Als die Bürgerinitiative Escola sem Partido (Unparteiische Schule, EsP) 2004 in São Paulo gegründet wurde, war der ehemalige Metallarbeiter Luiz Inácio Lula da Silva erst eineinhalb Jahre Präsident. Das rapide ökonomische Wachstum, die effektive Bekämpfung der Armut sowie die fortwährenden Korruptionsskandale, die zu Markenzeichen der von der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) geführten Regierungen von 2003 bis 2016 wurden, standen noch bevor. Es war nicht abzusehen, dass die EsP als Bewegung gegen eine angebliche "politisch-ideologische Kontaminierung der brasilianischen Schulen auf allen Ebenen, von den Grund- bis zu der Hochschulen",
Ausgehend von der Frage, wie die EsP in den vergangenen Jahren an Wirkkraft gewann, werden in diesem Beitrag sowohl die Argumente der Bewegung selbst als auch bestehende Gegeninitiativen und -argumente skizziert und diskutiert. Besondere Relevanz gewinnt die Debatte um die EsP dadurch, dass es in Brasilien keine staatlichen Medienorgane gibt, die die breite Bevölkerung erreichen. Die Medienlandschaft ist durch Privatkonzerne geprägt, die in der Regel keinen besonderen Wert auf das Angebot anspruchsvoller Inhalte legen. Volkshochschulen oder ähnliche öffentliche Angebote der politischen Bildung sind nicht vorhanden. Deshalb kommt Schulen und Universitäten bei der politischen Bildung in Brasilien eine herausragende Bedeutung zu. Der Ansatz der EsP, den Hebel genau an diesen Bildungsinstitutionen anzusetzen, kann daher mangels alternativer Kanäle politischer Bildung verheerende Folgen mit sich bringen.
Gesellschaftspolitische Öffnung und Gegenreaktion
Ökonomisch wie auch an den Wahlurnen war die unter Lula da Silva etablierte Klassenallianz (lulismo) lange Zeit erfolgreich. Ohne große Schwierigkeiten wurde Lula da Silva 2006 für eine zweite Amtszeit gewählt. 2010 gewann die von ihm vorgeschlagene Dilma Rousseff die Wahlen und wurde 2014 mit einem hauchdünnen Vorsprung wiedergewählt. Hervorzuheben sind die von den PT-Regierungen angestoßenen Fortschritte bei der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Schwarzen und Weißen, Heterosexuellen und LGBT-Menschen.
Insbesondere die Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie Ermittlungen im Rahmen von Korruptionsskandalen, bei denen neben anderen Politiker*innen auch Lula da Silva angeklagt und verurteilt wurde,
Die Unparteiische Schule
In den ersten Jahren nach ihrer Entstehung beschränkte sich die EsP auf die Bereitstellung von Modellen für Gesetzesentwürfe und die Ermutigung der Schüler*innen, ihre Lehrer*innen bei vermeintlichen Indoktrinierungsversuchen zu filmen und zu denunzieren.
Ein wichtiger Impuls kam von der Zusammenarbeit mit ultraliberalen Vereinigungen, die vom US-amerikanischen Thinktank Atlas Network unterstützt werden. Einige seiner Mitglieder gehören zu den einflussreichsten Publizisten Brasiliens, die mit ihren Kolumnen Millionen Menschen erreichen.
Ebenso zentral für die Legitimation und Popularität der EsP war die Präsenz im Internet, insbesondere in sozialen Medien. Politik- und Sozialwissenschaftler*innen analysierten auf Instagram und Facebook die Verflechtungen zwischen der EsP und anderen Personen und Netzwerken. Dazu zählen rechtsgerichtete Gruppierungen wie beispielsweise Mães pelo Escola sem Partido (Mütter für die Schule ohne Partei) sowie Personen wie Jair Bolsonaro und drei seiner Söhne, Flávio, Eduardo und Carlos, die wie ihr Vater Berufspolitiker sind.
Der EsP gelang es, auch parlamentarische Allianzen zu bilden, insbesondere mit den katholisch-konservativen und evangelikalen Fraktionen. Auf diese Weise konnte die EsP 2016 großen Einfluss auf die Diskussion über den Nationalen Rahmenlehrplan und somit die Schulcurricula nehmen. Ihr Ansatz bestand darin, Erziehung als ausschließliche Aufgabe der Familie zu definieren und die Präsenz einer "Genderideologie" im Schulcurriculum zu verurteilen. Abgelehnt wurde zudem die Betonung der kulturellen Diversität im Lehrprogramm, da so die Vermittlung von relevanten westlichen Wissenstraditionen durch die Auseinandersetzung mit indigenen und afrobrasilianischen Lebenswelten ersetzt werde.
Die EsP und ihre Verbündeten versuchten zudem, ihre Vorstellungen gesetzlich zu verankern. Bereits 2014 entstand der erste Gesetzesentwurf für eine "Unparteiische Schule", den Miguel Nagib formulierte und Flávio Bolsonaro im Landesparlament des Bundesstaats Rio de Janeiro einreichte. Carlos Bolsonaro legte dem Stadtparlament Rio de Janeiros ein ähnliches Gesetzesvorhaben vor. Begründet auf der Freiheit des Denkens, dem Selbstbestimmungsrecht der Eltern und der politischen Neutralität von Schulen und Universitäten wurden Maßnahmen vorgeschlagen, um Lehrer*innen, die ihre Schüler vermeintlich indoktrinieren, überwachen und arbeits- wie strafrechtlich verfolgen zu können. Ähnliche Entwürfe wurden beiden Kammern des brasilianischen Nationalkongresses vorgelegt, sowohl der Abgeordnetenkammer (2015) als auch dem Senat (2016).
In dem Senatsentwurf nahm die Bekämpfung einer vermeintlichen "Genderideologie" deutliche Konturen an: "Die öffentliche Hand wird sich nicht in die sexuelle Orientierung der Schüler einmischen. Sie wird auch keine Handlung zulassen, die den natürlichen Reifeprozess und die Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler in Harmonie mit ihrer entsprechenden biologischen Geschlechtsidentität beeinträchtigt, vorgreift oder lenkt. Insbesondere untersagt ist die Anwendung der Genderideologie."
Die Themen, die die EsP und ihre Verbündeten populär machten, standen im Mittelpunkt der Wahlkämpfe von 2018. Zahlreiche Landes- und Bundespolitiker*innen, die mit der Bewegung in Verbindung stehen, wurden gewählt.
Nach dem Amtsantritt besetzte die Regierung Bolsonaros mehrere strategische Regierungsposten im Interesse der EsP: Das Bildungsministerium wurde zuerst einem konservativen Philosophen und danach dem Ökonom Abraham Weintraub anvertraut.
Kritik
Lehrerverbände sowie Schüler- und Elterninitiativen haben gegen die Ambitionen der EsP mobilisiert, demonstriert und publiziert. Darunter ist das "Handbuch zur Verteidigung gegen die Zensur in den Schulen" hervorzuheben, das 2018 von rund 50 Nichtregierungsorganisationen und Fachgesellschaften und unter anderem mit Unterstützung der Bundesstaatsanwaltschaft erarbeitet wurde.
Mangelnde Plausibilität der Diagnose: Das von der EsP gezeichnete Bild einer von "Kulturmarxisten" besetzten Schul- und Universitätslandschaft lasse sich nicht mit den vorhandenen Daten in Einklang bringen. Im Gegenteil, diese belegten die politische Pluralität der brasilianischen Lehrer*innen.
Verfassungswidrigkeit: Sowohl in der Verfassung als auch durch die Jurisprudenz des Obersten Bundesgerichtshofs sei die Freiheit des Lehrens und Lernens als notwendige Bedingung für die vollständige Wahrnehmung des Staatsbürgerstatus garantiert. Die von der EsP formulierten Gesetzesentwürfe verletzen, so die Kritiker*innen, diese Prinzipien.
Ideologische Färbung: Mehrere Autor*innen zeichnen anhand der Vorgeschichte der EsP sowie anhand der Verbindungen zu religiösen Parlamentsfraktionen und ultraliberalen Organisationen nach, dass die Initiative nicht für Neutralität, sondern für autoritäre, konservative und marktradikale Werte eintritt.
Ignoranz realer Probleme: Die Agenda der EsP gehe an den Problemen des brasilianischen Bildungssystems vorbei. Die qualitativen Lücken des brasilianischen Bildungssystems seien nicht in einer vermeintlichen Kontrolle durch Feminist*innen oder Marxist*innen begründet. Vielmehr lägen die Probleme an der Unterfinanzierung und der hierarchisierten Schulstruktur. Reichere Kinder besuchten gut ausgestattete Privatschulen und ärmere Kinder mangelhafte staatliche Schulen. Das Bildungssystem zementiere so soziale Ungleichheiten, statt sie zu entschärfen.
Schluss
Die politische Bildung in Brasilien wird seit 2015 durch Diskursverschiebungen, Gesetzesinitiativen und (Wahl-)Kampagnen einer harten Probe unterzogen. Unter dem Vorwand einer Initiative für neutrale Bildung wurde der Weg zur Umwandlung der Schulen und Universitäten Brasiliens in Institutionen geebnet, die autoritäre, konservative und marktradikale Ideologien verbreiten sollen. Von einer Randerscheinung avancierte die EsP in den vergangenen Jahren zu einem Kristallisationsgefüge rechtsgerichteter bis rechtsextremer Werte und Akteure, das vor allem den Verlierer*innen der PT-Regierungen Artikulierungsmöglichkeiten bietet. Aber auch diejenigen, die von Programmen dieser Regierungen wirtschaftlich profitiert hatten und durch das Ende dieser Politik sozial besonders litten, wurden teilweise zu Unterstützer*innen der EsP. Durch jüngere Maßnahmen wie die Öffnung des Bildungssektors für Privatinvestitionen