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Mythos Haile Selassie - Essay | Äthiopien | bpb.de

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Mythos Haile Selassie - Essay

Prinz Asfa-Wossen Asserate

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Den Mythos Haile Selassies prägten bereits seine Herkunft und sein schicksalhafter Weg zum letzten Kaiser Äthiopiens. Heute erinnern sich die Äthiopier wieder an diesen Mythos – vielleicht, weil erneut ein Hoffnungsträger regiert.

Über Ras Teferi Mekonnen, der im November 1930 als Haile Selassie den äthiopischen Kaiserthron bestieg, erzählt man sich in Äthiopien die folgende Geschichte: Im Frühsommer 1892 soll ein Einsiedler zu seinem Vater Ras Mekonnen, dem Gouverneur der äthiopischen Provinz Harar, gekommen sein, dessen Frau zuvor eine Reihe von Fehlgeburten erlitten hatte, und ihm eine Prophezeiung offenbart haben: "Diesmal wird das Kind, mit dem deine Frau schwanger geht, gesund auf die Welt kommen und weiterleben. Es wird sich zu einem prächtigen Jüngling entwickeln, der sich noch in jungen Jahren zum Herrscher über Äthiopien erheben und mit strenger Hand das ganze Land regieren wird. Er wird Äthiopien Größe und Stolz verleihen, auf dass er in der ganzen Welt bekannt sein wird. Zuletzt aber wird er all das, was er aufgebaut hat, von eigener Hand zerstören und Äthiopien in Ruinen zurücklassen."

Den Mythos Haile Selassies prägten bereits seine Herkunft und sein schicksalhafter Weg vom Waisenknaben zum Kaiser Äthiopiens.

Ras Teferis Jugend

Gouverneur Ras Mekonnen zog wie jedes Jahr mit seiner Entourage ins Gebirge nach Egersa Goro nahe der somalischen Grenze. Seine schwangere Frau, Prinzessin Yeshimebet Ali Gonshor, war bereits neunmal schwanger gewesen. Doch waren alle Kinder tot zur Welt gekommen oder kurz nach der Geburt gestorben. Nun war die Freude groß, als am 23. Juli 1892 ein gesunder Junge geboren wurde. Er wurde auf den Namen Teferi Mekonnen getauft. Niemand konnte ahnen, dass die junge Mutter bereits zwei Jahre später, bei einer weiteren Geburt, ihr Leben verlieren sollte.

Teferis Vater war ein neugieriger, offener Mensch und genoss hohes Ansehen in der Bevölkerung. Als Heerführer war er an der legendären Schlacht von Adwa am 1. März 1896 entscheidend beteiligt, als die vereinigten äthiopischen Truppen die italienischen Verbände vernichtend schlugen und Äthiopien davor bewahrten, eine italienische Kolonie zu werden. Zwei Jahre später erklärte Äthiopiens Kaiser Menelik II. seinen Vetter Ras Mekonnen formell zu seinem Nachfolger auf dem Kaiserthron. Als Sohn des Thronfolgers stand auch dem jungen Teferi Mekonnen eine glänzende Zukunft bevor.

Die Ausbildung seines Sohnes lag dem Fürsten sehr am Herzen. Es wurden äthiopische Priester engagiert, um Teferi Amharisch und Ge’ez, die traditionelle Sprache des Landes, beizubringen. Später kam der junge Gouverneurssohn auf die Schule der französischen Kapuziner in Harar. Die kosmopolitische Atmosphäre in Harar und die Weltoffenheit seines Vaters prägten den jungen Teferi Mekonnen auf grundsätzliche Weise. Dass sein Vater große Erwartungen in seinen Sohn setzte und ihn für höhere Aufgaben vorbereitete, war offenkundig – ebenso wie die Tatsache, dass Teferi das notwendige Talent mitbrachte. Am 1. November 1905 verlieh Ras Mekonnen seinem Sohn den Titel Dejazmatch (Graf) und erklärte ihn zu seinem Erben.

Im Januar 1906 brach sein Vater zu einer Reise in die Hauptstadt Addis Abeba auf, während der er schwer erkrankte, vermutlich an Typhus. Ras Mekonnen starb noch im selben Jahr im Alter von 54 Jahren. Kaiser Menelik II. war sich der Verantwortung für den knapp 14-jährigen Waisen bewusst und beschloss, Teferi Mekonnen an den Hof in Addis Abeba zu holen. Der junge Prinz wurde in die Palastschule aufgenommen, wo er gemeinsam mit anderen aristokratischen Kindern unterrichtet wurde. Neben seinem Cousin Lij Imru und dem späteren Verteidigungsminister Ras Birru gehörte dazu auch Lij Iyasu, Enkel des Kaisers und Sohn des mächtigen Fürsten von Wollo, Ras Mikael. Die Unterschiede zwischen Teferi und seinem zweieinhalb Jahre jüngeren Cousin Lij Iyasu zeigten sich deutlich: Teferi, von Natur aus schmächtig, war ein ruhiger und zurückhaltender junger Mann, lernbegierig und diszipliniert. Lij Iyasu war das genaue Gegenteil: Großgewachsen und athletisch, begeisterte er sich für Sport und besaß eine draufgängerische Natur. Die beiden Vettern verstanden sich eher schlecht als recht. Vielleicht auch, weil sie um ihre Rivalität wussten.

Der Gesundheitszustand Kaiser Meneliks II. verschlechterte sich ab 1906 zusehends. Die Ehe des Kaisers mit Kaiserin Taitu war ohne Erben geblieben, und so wuchs die Unruhe am Hof. Immer lauter wurde die Frage gestellt, wer dem Kaiser auf dem Thron folgen würde. Zunächst wurde der politische Einfluss der Kaiserin immer größer. In Prinzessin Zauditu, einer Tochter Meneliks aus früherer Ehe, fand sie eine wichtige Verbündete. Dabei traf es sich gut, dass in jener Zeit die Prophezeiung von Mönchen die Runde machte, dass nach Menelik eine Kaiserin das Land regieren werde. Aber es gab noch andere, die Ansprüche auf den Thron geltend machten: Fürst Ras Mikael, der über eine große, gut ausgerüstete Armee verfügte, war mit Meneliks Tochter Shoareged vermählt und ließ keinen Zweifel daran, dass er seinen Sohn Lij Iyasu als den einzigen legitimen Nachfolger auf dem Thron betrachtete.

Schließlich verkündete Kaiser Menelik II., dass Lij Iyasu sein Thronfolger werden sollte. Als dessen Vormund und Regent wurde ein erfahrener General und Staatsmann eingesetzt, Ras Tesemma Nadew. Teferi Mekonnen wurde als Nachfolger seines Vaters zum Gouverneur der Provinz Harar ernannt. Als er im Mai 1910 antrat, war er noch keine 18 Jahre alt. Als Sohn des legendären Ras Mekonnen empfing ihn die Bevölkerung mit großem Jubel. Vor seiner Abreise hatte er im Beisein des Bischofs seinem Vetter Lij Iyasu die Treue geschworen. Sein Pakt mit dem Kaiserenkel wurde durch familiäre Bande weiter bekräftigt: 1911 heiratete Teferi Mekonnen eine Nichte Lij Iyasus. Woizero Menen war zugleich die Enkelin König Mikaels von Wollo. Auch wenn es sich um eine arrangierte Ehe handelte, blieb das Paar über die Jahre in enger Zuneigung verbunden. Die Konfrontation der beiden Vettern konnte dieses Arrangement jedoch nicht verhindern.

Als sein Vormund, der Regent Ras Tesemma, nach kaum einem Jahr im Amt verstarb, ergriff Kronprinz Lij Iyasu seine Chance. Er weigerte sich, die Macht weiterhin zu teilen. Im Alter von 14 Jahren war er de facto der Herrscher Äthiopiens – doch die mächtigen Provinzfürsten wussten zu verhindern, dass er jemals gekrönt wurde. Dem jungen Herrscher wurde sein unbeherrschtes, ausschweifendes Wesen zur Last gelegt. Doch es waren andere Gründe, die ihn zu Fall brachten: Iyasu misstraute den Absichten der Engländer, Franzosen und Italiener und suchte die Nähe zu Deutschland und der Türkei. Dies führte am äthiopischen Hof zu heftigen Intrigen gegen ihn. Vor allem aber wurde ihm seine Sympathie für die Muslime in Äthiopien vorgeworfen. Sein größter Wunsch war es, alle Bewohner Äthiopiens zu vereinen, welchem Glauben sie auch immer angehörten. "Selbst wenn wir unterschiedlichen Religionen anhängen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns zuallererst in Liebe zu unserem Land vereinigen müssen", sagte er vor einer Versammlung von Würdenträgern in Harar. Mit diesen Vorstellungen war der junge Herrscher seiner Zeit zu weit voraus. Seine Sympathie für die Muslime alarmierte die Kirchenführer in Äthiopien. Man beschuldigte ihn, das Land zum Islam bekehren zu wollen, und der Abuna, das Oberhaupt der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche, exkommunizierte ihn.

Zum ersten Mal seit der legendären Königin von Saba wurde in Äthiopien eine Frau zur Kaiserin gekrönt: Die Fürsten des Landes proklamierten 1916 Zauditu, die Tochter Meneliks, zur Kaiserin und Ras Teferi zum Prinzregenten. Die mächtigen Fürsten sahen in dem jungen Waisen eine Person, die sie nach ihrem Belieben steuern konnten. Doch sie unterschätzten seinen Willen und seine Beharrlichkeit. Ras Teferi ergriff seine Gelegenheit, und er war fest entschlossen, das Erbe des großen äthiopischen Kaisers Menelik II. anzutreten, der Äthiopiens Einheit wiederhergestellt und gegen die europäischen Imperialmächte standhaft verteidigt hatte. Entsprechend verlor er keine Zeit und begann, sein Land gegen die beharrlichen Widerstände der Führungseliten zu öffnen. Er führte es vom Mittelalter in die Moderne.

Symbolfigur afrikanischen Selbstbewusstseins

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich die europäische Landkarte verändert: Das Deutsche Kaiserreich und das Habsburgerreich waren hinweggefegt worden. Die siegreichen Entente-Mächte forderten Entschädigung, und in diesem Zusammenhang rückte auch Äthiopien ins Blickfeld. Ras Teferi erkannte, dass es nur einen Weg gab, sich aus dem Würgegriff der Kolonialmächte zu befreien: die Einbettung Äthiopiens in ein internationales System der kollektiven Sicherheit. Auf Initiative von US-Präsident Woodrow Wilson wurde mit der Ratifizierung der Versailler Verträge 1919 der Völkerbund gegründet. Für Ras Teferi bestand kein Zweifel, dass Äthiopien dieser Gemeinschaft angehören musste, um seine Souveränität zu sichern. Italien und das Vereinigte Königreich taten das ihre, um eine Aufnahme Äthiopiens in den Völkerbund zu sabotieren. Aber nicht nur mit deren Widerstand hatte der äthiopische Prinzregent zu kämpfen, sondern auch mit den Opponenten innerhalb der äthiopischen Führungsschicht. Eine Einbindung des Landes in internationale Strukturen lehnten sie entschieden ab.

Die Reformer um Ras Teferi erhofften sich durch den Beitritt Äthiopiens zum Völkerbund auch einen Anstoß für die Modernisierung des Landes. Die konservativen Kräfte, die Äthiopien am liebsten von der Welt abgeschnitten hätten, fanden immerhin das Argument bedenkenswert, dass man einem souveränen Mitglied des Völkerbundes kein Waffenembargo würde aufzwingen können, wie es mit Äthiopien seit sieben Jahren geschah. Am 1. August 1923 sandte Ras Teferi ein offizielles Schreiben an den Völkerbund mit der Bitte, die Aufnahme seines Landes auf die Tagesordnung der Vollversammlung zu setzen. Die äthiopische Gesandtschaft in Genf hatte bereits eine Vielzahl von Staaten – von Belgien über Indien und Persien bis hin zu China – hinter sich versammelt. Wenige Tage vor der Abstimmung hatte Ras Teferi noch die letzten Zweifler im eigenen Land überzeugt, die Kaiserin und den kaiserlichen Kronrat. Auch sie gaben schließlich ihre Zustimmung. Äthiopien unterzeichnete noch eine Erklärung, dass es alles daran setzen würde, die Sklaverei im Land zu unterbinden, und so votierte die Vollversammlung am 28. September 1923 einstimmig für die Aufnahme Äthiopiens in die Weltgemeinschaft.

Nun wollte Ras Teferi sein stolzes Land der Welt bekannt machen. Unter diesem Vorzeichen stand seine große Europareise, die er im April 1924 antrat. Es war das erste Mal überhaupt, dass ein äthiopischer Regent den afrikanischen Kontinent verließ. Gegen eine mögliche Revolte in seiner Abwesenheit hatte er Vorkehrungen getroffen, indem er diejenigen Fürsten, denen er am meisten misstraute, mit auf Reisen nahm. Knapp fünf Monate sollten sie unterwegs sein. Die Reise durch die europäischen Hauptstädte war ein großer Erfolg: Äthiopien wurde dort zu einem Begriff; und was Ras Teferi in Europa gesehen hatte – die Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Unternehmen, die technischen und militärischen Errungenschaften – bestärkte ihn in seinem reformerischen Elan.

In dieser Zeit wurde ein neuer Mythos um den äthiopischen Regenten geboren: Überall, wo Ras Teferi hinkam, hatte ihn die Bevölkerung mit offenen Armen aufgenommen. In den USA hörte Marcus Garvey, einer der einflussreichsten Schwarzen-Aktivisten, die Berichte über Ras Teferis Reise durch Europa. Seit vielen Jahren propagierte er ein neues Selbstbewusstsein der Afrikaner und rief zu einer Rückbesinnung auf ihre eigenen Traditionen und Werte auf. 1914 hatte er die Universal Negro Improvement Association (UNIA) ins Leben gerufen, eine panafrikanische Bewegung, die sich die Emigration aller Schwarzen nach Afrika zum Ziel gesetzt hatte. Dort sollten sie sich in einem von den Kolonialherren befreiten Kontinent unter der Führung eines Königs vereinen. Zu Garveys Reden in riesigen Hallen und Sportstadien versammelten sich Hunderttausende. Vor seinen Anhängern prophezeite er: "Schaut nach Afrika. Wenn dort ein schwarzer König gekrönt wird, ist der Tag der Erlösung nahe." Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Garvey und seine Anhänger Ras Teferi als diesen König identifizierten, von dem sie sich Erlösung erhofften. Vor allem in seiner Heimat Jamaika fielen die Worte Garveys auf fruchtbaren Boden. Von der Karibik aus entwickelte sich eine Bewegung, die sich, getragen von der Reggae-Musik, auf der ganzen Welt verbreitete: Rastafari.

Neguse Negest

Bei allem Streben nach Modernisierung und Reformen basierte die Herrschaft des jungen äthiopischen Regenten auf dem geschichtlichen Erbe Äthiopiens. Die christlichen Könige des Landes sahen sich immer als geistige und leibliche Nachfahren der heiligen Könige des Alten Testaments, als Repräsentanten des Bundes, den Gott mit David geschlossen hatte, als er ihm verhieß, sein Geschlecht ewig herrschen zu lassen. Seit dem 13. Jahrhundert bestimmte das äthiopische Nationalepos "Kibre Negest", "Die Herrlichkeit der Könige", Struktur und Ordnung des äthiopischen Reiches. Seinen Kern bildet der Besuch der Königin von Saba, der Königin des Südens, bei König Salomon in Jerusalem. Nach der Rückreise in ihre Heimat gebar die Königin von Saba einen Sohn, den sie Menelik, Sohn des Königs, nannte. Menelik I. gilt als Stammvater der salomonischen Dynastie in Äthiopien. Seit drei Jahrtausenden hatte kein Menelik mehr über das äthiopische Volk geherrscht. Doch 1865 ließ sich der gerade 20 Jahre alte Prinz Sahle Mariam von Shewa unter dem Herrschernamen Menelik II. zum König seiner Heimatprovinz krönen. In dessen Nachfolge sah sich auch der junge Prinzregent Ras Teferi.

Als Kaiserin Zauditu 1930 überraschend starb, erreichte Ras Teferi sein größtes Ziel: Am 2. November 1930 wurde er im Alter von 37 Jahren zum Kaiser gekrönt. Unter dem Namen Haile Selassie I. begründete er eine neue Ära in Äthiopien. Die Krönungsfeierlichkeiten erstreckten sich über zehn Tage im Beisein zahlreicher ausländischer Delegationen. Haile Selassie zählte in der salomonischen Dynastie als 225. Nachfolger Meneliks I. auf dem äthiopischen Thron. Mit der Salbung, dem zentralen Element der Krönungszeremonie, verwandelte sich Teferi Mekonnen in den von Gott auserwählten Neguse Negest, den König der Könige. Der Titel, den der äthiopische Kaiser führte, war weit mehr als ein Ausdruck der Gottgefälligkeit. Haile Selassie glaubte bis ans Ende fest daran, tatsächlich von Gott auserwählt zu sein.

Haile Selassies Ziel war es, das spirituelle Erbe Äthiopiens zu bewahren und das Land gleichzeitig zu modernisieren. Mit beinahe mönchischer Disziplin lebte er selbst streng nach den alten christlich-orthodoxen Bräuchen. Doch die Gottesgewissheit in seinem Volk zu bewahren und gleichzeitig moderne Errungenschaften einzuführen, hätte vermutlich selbst die Weisheit Salomons überfordert.

Mit der Verkündung einer Verfassung überraschte der Kaiser 1931 sein Volk und die Welt. Was nach außen hin als eine freiwillige Beschränkung seiner Macht erschien, sicherte Haile Selassies absolute Machtstellung. Für ihn war die Verfassung ein Schritt zur alleinigen Herrschaft; zudem ebnete sie der Einigung und der Zentralisierung des Landes den Weg. Was die Modernisierung Äthiopiens betraf, legte Haile Selassie in den Jahren 1931 bis 1934 ein rasantes Tempo vor. Die Saat, die er in den Jahren seiner Regentschaft gelegt hatte, war dabei aufzugehen, im Bereich der Innenpolitik ebenso wie nach außen. In Frankreich, Großbritannien und beim Völkerbund unterhielt das Land inzwischen diplomatische Vertretungen. Doch dies alles schützte nicht davor, dass 1935 die italienischen Faschisten unter Mussolini Äthiopien überfielen.

Haile Selassie wurde zur Flucht ins Exil gedrängt. Sechs Jahre verbrachte er in England. Nur wenige Monate zuvor hatte er vor dem Völkerbund in Genf noch an die Weltgemeinschaft appelliert: "Ich, Haile Selassie I., Kaiser von Äthiopien, bin hier, um die Rechte der kleinen Nationen zu vertreten, die durch die Komplizenschaft der großen Nationen überfallen werden. Heute sind wir es. Morgen werdet ihr es sein. Gott und die Geschichte werden sich Ihres Urteils erinnern." Der Völkerbund ließ Haile Selassie und Äthiopien jedoch im Stich und vermied es, den Überfall Italiens zu verurteilen.

Doch mit dem Zweiten Weltkrieg wendete sich das Blatt: Auf den Tag genau fünf Jahre nach seiner Flucht kehrte Kaiser Haile Selassie am 5. Mai 1941 mithilfe britischer Truppen wieder nach Addis Abeba zurück. Manche bezeichneten ihn später als "einzigen Sieger des Zweiten Weltkriegs". Er untersagte jegliche Rache an den im Land verbliebenen Italienern.

In der ganzen Welt war der Kaiser von Äthiopien in den folgenden Jahren ein willkommener Gast. In England nahm ihn Königin Elisabeth II. in den erlauchten Hosenbandorden auf. Bei den Vereinten Nationen in New York wurde er als Vorkämpfer der kollektiven Sicherheit gefeiert. In Afrika setzte sich der äthiopische Kaiser an die Spitze der Bewegung für die Einheit des Kontinents und richtete 1963 in Addis Abeba das erste panafrikanische Gipfeltreffen unabhängiger afrikanischer Staaten aus. Vor der Weltgemeinschaft wurde er zum Sprecher der rechtlosen Schwarzen Bevölkerung Afrikas. Selbst militante Sozialisten wie Ghanas Kwame Nkrumah verehrten Haile Selassie als "Vater Afrikas". Nelson Mandela nannte ihn den "afrikanischen Giganten". Der chinesische Premierminister Zhou Enlai suchte ihn als Gesprächspartner ebenso wie der japanische Kaiser. Er besuchte Auschwitz und die Berliner Mauer. Im Ostblock wurde er als "unermüdlicher Kämpfer für den Frieden" gepriesen. Bei John F. Kennedys Beisetzung führte Haile Selassie neben Charles de Gaulle die Schar der ausländischen Würdenträger an. Und bei einem Besuch in Kingston auf Jamaika 1966 sollte es ihm nicht gelingen, Zehntausende Rastafari-Anhänger davon zu überzeugen, dass er nicht die Personifikation Gottes war.

Götterdämmerung

Innenpolitisch stand Haile Selassie nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch vor enormen Herausforderungen. Die Zeit der italienischen Besetzung hatte Äthiopien stark verändert. Der Nimbus als unbesiegbare Nation, das sogenannte Adwa-Element, war beschädigt, das äthiopische Selbstbewusstsein tief erschüttert. Zudem gab es große Verluste zu beklagen; allein 1937 waren durch Massaker unter Marschall Rodolfo Graziani etwa 30.000 Äthiopier ermordet worden. Die akademische Elite des Landes hatten die Italiener gezielt ausgelöscht. Das war ein bitterer Aderlass mit anhaltenden Nachwirkungen. In den fünf Jahren ihrer Kolonialherrschaft hatten die Italiener aber auch ein Straßennetz geschaffen, was sich unmittelbar auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur auswirkte – der Austausch von Waren und Menschen war nun auch zwischen entlegenen Provinzen möglich. Und die zentrale Verwaltung, die sie installiert hatten, trug dazu bei, feudale Strukturen zu beseitigen.

Dass es gelang, die Einheit des Landes zu erhalten, war unter anderem der Popularität des Kaisers zu verdanken. Außer einem bescheidenen Darlehen, das die britische Regierung gewährte, standen allerdings kaum finanzielle Mittel zur Verfügung, in der Verwaltung fehlte es überall an gut ausgebildetem Personal, und doch wurde der eingeschlagene Weg der Modernisierung fortgesetzt: Eine Nationalbank wurde gegründet und eine nationale Währung geschaffen, bald auch eine eigene Fluglinie und eine Vielzahl von Institutionen, die sich die Modernisierung des Landes zum Ziel gesetzt hatten. Eritrea wurde als autonome Region Äthiopien zugesprochen, damit erlangte das Reich auch wieder den ersehnten Zugang zum Meer.

Aber die politische Entwicklung des Landes hielt nicht Schritt mit der Entwicklung auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Haile Selassie war angetreten, Äthiopien nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Doch den jungen Äthiopiern, denen es infolge seiner Modernisierungspolitik in den 1950er und 1960er Jahren möglich war, in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten zu studieren, offenbarte sich im Vergleich mit den westlichen Demokratien die ökonomische und politische Rückständigkeit ihres Landes: Sie gingen auf die Straße und demonstrierten.

Haile Selassie sonnte sich in dem Ansehen, das er in der ganzen Welt genoss, und übersah dabei, dass die Dinge im Inneren längst nicht zum Besten standen. Der Umsturzversuch unter General Mengistu Neway 1960, in dessen Folge zahlreiche der führenden Köpfe des Landes ihr Leben verloren, war ein Warnschuss, der ungehört verhallte. Bald wuchs in allen Schichten die Unzufriedenheit über die Lage im Land. Eine Hungersnot in Wollo gab schließlich den Anstoß für die Revolution von 1974, an deren Spitze das Militär und protestierende Studenten standen. Im September 1974 ging das Bild um die Welt, wie ein vom Alter gezeichneter, gebrechlicher Greis von putschenden Militärs aus seinem Palast abgeführt und in einem hellblauen VW Käfer abtransportiert wurde. Bald wurde der Tod des Kaisers vermeldet.

Heute erinnern sich die Menschen in Äthiopien wieder an den Mythos des letzten Kaisers, der Äthiopiens Einheit bewahrte und das Land zu internationalem Ansehen führte. Das mag auch daran liegen, dass mit Abiy Ahmed seit zwei Jahren erneut ein Hoffnungsträger regiert, der als Modernisierer gilt, international hohe Wertschätzung genießt und sich um panafrikanische Zusammenarbeit bemüht. Die Größe eines Staatsmannes offenbart sich jedoch erst im Lichte der Regime, die auf ihn folgen. Auf Haile Selassie folgten eine Militärdiktatur und eine fast 30-jährige brutale De-facto-Einparteienherrschaft. Was auf Abiy folgen wird, steht noch in den Sternen – denn noch ist nicht mal klar, ob er den eingeschlagenen Kurs wird fortführen können. Aber es wäre ihm zu wünschen, dass sein Weg nicht so tragisch endet wie der des letzten Kaisers.

Wenn die Geschichte ihr Urteil über Haile Selassie und seine 60 Jahre währende Herrschaft über Äthiopien als Regent und als Kaiser fällt, wenn sie seine Stärken und Schwächen gegeneinander abwägt, dann werden seine Verdienste um Äthiopien sicher mehr Gewicht haben, als die großen Fehler, die er zweifelsohne begangen hat.

ist promovierter Historiker und Schriftsteller. 2014 veröffentlichte er "Der letzte Kaiser von Afrika", eine Biografie seines Großonkels Haile Selassie.