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Wirtschaftliche Auswirkungen des Konflikts im Jemen

Rafat Al-Akhali

/ 11 Minuten zu lesen

Bereits vor Ausbruch des aktuellen Krieges im Jemen 2015 litt das Land unter Instabilität, einer entsprechend schwachen Wirtschaft und verbreiteter Armut. Nach fünf Jahren bewaffneten Konflikts im Land ist die jemenitische Wirtschaft fast komplett zusammengebrochen.

Bereits vor Ausbruch des aktuellen Krieges im Jemen 2015 litt das Land unter wiederholten Konflikten und damit unter Instabilität, schlechter Regierungsführung, Unterentwicklung, wirtschaftlichem Niedergang und einer weit verbreiteten Armut. Der Anteil der Bevölkerung, der in extremer Armut lebt, stieg von 7,4 Prozent 1998 auf 18,8 Prozent 2014. Die Weltbank schätzte die extreme Armut für 2018 auf 51,9 Prozent und die Armutsrate insgesamt auf 80,6 Prozent.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Vereinigung des Nordjemen und der Demokratischen Volksrepublik Jemen 1990 hatte der Jemen bescheidene Verbesserungen beim Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) der Vereinten Nationen erzielt, mit dem langfristige Entwicklungen in drei wesentlichen Dimensionen gemessen werden: Lebenserwartung bei Geburt, Bildung und Lebensstandard. Das Land hatte zwischen 1990 und 2010 seinen HDI-Wert von 0,399 auf 0,498 gesteigert. Anschließend kehrte sich die Entwicklung jedoch wieder um, und 2017 belegte der Jemen mit einem HDI von 0,452 den 178. Platz unter 189 Staaten. Damit lag er auch unter dem Durchschnittswert von 0,504 für Länder mit niedrigem Entwicklungsstand und unter dem Durchschnitt von 0,699 für arabische Länder.

Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die wirtschaftliche Situation im Jemen vor dem Konflikt, gefolgt von einer Analyse der Auswirkungen des Krieges auf den Arbeitsmarkt, einzelne Wirtschaftssektoren, die Infrastruktur und volkswirtschaftliche Kennzahlen.

Beschäftigungs- und Wirtschaftsstruktur vor 2015

Abbildung 1: Beschäftigungsstruktur nach Sektoren (© bpb)

Vor dem Konflikt betrug die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter von 15 Jahren und älter im Jemen 13,4 Millionen. Ein Großteil der Beschäftigung, nämlich 73,2 Prozent, erfolgte im informellen Sektor. Im formellen Sektor waren 4,85 Millionen Personen beschäftigt, 653.000 waren arbeitslos. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 13,5 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit war mit 24,5 Prozent fast doppelt so hoch. Etwa 30 Prozent der Erwerbstätigen waren im Staatsdienst beschäftigt, über 29 Prozent der verfügbaren Arbeitsplätze fanden sich in der Landwirtschaft (Abbildung 1).

Mit Blick auf die Wirtschaftsstruktur des Jemen sind Erdöl und Erdgas die wesentlichen Säulen. Bergbau und Rohstoffförderung, die von der Öl- und Gasproduktion dominiert werden, machten 2014 nach aktuellen Preisen etwa 24 Prozent des jemenitischen BIP aus. Den zweitwichtigsten Wirtschaftszweig bilden Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei, deren Anteil am BIP 2014 rund 13 Prozent betrug. Darauf folgen die öffentliche Hand, der Groß- und Einzelhandel, Transport und Lagerdienstleistungen, die verarbeitende Industrie, Immobilien und Unternehmensdienstleistungen sowie die Bauwirtschaft (Abbildung 2).

Abbildung 2: BIP nach Wirtschaftsaktivität 2014 (© bpb)

Erdöl- und Erdgasförderung ist nicht nur aufgrund ihres Beitrags zum BIP von großer Bedeutung, sondern bildet auch einen wesentlichen Anteil der staatlichen Einnahmen sowie an den Gesamtexporten des Landes. Von 2010 bis 2014 generierte sie zwischen 46 und 65 Prozent der öffentlichen Einnahmen und machte zwischen 72 und 89 Prozent aller Exporte aus.

Wirtschaftlicher Zusammenbruch

Nach über vier Jahren bewaffneten Konflikts im Land ist die ohnehin schwache jemenitische Wirtschaft fast komplett zusammengebrochen. Bereits von 2000 bis 2010 war die reale Wachstumsrate des BIP pro Kopf mit weniger als 1,5 Prozent im Jahr verhalten ausgefallen. Dennoch ging das BIP pro Kopf zwischen 2011 und 2018 um durchschnittlich 8 Prozent pro Jahr weiter zurück (Abbildung 3). Das bedeutet, dass der Jemen die Hälfte seines BIP pro Kopf einbüßte, das von 1334 US-Dollar 2010 auf einen geschätzten Wert von 667 US-Dollar 2018 absackte.

Abbildung 3: Wachstum des BIP pro Kopf in Prozent pro Jahr (© bpb)

Auch wenn sich der Bürgerkrieg praktisch auf jeden Aspekt des Alltags im Jemen auswirkt – von demografischen Faktoren wie Mortalität, Fruchtbarkeit und Migration bis zu den Faktoren menschlicher Entwicklung wie Gesundheit, Bildung und Armut –, konzentriere ich mich im Folgenden auf Indikatoren wirtschaftlicher Entwicklung wie Beschäftigung, Kaufkraft, staatliche Einnahmen, Infrastruktur und Produktion.

Für den durchschnittlichen jemenitischen Bürger sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Bürgerkrieges besonders bei der Kaufkraft zu spüren, und das in zweierlei Hinsicht: Erstens macht sich die eingeschränkte wirtschaftliche Aktivität selbst bei einfachsten Erwerbsmöglichkeiten wie etwa in der Landwirtschaft bemerkbar. Zweitens haben sich die Güter des täglichen Bedarfs und der Grundversorgung durch die Inflation enorm verteuert. Aufgrund dieser beiden Faktoren müssen Hunderttausende jemenitische Bürger hungern; nach Einschätzung internationaler Hilfsorganisationen machen sie derzeit die schlimmste humanitäre Krise weltweit durch. Im Februar 2019 stuften die Vereinten Nationen 24 Millionen Menschen – fast 80 Prozent der jemenitischen Bevölkerung – als hilfs- oder schutzbedürftig ein, 14 Millionen wurden als akut hilfsbedürftig eingeschätzt.

Hohe Einkommensverluste

Um einen Eindruck der Auswirkungen des Konflikts auf die Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten zu bekommen, lohnt eine Betrachtung der Beschäftigten im Staatsdienst, in der Privatwirtschaft und in der Landwirtschaft.

Nach Angaben der jemenitischen Finanzverwaltung arbeiteten 2014 etwa 1,25 Millionen Personen für den Staat. Im September 2016 musste die Bezahlung der Staatsbediensteten aufgrund einer Liquiditätskrise ausgesetzt werden. In den von der international anerkannten jemenitischen Regierung kontrollierten Gebieten wurde die Bezahlung von Beamten der öffentlichen Verwaltung und Militärangehörigen Anfang 2017 wieder aufgenommen. Ende 2018 meldete die zuständige Behörde, dass 246963 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes im Verlauf des Jahres regelmäßig ihre Bezüge erhalten hatten, während die übrigen 225390 Beamten, größtenteils Lehrer und Gesundheitspersonal, nicht bezahlt worden waren, weil entweder die Mittel fehlten oder sie außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete tätig waren. Da ein Haushalt im Jemen durchschnittlich 6,7 Personen umfasst, betrifft dieser Einkommensverlust mindestens 1,5 Millionen Personen.

Zur wirtschaftlichen Situation der etwa 770000 Militärangehörigen und Sicherheitskräfte im Jemen gibt es keine offiziellen Daten. Es ist jedoch allgemein bekannt, dass die Soldaten, die sich entweder den Truppen der international anerkannten Regierung oder den Huthi-Truppen angeschlossen haben, auch ihren Sold erhalten, unabhängig davon, ob sie bereits 2014 in Dienst standen oder erst nach Ausbruch des Konflikts angeheuert wurden. Es wird außerdem berichtet, dass sich viele Militärangehörige nicht den Kampfhandlungen angeschlossen haben und lieber zu Hause blieben. Diese Gruppe hat vermutlich seit September 2016 keinen Sold mehr bekommen.

Mindestens die Hälfte der jemenitischen Staatsbediensteten wartet also seit zwei Jahren auf ihr Gehalt, und diejenigen, die bezahlt wurden, mussten erleben, wie ihr Verdienst aufgrund der massiven Inflation stetig an Wert verlor. Es liegen zwar keine genauen Zahlen und Untersuchungen dazu vor, doch kann davon ausgegangen werden, dass der öffentliche Dienst viele qualifizierte Mitarbeiter verloren hat, die entweder ins Ausland gegangen sind oder zu internationalen Nichtregierungsorganisationen gewechselt haben, die als einzige Arbeitgeber im Land noch Arbeitskräfte einstellen.

Die am Boden liegende jemenitische Wirtschaft hat auch für die Erwerbstätigen im Privatsektor verheerende Auswirkungen. Im August/September 2015 hatten 26 Prozent aller Unternehmen seit Begin des Konflikts wenige Monate zuvor den Betrieb eingestellt. In den drei großen Städten Sanaa, al-Hudaidah und Aden war die Beschäftigung Anfang 2016 in allen Sektoren um 12,8 Prozent zurückgegangen, was einem Verlust von 130000 Arbeitsplätzen entspricht. Bei der durchschnittlichen Haushaltsgröße von 6,7 Personen betraf dieser Einkommensverlust 870000 Menschen. Eine Untersuchung von 2017 zeigt, dass 83 Prozent der privatwirtschaftlichen Unternehmen direkt oder indirekt durch den Krieg geschädigt wurden. Die Weltbank schätzte im Juli 2019, dass 25 Prozent der Unternehmen den Betrieb infolge des Konflikts einstellen mussten, 80 Prozent einen drastischen Umsatzrückgang verzeichnen und über 50 Prozent ihre Aktivitäten zurückschrauben mussten. Aus vielen großen wurden mittelgroße Unternehmen, aus kleinen Unternehmen wurden Mikrobetriebe. Von den Unternehmen, die den Betrieb aufrechterhalten konnten, verloren 20 Prozent zumindest einen Teil ihrer Vollzeitbeschäftigten, 27 Prozent verloren Teilzeitkräfte.

Auch die Landwirtschaft im Jemen ist durch den Konflikt inklusive Forstwirtschaft und Fischerei erheblich beeinträchtigt. Laut Welternährungsorganisation war der Agrarsektor vor dem Konflikt für zwei Drittel der jemenitischen Bevölkerung die Haupteinnahmequelle. Genau auf diesen Sektor hat der Bürgerkrieg die massivsten Auswirkungen: 50 Prozent der in der Landwirtschaft Beschäftigten haben ihre Arbeit verloren. So mussten etwa die Bauern in der Region Tihama im Westen des Landes einen monatlichen Einkommensverlust von 40 bis 80 Prozent pro Haushalt verkraften.

Sinkende Staatseinnahmen, steigende Inflation

Abbildung 4: Staatseinnahmen in Milliarden Jemen-Rial (© bpb)

Die Staatseinnahmen sind bei Kriegsbeginn abrupt eingebrochen (Abbildung 4). Dieser massive Rückgang ist vor allem auf den Zusammenbruch der Erdöl- und Erdgasexporte zurückzuführen: Internationale Öl- und Gasunternehmen stellten ihre Tätigkeit nach Beginn des Krieges ein und haben sie seitdem nicht wieder aufgenommen. Zudem ist die Regierung aufgrund ihrer geringen Autorität in den Teilen des Landes, die nur noch nominell unter ihrer Kontrolle stehen, bei der Erhebung von Steuern stark eingeschränkt.

Die sinkenden Staatseinnahmen führten zu einem gravierenden Haushaltsdefizit, da die Regierung weiterhin Ausgaben hatte, die sich im Bereich Militär und Sicherheit erhöhten. Die jemenitische Zentralbank glich die fehlenden Steuereinnahmen durch eine Erhöhung der Geldmenge aus, wodurch wiederum die Inflation weiter angekurbelt wurde.

Der Rückgang der Öl- und Gasexporte führte außerdem zu einem akuten Mangel an ausländischen Devisen, die für die Einfuhr wichtiger Güter wie Lebensmittel, Treibstoff und Medikamente benötigt werden. Dieses Ungleichgewicht wird zusätzlich noch durch die Aufspaltung der jemenitischen Zentralbank erschwert, die von der Regierung der Republik Jemen im September 2016 nach Aden verlegt wurde, während die De-facto-Machthaber in Sanaa ihre eigene Zentralbank unterhalten. Infolgedessen ist der Devisenkurs starken Schwankungen unterworfen. Der Wechselkurs ist von 215 Jemen-Rial pro US-Dollar 2014 auf 570 Jemen-Rial pro US-Dollar im Januar 2019 gesunken.

Der Kursverlust schlägt sich auch in den enorm gestiegenen Preisen für den Großteil aller Waren nieder, vor allem für Lebensmittel. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen meldete im November 2018, dass seit Beginn des Konflikts der Preis für Weizenmehl um 130 Prozent gestiegen sei, für rote Bohnen um 163 Prozent, für Zucker um 86 Prozent und für Pflanzenöl um 75 Prozent. Die Kosten für einen Warenkorb mit Lebensmitteln waren um 127 Prozent gestiegen. Zusätzlich stieg der durchschnittliche Preis für Kochgas im November um 168 Prozent, für Benzin um 202 und für Diesel um 232 Prozent.

Zerstörte Infrastruktur

Die anhaltenden Kämpfe haben überall im Jemen schwere Schäden an der Infrastruktur hinterlassen. Der finanzielle Umfang der Zerstörung lässt sich nur schwer einschätzen, solange noch aktiv gekämpft wird, doch die Weltbank hat im Mai 2018 eine dynamische Schadens- und Bedarfsanalyse vorgelegt, die eine Momentaufnahme der durch den Krieg verursachten Schäden an der jemenitischen Infrastruktur bietet. Sie beziffert das Ausmaß der Schäden in 16 jemenitischen Städten auf 6 bis 7,5 Milliarden US-Dollar. Über 72 Prozent der Kosten, also insgesamt 4,5 bis 5,4 Milliarden US-Dollar, werden für die Schäden an Häusern und Gebäuden veranschlagt. Die Schäden im Gesundheitssektor, also zum Beispiel an Krankenhäusern und medizinischen Zentren, belaufen sich auf bis zu 665 Millionen US-Dollar, die Kosten im Energiesektor, also etwa an Kraftwerken und Stromleitungen, könnten bis zu 640 Millionen US-Dollar betragen.

Bei einer Umfrage zur Erfassung der Schäden in 20 verschiedenen Bezirken im Jemen wurden 2018 am häufigsten die Schäden an der Wasserversorgung genannt. Schäden an der Stromversorgung kamen an zweiter Stelle, gefolgt von Schäden an Einrichtungen zur medizinischen Versorgung sowie an Schulen und Straßen.

Zersplitterte staatliche Einrichtungen

Ein besonders gravierender Effekt des Krieges besteht darin, dass die staatlichen Einrichtungen, die traditionell in Sanaa angesiedelt waren, auseinandergerissen wurden. Infolge der Bemühungen um eine Zentralisierung der politischen und administrativen Gewalt war die Mehrheit der Ministerien, unabhängigen Behörden und die Zentralbank des Landes nach der Staatsgründung 1990 in Sanaa ansässig. Kurz nach der Eroberung der Hauptstadt durch die Huthi Ende 2014 erklärte die international anerkannte Regierung Aden zur vorübergehenden Hauptstadt, und im Zuge einer Art Schneeballeffekt kam es zur Einrichtung weiterer Behörden und Ministerien in Sanaa und Aden, sodass es bald sämtliche staatliche Institutionen in doppelter Ausführung gab. Das betrifft auch zentrale wirtschaftspolitische Institutionen wie das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium, die Steuerbehörde, die Zollbehörde, die Rechnungskontrollbehörde sowie die oberste Behörde für Korruptionsbekämpfung.

Ein offenkundiges und vielfach untersuchtes Beispiel für eine durch den Krieg zersplitterte Institution ist die jemenitische Zentralbank. Im September 2016 erteilte Präsident Abd Rabbuh Mansur Hadi die Anweisung, die Zentralbank nach Aden zu verlegen, und ernannte auch gleich einen neuen Bankpräsidenten. Das war der Auftakt für eine Bankenkrise im Jemen, die immer noch anhält. In ihrem Verlauf entstanden zwei miteinander konkurrierende Institutionen in Sanaa und Aden mit einer jeweils eigenen Geldpolitik.

Die Folgen des Konflikts im institutionellen Bereich wirken sich auch auf lokaler Ebene wirtschaftlich aus. In den Gebieten unter der Kontrolle der international anerkannten Regierung hat sich das Kräfteverhältnis zugunsten lokaler Autoritäten verschoben, vor allem der Gouverneure. Das zeigt sich besonders deutlich in rohstoffreichen Gouvernoraten wie Marib, Hadhramaut und Schabwa oder in grenznahen Bezirken mit entsprechenden Einnahmen wie al-Mahra, wo die Gouverneure die weitgehende Kontrolle über die Einnahmen des Gouvernorats haben und diese aufgrund der Schwäche der Zentralregierung nach Gutdünken verwenden können.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist Fellow of Practice für strategische Projekte an der Blavatnik School of Government der Oxford University, Vereinigtes Königreich. 2014/15 war er Minister für Jugend und Sport des Jemen. E-Mail Link: rafat.al-akhali@bsg.ox.ac.uk