und Agentenkaderschmiede zugleich ist und das Ziel verfolgt, ausländische Studenten auszubilden und später als irantreue Prediger und Missionare in ihre Heimatländer zurückzusenden. Unter den IUM-Studenten sind auch 700 sunnitische und schiitische Uiguren aus dem Westen von China. Ende März bestätigte in einer Videokonferenz der stellvertretende iranische Gesundheitsminister, Ali-Reza Raisi, die bereits seit Wochen kursierende Vermutung, das Coronavirus sei durch die chinesischen IUM-Studenten, die sich während Heimaturlauben in China infiziert hatten, nach Iran gelangt. Mit Sicherheit dürften die chinesischen IUM-Studenten auch die vier größten Pilgerstätten Irans (Qom, Mashhad, Rey/Teheran, Shiraz) besucht haben, von wo aus sich das Virus ungebremst ausgebreitet haben dürfte. Ideale Ausgangszentren, zumal diese Pilgerorte nach offiziellen Angaben in Iran allein 2019 zusammengenommen von fast 80 Millionen Pilgern besucht wurden. Trotz Warnung von Virologen konnten die geistlichen Kuratoren der Pilgerschreine, allesamt Günstlinge und Vertraute des Revolutionsführers Ali Khamenei, deren Schließung lange erfolgreich abwenden. Ihre auf Aberglauben und realitätsverachtender Frömmigkeit fußende Begründung lautete: Die durch die Heiligenschreine mit göttlichem Segen und Wunderkräften ausgestatteten Pilgerstätten seien per se dar ol-shafaa, Orte der Heilung, und jeder Pilger, der sie aufsucht, vor Krankheit gefeit. Dass ihr Widerstand weniger in gottgefälligen Absichten, sondern eher in rücksichtlosem materiellem Gewinnstreben wurzelte, verschwiegen sie indes. Denn die Ströme der Pilger spülen reichlich Geld in die Kassen der Schrein-Kuratoren und ihrer Bazarhändler-Klientel. Und warum? Weil der Pilgertourismus, aufgebaut auf von ihnen betriebene Reiseagenturen, Hotelunterkünfte, Restaurants und Devotionalienläden, ein milliardenschweres Geschäft ist, an dem sie am meisten verdienen. Als sich schließlich das Gesundheitsministerium gegen den Widerstand des staatstragenden schiitischen Klerus durchsetzen und die Pilgerschreine am 16. März 2020 schließen konnte, war es schon zu spät: Das Virus lief um.

Anfang März rief Präsident Rouhani einen vom Gesundheitsministerium geleiteten Corona-Krisenstab ins Leben. Gestützt von Revolutionsführer Khamenei, beschloss der Corona-Krisenstab, landesweit Schulen, Universitäten, Restaurants, Sportveranstaltungsstätten, Hotel- und Gastronomiebetriebe, Bazare und Shopping-Malls und öffentliche Gebetsplätze, darunter auch die Moscheen, zu schließen. Die Arbeit in staatlichen Büros, Banken und Fabriken, den Bau- und Agrarsektoren und Supermärkten wurde indes ebenso wenig verboten wie die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Stattdessen beließ Rouhani es bei unverbindlichen Ermahnungen an die Iraner, soziale Distanz zu üben. Da lokale und regionale Ausgangssperren sowie strafbewehrte Quarantäne-Erlasse unterblieben, machten sich am 21. März, bei Beginn zweiwöchigen persischen Neujahrsfest, etwa 8,5 Millionen Menschen auf den Weg, um Verwandte und Freunde in anderen Städten und Provinzen zu besuchen. Zwar unterstützte Khamenei die Regierungsanordnungen zur Seuchenbekämpfung. Um von eigener Schuld abzulenken und die Verantwortung dem Hauptfeind Irans, den zum "Großen Satan" stilisierten USA zuzuschieben, verbreitete er aber in seinen Reden Verschwörungstheorien. Wie Khamenei in seiner Rede zum persischen Neujahrsfest am 21. März erklärte, stamme das Virus aus US-Waffenlabors und sei eigens auf die Gene der Iraner abgestimmt und nach Iran geschmuggelt worden.

Irans unterfinanziertes medizinisches Gesundheitswesen hatte von Beginn an große Schwierigkeiten, mit der Pandemie fertig zu werden. Es fehlte (und fehlt weiterhin) an fast allem von Testmaterial und Beatmungsgeräten über Intensivbetten und Medikamenten bis hin zu medizinischer Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Diese Defizite wurden durch die 2018 erneut verhängten US-Sanktionen noch größer. Teheran hat seither keinen Zugang mehr zu seinen Konten im Ausland. Da fast sämtliche internationale Banken die Zusammenarbeit mit Iran einstellten, kam der Import von essenziellen Medizingütern fast zum Erliegen. Trotzdem wies Revolutionsführer Khamenei Ende März 2020 das Angebot der US-Regierung, Teheran bei der Eindämmung der Pandemie durch die Entsendung medizinische Hilfsgüter und Ärzte zu helfen, brüsk zurück. Schließlich blieben die USA, so Khamenei, ein listenreicher und bösartiger Feind der Revolution, dem nicht zu trauen sei. An Khameneis Veto scheiterte auch wenig später eine von den Leitern der Außen,– Gesundheits- und Geheimdienstressorts in Rouhanis Kabinett für Ende März bewilligte, schon auf dem Weg nach Iran befindliche Nothilfemission der Französischen humanitären Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF, médiciens sans frontieres). Von politischer Paranoia beherrscht, begründete Khamenei seine Absage mit dem Verdacht, es handele sich um eine von feindlichen westlichen Agenten unterwanderte, auf die Zersetzung Irans zielende Operation.

Der auch von den Revolutionsgarden unterstützte Abbruch der bereits angelaufenen MSF-Hilfsoperation enthüllte abermals die Abgründe des ewigen Machtkampfs zwischen den Elitefraktionen, ein Machtkampf, der selbst in der Corona-Krise, die innere Einigkeit erzwingen müsste, niemals ruht. Denn während der Corona-Krisenstab Rouhanis prinzipiell zur Zusammenarbeit mit dem Westen zur Pandemiebekämpfung bereit ist, lehnen andere, ebenfalls mit der Corona-Bekämpfung beauftragte Machtzentren sie vehement ab. Zu ihnen zählt das Imam-Reza Health and Medical Treatment Headquarters. Diese vom Generalstabschef der Streitkräfte, General Mohammad Bagheri, geleitete und von ihm im Auftrag Khameneis Mitte März 2020 eingerichtete Organisation führt ihre Corona-Operationen als Abwehrkampf gegen einen verdeckten US-Biowaffenkrieg gegen Iran. Den Reigen vervollständigt das Central Biological Defence Headquarters (CBDH) der Revolutionsgarden. Es ist eine weitere mit der Corona-Bekämpfung befasste hybride medizinisch-militärische Großorganisation. Das undurchsichtige Neben- und Gegeneinander dieser drei Organisationen, die um Personalressourcen, Finanzmittel, Kompetenzen und mediale Deutungshoheit über die Corona-Berichterstattung in den Staatsmedien ringen, hindert Iran daran, eine stringente, durchdachte und koordinierte Corona-Bekämpfungsstrategie umzusetzen. Und so verwundert nicht, dass die offizielle Informationspolitik des Regimes hinsichtlich ihrer Corona-Strategie von Intransparenz, Propaganda und auf Verharmlosung setzender Desinformation bestimmt ist. Alle regierungsamtlichen Daten, Informationen und Statistiken sind unvollständig, oftmals widersprüchlich und nie verifizierbar. Kritische Journalisten und Social-Media-Aktivisten, die die offiziellen Corona-Daten anzweifeln, zahlen für ihre Kühnheit mit Zensur und Verhaftung. Wie der Sprecher der Streitkräfte Irans am 28. April öffentlich verkündete, haben Polizei und Basij-Miliz bis zu diesem Zeitpunkt 3600 Personen wegen Verbreitung von Coronavirus-Gerüchten verhaftet. Dieses Vergehen habe sie, so der Sprecher, zu Komplizen eines psychologischen Kriegs gemacht, den externe Feinde gegen Iran führten. Bestrebt, die Bevölkerung über das wahre Ausmaß der Pandemie im Unklaren zu lassen, fälschen zudem sowohl die staatlichen Krankenhäuser als auch der CBDH der Revolutionsgarden systematisch die Statistik der Corona-Todesfallzahlen.

Skepsis ist daher angebracht gegenüber den offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums, das am 23. April 87.026 Infizierte und 5.481 Tote meldete – Zahlen, die die WHO für viel zu niedrig hält. Der Wahrheit näher kommen dürfte dagegen ein vom wissenschaftlichen Forschungsdienst des iranischen Parlaments herausgegebener Bericht, wonach schon Anfang April mindestens 600.000 Iraner infiziert gewesen sein sollen. Und ein noch düstereres Schreckensbild der aktuellen Lage zeichnet Mehran Barati, Deutschlandsprecher des demokratischen oppositionellen Iran Transition Council, der sich auf ihm gelieferte geheime Informationen von Whistleblowern im iranischen Innen- und Gesundheitsministerium beruft. Sie besagen, dass die Zahl an Corona-Infizierten Mitte April bei einer Million und die der Corona-Todesfälle bei 160.000 Personen lag. Um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, lasse zudem das Regime derzeit in mehr als 500 der insgesamt 2700 Städte des Landes innerhalb bestehender Friedhofsfelder frische Massengräber ausheben. Sollten die Informationen stimmen, hat die Regierung Irans die Kontrolle über die Corona-Ausbreitung weitgehend verloren.

Der Corona-Lockdown der Hälfte der Wirtschaft hat die Not von knapp 20 Millionen Tagelöhnern ohne feste Arbeitsverträge, Krankenversicherung und Ersparnisse dramatisch verschlimmert, zumal die fast bankrotte Regierung weder Kurzarbeitergeld oder Arbeitslosenhilfe zahlen kann. Konfrontiert mit dem drohenden Totalkollaps der Wirtschaft bei einer Fortsetzung des Lockdowns, sah sich Präsident Rouhani zum Handeln gezwungen. Unter Berufung auf nicht spezifizierte medizinische Erhebungen, die ein Abflachen der Corona-Welle bewiesen haben sollen, kündigte er am 19. April an, ab dem 26. April, das heißt zu Beginn des Fastenmonats Ramadan, Bazare, Shopping-Malls und Einzelhandelsgeschäfte wieder öffnen zu lassen. Restaurants, Pilgerstätten und Moscheen hingegen sollen vorerst noch geschlossen bleiben. Freilich warnen selbst einige hochrangige Vertreter in Rouhanis Regierung, darunter der stellvertretender Gesundheitsminister Iraj Harirchi, vor einer verfrühten und umfassenden Lockerung der Corona-Beschränkungen. Sie befürchten, die Regierung könne dadurch die Iraner in falsche Sicherheit wiegen und die Wiederkehr einer zweiten und dritten Seuchenwelle mit noch massiveren Schäden heraufbeschwören. Kurz: Iran steckt inmitten seiner tiefsten Krise seit 1979, deren Folgen nicht abschätzbar sind.

ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitete von 2005 bis 2011 in Bagdad als politischer Analyst für die UNO-Mission im Irak. Er ist ein international anerkannter Experte zu den Themen Iran, Irak und Schia, über die er zahlreiche Publikationen veröffentlicht hat. Externer Link: https://wilfried-buchta.de