"Ich liebe das Leben so sehr und verabscheue den Gedanken, eines Tages sterben zu müssen. Und außerdem bin ich schrecklich gierig; ich möchte vom Leben alles, ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein". Diese Zeilen schreibt die damals 39-jährige Simone de Beauvoir im Juli 1947 an ihren amerikanischen Liebhaber Nelson Algren. Aus ihnen spricht Lebenslust, Ehrgeiz und eine gewisse Gier: Gier nach mehr, Gier nach einem selbstbestimmten, freien Leben. Dabei schien ihr Weg eigentlich vorgezeichnet – Geschlecht und Geburtsmilieu sei Dank. Und doch wagte sie es, ging ihren eigenen Weg und starb 1986 als berühmte Schriftstellerin, Philosophin und Feministin.
Bürgerlich, katholisch, verarmt
Simone Lucie Ernestine Marie Bertrand de Beauvoir wird am 9. Januar 1908 in Paris geboren. Zweieinhalb Jahre später folgt Schwester Hélène, wegen ihres zarten Aussehens nur Poupette (Püppchen) genannt. Die Schwestern wachsen in einem bürgerlichen Elternhaus auf, mit eigenem Dienstmädchen und ausgeprägtem Klassenbewusstsein. Die Familie trägt zwar das adelige de vor dem Namen, ihre gesellschaftlichen Ambitionen übersteigen die vorhandenen finanziellen Mittel jedoch bei Weitem. Sie leben hauptsächlich von einer Erbschaft, denn Vater Georges fühlt sich eher dem Müßiggang zugetan als harter Arbeit.
Mutter Françoise tut ihrerseits alles dafür, eine mustergültige katholische Ehefrau zu sein und sich an die in ihrem Milieu geltenden gesellschaftlichen Konventionen anzupassen. Georges belächelt die Gläubigkeit seiner Frau, heißt sie aber auch gut: Religion, findet er, ist eine Sache für Frauen und Kinder. Die Töchter werden somit selbstverständlich katholisch erzogen – so wie es sich für Angehörige der französischen Bourgeoisie gebührt. Mit fünfeinhalb Jahren wird Simone im katholischen Mädcheninstitut Cours Désir eingeschult, wo die Schülerinnen sorgfältig auf ihre Rolle als gebildet-distinguierte Ehefrauen und Mütter oder als Nonnen vorbereitet werden – die einzigen beiden Alternativen, die jungen Frauen aus gutem Hause zu dieser Zeit offenstehen.
Doch schon bald ändert sich die Situation der Beauvoirs grundlegend: Während der russischen Oktoberrevolution 1917 verliert Georges, der in russische Aktien investiert hatte, einen Großteil seines Vermögens. Die Beauvoirs können ihre prekäre finanzielle Situation nicht länger ignorieren, sie gehören nun zu den "neuen Armen" und müssen aus ihrer großen Wohnung in eine kleine, günstigere ziehen. Die Enge dort bedrückt Simone de Beauvoir, sie hat kein eigenes Eckchen für sich – und so flüchtet sie sich in Bücher. Die Eltern geben ihr eine relativ bizarre Mischung aus Abenteuerromanen, kitschigen Geschichten und erbaulich-religiöser Literatur zum Lesen. Mutter Françoise beobachtet das literarische Interesse ihrer Tochter argwöhnisch: Um sie von verderblichen Einflüssen fernzuhalten, heftet sie gerne mal ihr anstößig erscheinende Seiten zusammen.
Die junge Simone liest nicht nur gerne, sie hat auch Lust, selbst zu schreiben. Ihr erster ernsthafter Versuch nennt sich "Les malheurs de Marguerite" (Die Unglücksfälle der Marguerite) und erzählt die dramatische Geschichte einer jungen verwaisten Elsässerin, die mit ihren Geschwistern über den Rhein nach Frankreich gelangen will. Als sie sich mit 15 Jahren in das Album einer Freundin einträgt, antwortet Simone de Beauvoir auf die Frage nach ihrem Berufswunsch ohne zu zögern: "Eine berühmte Schriftstellerin". Sie ist fest entschlossen, der ihr drohenden einförmigen Erwachsenenexistenz zu entkommen: Sie will ihrem Leben einen Sinn verleihen, etwas leisten. Das geht, so glaubt sie, am besten durch geistige Arbeit – und ist empört, als ihre beste Freundin Zaza ihr erklärt, neun Kinder in die Welt zu setzen, wie ihre eigene Mutter es getan habe, sei "ebenso viel wert wie Bücherschreiben".
Mit Kinderkriegen allein ist es für Simone und Hélène de Beauvoir sowieso nicht getan, denn aufgrund seiner Aktienpleite ist Vater Georges nicht mehr in der Lage, seinen Töchtern eine angemessene Mitgift zu zahlen. Ungerührt verkündet er ihnen: "Heiraten, meine Kleinen (…) werdet ihr freilich nicht. Ihr habt keine Mitgift, da heißt es arbeiten." Für die Eltern Beauvoir ist das eine Art Weltuntergang, das Ende ihrer gesellschaftlichen Ambitionen. Dabei ist die Situation der Schwestern Beauvoir kurz nach dem Ersten Weltkrieg nicht ungewöhnlich: Viele Familien haben Vermögen verloren, neue wirtschaftliche Zwänge entstehen, und zahlreiche junge Frauen blicken statt einer Versorgerehe der Berufstätigkeit entgegen. Und obwohl sie romantisch veranlagt ist, findet Simone de Beauvoir diese Aussicht gar nicht schlecht, im Gegenteil: Insgeheim sehnt sie sich längst danach, auszubrechen. Als sie eines Tages ihrer Mutter beim Abwasch hilft, hat sie eine Erkenntnis: "Jeden Tag Mittagessen, Abendessen, jeden Tag schmutziges Geschirr! Unaufhörlich begonnene Stunden, die zu gar nichts führten – würde das auch mein Leben sein? (…) Nein, sagte ich mir, während ich einen Tellerstapel in den Wandschrank schob; mein eigenes Leben wird zu etwas führen."
Vater Georges bestärkt diesen Wunsch, wenn auch eher unbewusst. Da es keinen männlichen Nachkommen gibt, mit dem Georges von gleich zu gleich sprechen könnte, behandelt er eben seine Erstgeborene wie einen Sohn und unterhält sich mit ihr über Kultur und Literatur. "Simone denkt wie ein Mann", pflegt Georges stolz zu sagen. Der intellektuelle und ideologische Gegensatz zwischen ihren Eltern fällt Simone de Beauvoir nun deutlich auf: Georges mit seinem weltlichen Individualismus steht im auffälligen Gegensatz zu Françoise und ihrer strengen katholischen Moral. Hier das geistige Leben, dort das seelische Dasein. Später wird Beauvoir feststellen: "Diese Unausgewogenheit, die mich zur Auflehnung treiben musste, erklärt zum großen Teil, dass eine Intellektuelle aus mir geworden ist."
Diese "Auflehnung" führt zu einem entscheidenden Bruch in Simone de Beauvoirs jungem Leben: Sie verliert ihren katholischen Glauben. Religion, das ist für sie nur noch Widerspruch: Warum sind so viele der großen (männlichen) Schriftsteller und Denker nicht gläubig? Warum sind es die Männer, die bestimmen, wenn doch Frauen aufgrund ihrer Frömmigkeit angeblich eine privilegierte Stellung auf Erden haben? Irgendetwas passt da nicht zusammen. Auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens wendet Beauvoir sich der Philosophie zu – für sie ein Instrument, die Umgebung mit anderen Augen, kritisch, zu betrachten. In einer Zeitschrift entdeckt sie in den 1920er Jahren einen Artikel über Léontine Zanta, die 1914 als erste Frau in Frankreich ihren Doktor in Philosophie machte. Zum ersten Mal sieht Beauvoir, dass diese Art der Karriere für Frauen möglich ist. Zanta ist ein Vorbild, eine Pionierin, und Beauvoir beschließt, es ihr gleichzutun. Gleichzeitig träumt sie vom Schreiben: Dieses soll ihr Unsterblichkeit sichern, jetzt, wo sie ihren katholischen Glauben und somit jede Aussicht auf Seligkeit verloren hat. Schreiben, so hofft sie, werde ihr Dasein rechtfertigen.
Philosophie und Sartre
1925, mit 17 Jahren, besteht Simone de Beauvoir ihr baccalauréat, das Abitur. Obwohl sie vom Schreiben träumt, entscheidet sie sich für einen solideren Zukunftsplan: Sie will Philosophielehrerin werden. Weil die Eltern von der Studienwahl nicht begeistert sind, belegt Beauvoir zunächst Philologie und Mathematik, Philosophievorlesungen besucht sie nur als Gasthörerin. Ein Kompromiss unter Zähneknirschen. Doch im Winter 1926 bekommt Beauvoir ihren Willen: Die Eltern geben ihren Widerstand endgültig auf, die Tochter kann sich an der Sorbonne für Philosophie immatrikulieren.
Im Frühjahr 1929 ist Simone de Beauvoir gerade dabei, sich auf die agrégation in Philosophie vorzubereiten, als sie eine Einladung erhält, sich der Lerngruppe rund um Jean-Paul Sartre anzuschließen. Sartre und seine Freunde René Maheu und Paul Nizan inszenieren sich auf dem Campus als Elite-Verächter und Rebellen, gelten als trinkfeste Zyniker und sichern sich so respektvolle Bewunderung. Mit Maheu ist Beauvoir bereits bekannt, die beiden pflegen eine Freundschaft mit romantischen Untertönen. Maheu ist es auch, der Beauvoir den Spitznamen Castor (Biber) verpasst: "Eines Tages schrieb er in großen Buchstaben auf mein Heft: BEAUVOIR = BEAVER. ‚Sie sind ein Biber‘, sagte er. ‚Die Biber leben in Gemeinschaften und haben einen konstruktiven Geist.‘"
Trotz Lernstress verleben Sartre, Beauvoir und die anderen unbeschwerte Tage und Nächte, man freundet sich an. Doch dann kommt der Tag, an dem die Ergebnisse der schriftlichen Prüfung verkündet werden: Maheu ist im Gegensatz zu den anderen durchgefallen und damit nicht zur mündlichen Prüfung zugelassen. Überstürzt verlässt er die Stadt. Sartre nutzt seine Chance sofort: Er werde sich nun um sie kümmern, erklärt er der aufgewühlten Simone de Beauvoir. Und die lässt sich darauf ein. Sartre ist eine Herausforderung, scharfer Intellekt: Mit ihm läuft Beauvoir nicht Gefahr, ein bürgerliches, konventionelles Leben zu führen. Zusammen bilden die beiden ihren eigenen kleinen Debattierclub, bei dem die Argumente und Gegenargumente nur so hin- und herfliegen. Beauvoir lässt sich von Sartres Lust am Denken anstecken. Der kleine, bebrillte Mann fordert sie heraus wie kein anderer.
Bei der mündlichen Prüfung in Philosophie landet Sartre auf dem ersten, Beauvoir auf dem zweiten Platz. Beauvoir ist erst die neunte agrégée in Philosophie, die neunte Frau in Frankreich, die diese Prüfungstortur namens agrégation erfolgreich bestanden hat. Ihr ehemaliger Kommilitone und Verehrer Maurice de Gandillac, der einige Mitglieder des Prüfungsausschusses kennt, erinnert sich später, dass die Jury lange diskutiert habe, wem sie den ersten Platz geben würde: Sartre oder Beauvoir. Alle seien sich einig gewesen, dass Beauvoir der erste Platz gebührt hätte, weil sie die "wahre Philosophin" gewesen sei. Aber da Sartre schon einmal durchgefallen, ein Mann und außerdem Student der Elite-Uni École Normale Supérieure war, entschied man sich doch für ihn.
Nach dem Studium beschließt Simone de Beauvoir, sich nicht sofort um eine Stelle als Lehrerin zu bewerben: Neues Lehrpersonal wird meistens in die "Provinz" (also alles außerhalb von Paris) versetzt, sie will aber erst einmal in der Hauptstadt bleiben. Also gibt sie Privatstunden und unterrichtet in Teilzeit Latein an einem Gymnasium. Sartre hingegen muss zum obligatorischen Militärdienst und sucht nach einer Möglichkeit, die heiratsunwillige Beauvoir – einen Antrag hat sie bereits abgelehnt – an sich zu binden. Im Oktober 1929 schlägt er ihr den berühmten "Pakt" vor, der auf Nähe und Abstand sowie fein ausbalancierten Freiheiten besteht: Ihre sei eine notwendige Liebe, erklärt Sartre Beauvoir, ein amour nécessaire. Daneben gebe es aber auch die Zufallslieben oder amours contingents – davon sollen beide, Sartre und Beauvoir, Gebrauch machen, aber nicht sofort. Das Paar vereinbart außerdem, sich einander immer alles zu sagen und sich nie anzulügen. Ausgelegt ist der Pakt zunächst auf zwei Jahre, doch schon bald wird er verlängert, letztendlich auf unbestimmte Zeit. Ihr ganzes Leben lang werden Beauvoir und Sartre nie einen gemeinsamen Haushalt haben, gemeinsam leben. Ihren engsten Freundeskreis nennen sie zwar petite famille (kleine Familie), selbst Kinder haben wollen sie aber nicht.
In der 51 Jahre währenden Verbindung, die bis zum Tod Sartres 1980 anhält – und mit der Zeit eher intensive Freundschaft als Liebesbeziehung ist –, muss der Pakt sich immer wieder neu beweisen. Sowohl Beauvoir als auch Sartre verlieben sich ernsthaft in andere, die wiederum Ansprüche stellen und sich mit der ihnen zugedachten Rolle als "Zufallsliebe" nicht zufrieden geben wollen. Beauvoir hat Affären mit Männern und Frauen, leugnet letztere jedoch ihr Leben lang – erst nach ihrem Tod 1986 erfährt die Öffentlichkeit davon. Heute gilt die Beziehung zwischen Sartre und Beauvoir entweder als perfekte Symbiose zweier Gleichberechtigter oder als ungleiche Verbindung, in der Sartre den Ton angab und Beauvoir im Stillen unter seinen Macho-Allüren litt. Doch so einfach ist es nicht. In den 51 gemeinsamen Jahren scheinen sich die Machtverhältnisse zwischen den beiden mehrfach verändert zu haben, mal zu seinen, mal zu ihren Gunsten. Als junge Frau in den 1930er und 1940er Jahren profitierte Simone de Beauvoir unbestreitbar vom Pakt – er bot ihr Freiheiten, die anderen Frauen der damaligen Zeit verwehrt blieben. Lässt man die ganzen Techtelmechtel und Eifersüchteleien beiseite, bleibt die Tatsache, dass Sartre Beauvoir immer als Ebenbürtige, als Gleichrangige behandelte. Sie hat ihn beeinflusst, so wie er sie beeinflusst hat, war seine Lektorin, Kritikerin, Partnerin. Nie haben die beiden aufgehört, sich auszutauschen. Und: Es ist nicht Sartre, der aus der kleinen bourgeoise Simone de Beauvoir eine freiheitsliebende Denkerin machte. Auf diesem Weg befand sie sich längst, als sie 1929 mit Sartre den Pakt schloss. Sie war es, die eine Heirat kategorisch ablehnte. Sie war die Revolutionärin.
1931 beginnt Simone de Beauvoir als Lehrerin in Marseille zu arbeiten, dann in Rouen, 1936 kehrt sie in ihr geliebtes Paris zurück – Sartre folgt ein Jahr später. Die beiden verwerfen selbstbewusst die Maßstäbe, nach denen sich die Gesellschaft richtet, verbindliche Grundsätze, Pflichten und Tugenden. Was für sie zählt, ist allein die individuelle Freiheit, der Wert eines Menschen wird an seiner Leistung, seinen Taten gemessen. Beauvoir und Sartre glauben also, dass radikale Freiheit als Lebensprinzip ausreicht: "Unser Leben verlief so wunschgemäß, dass es uns schien, wir hätten es selbst gewählt: wir schlossen daraus, dass es sich immer unserer Regie fügen würde." Die beiden fühlen sich losgelöst von allem, von Orten, Ländern, Klassen, Berufen, Generationen. Sie wollen sich in keine Schublade stecken lassen und fühlen sich nur sich selbst verpflichtet.
Existenzialismus und Engagement
Beauvoirs Denken ändert sich, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Sartre wird eingezogen, im Juni 1940 gerät er in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im März 1941 mithilfe eines Gefälligkeitsattestes zurückkehrt. Beauvoir kommt im besetzten Paris um vor Sorge. Etwas in ihr ändert sich: "Ich wusste jetzt, dass mein Schicksal mit dem aller anderen verknüpft war. Die Freiheit, die Unterdrückung, das Glück und Leid der Menschen berührten mich zutiefst." Beauvoir macht sich Sorgen, was ihr Nichthandeln für andere bedeutet. Schon im Oktober 1939 schreibt sie in einem Brief an den sich in Gefangenschaft befindenden Sartre: "Ich weiß wohl, dass wir nichts tun konnten, aber immerhin gehören wir zu der Generation, die es hat geschehen lassen". Sartre antwortet: "Sie haben mich lebhaft interessiert mit dem, was Sie über unsere passive Verantwortung gegenüber der Generation nach uns sagten". Wenig später taucht in seinen Notizen zum ersten Mal der Begriff des "Engagements" auf, wie er ihn später verwenden und bekannt machen wird.
Die Kriegsjahre sind, trotz aller Ängste und Entbehrungen, produktive Jahre für das Paar. Beauvoir veröffentlicht 1943 ihren Debütroman "L’Invitée" ("Sie kam und blieb"), Sartre fast zeitgleich sein philosophisches Hauptwerk "L’Être et le Néant" ("Das Sein und das Nichts"), in dem er die Grundsätze des Existenzialismus darlegt. Als Beauvoir im selben Jahr vom Philosophen Jean Grenier gefragt wird, ob sie Existenzialistin sei, reagiert sie erst irritiert. Tatsächlich aber ist ihr Denken und Schreiben schon längst von einer existenzialistischen Weltsicht durchdrungen: "Schon mit 19 Jahren war ich überzeugt gewesen, dass es dem Menschen zusteht, und nur ihm allein, seinem Leben einen Sinn zu geben, und dass er dieser Aufgabe gewachsen ist."
1944 wird Paris befreit, 1945 ist der Krieg offiziell zu Ende – und in Frankreich bricht ein Hype um den Existenzialismus aus. Die alten kollektiven französischen Werte lösen sich auf, insbesondere junge Menschen sind vom Krieg desorientiert und suchen nach Alternativen zu den großen Denksystemen der Vergangenheit. Frankreich hat sowohl die Résistance als auch die Kollaboration erlebt und tut sich schwer damit, beide als Teil der kollektiven französischen Erfahrung zu begreifen. Auch in Beauvoir hat der Krieg einen grundlegenden Wandel bewirkt: Sie legt ihre Distanz und Passivität ab und beginnt, sich für das zu interessieren, was um sie herum passiert. Früher überzeugt individualistisch, haben Sartre und Beauvoir nun erfahren, was Solidarität und Mitgefühl bedeuten. Sie können und wollen nicht länger untätig herumsitzen.
Das zeigt sich auch in Beauvoirs Publikationen: Ihr zweiter Roman "Le Sang des Autres" ("Das Blut der anderen") erscheint 1945 und beschäftigt sich damit, welche Auswirkungen das Handeln einzelner auf andere hat. In ihren Artikeln für die von ihr und Sartre gegründete literarisch-politische Zeitschrift "Les Temps Modernes" setzt Beauvoir sich mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen zusammen, analysiert, diskutiert und kommentiert. Sie veröffentlicht mehrere philosophische Essays und macht sich, anders als Sartre, Gedanken zu einer existenzialistischen Moral. Lebensfreude und Leidenschaft sind typisch für Simone de Beauvoirs Form des Existenzialismus. In ihren Werken behandelt sie stets Themen und Fragestellungen, die sie persönlich betreffen und berühren. Ihr Zugang ist unmittelbar, konkret: Sie schreibt für das große Publikum, nicht für Intellektuelle. Als klassische Philosophin sieht sie selbst sich aber nicht, trotz Philosophiestudium und der philosophischen Dimension ihres Werks.
Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass Simone de Beauvoirs große Leidenschaft immer das Schreiben gewesen ist. Seit sie während des Krieges ihre Anstellung als Lehrerin verloren hat – dem mit Nazi-Deutschland kollaborierenden Vichy-Regime war sie offenbar nicht wertkonservativ genug – konzentriert Beauvoir sich auf ihre Karriere als Schriftstellerin. Während sie früher krampfhaft und verzweifelt nach Themen suchte, ist das Schreiben nun zu etwas Notwendigem geworden: "Seit der Kriegserklärung hatten die Dinge endgültig aufgehört, selbstverständlich zu sein. Das Unglück war über die Welt hereingebrochen. Die Literatur wurde mir so nötig wie die Luft, die ich atmete." Beauvoir greift immer dann zum Stift, wenn sie in den Büchern keine Antworten auf für sie dringende Fragen, wenn sie sich selbst nicht in ihnen findet – Schreiben ist für sie immer auch Selbsterforschung und Suche. So veröffentlicht sie Romane, philosophische Essays, Reiseberichte und Erzählungen sowie ihre umfangreichen Memoiren. Kritische und öffentliche Anerkennung erfährt Beauvoir mit ihrem Roman "Die Mandarins von Paris", der 1954 erscheint und im gleichen Jahr den prestigeträchtigen Prix Goncourt erhält.
"Das andere Geschlecht" und der Feminismus
Berühmt macht Simone de Beauvoir 1949 "Le Deuxième Sexe" ("Das andere Geschlecht") – oder eher: berühmt-berüchtigt. Das Buch gilt als skandalös und wird schnell zum Bestseller. Eigentlich ist es ein Zufallsprodukt: Beauvoir hat Michel Leiris’ Autobiografie "Mannesalter" gelesen, ist beeindruckt, will ihrerseits über ihre Kindheit schreiben und entdeckt dabei, dass ihre Kindheit eben die einer Frau gewesen ist: Wenn sie von sich spricht, muss sie von Frauen allgemein sprechen. Sie stürzt sich in die Recherchen und stellt fest: "Diese Welt ist eine Männerwelt, meine Jugend wurde mit Mythen gespeist, die von Männern erfunden worden waren, und ich hatte keineswegs so darauf reagiert, als wenn ich ein Junge gewesen wäre." Doch obwohl Beauvoir mit "Das andere Geschlecht" einen feministischen Klassiker geschrieben hat, sieht sie selbst sich 1949 nicht als Feministin. Das liegt vor allem daran, dass sie Sozialistin ist und glaubt, eine Transformation des kapitalistischen Systems – und damit verbunden die Auflösung des Klassenwiderspruchs – würde automatisch die Befreiung der Frau mit sich bringen.
Doch mit der Zeit erkennt sie, dass es so nicht läuft. Wie viele andere westeuropäische Intellektuelle ist sie desillusioniert vom sowjetischen Regime und sieht im Sozialismus kein Heilsversprechen mehr. Ihr wird klar: Auch dort hat die Frauenbefreiung keine Priorität. 1966 identifiziert Beauvoir sich in einem Interview mit dem französischen Philosophen Francis Jeanson als Feministin: "Feminismus ist eine Art, individuell zu leben und kollektiv zu kämpfen." Aktiv als Feministin wird sie Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre – als die neue Frauenbewegung in Frankreich entsteht. Diese ist in viele kleine Gruppen zersplittert, mit jeweils eigenen Themen und Prioritäten. Das Thema, das 1970 letztendlich all diese Gruppen zusammenbringt, ist das Abtreibungsverbot. Der Mouvement de libération des femmes (Bewegung zur Befreiung der Frauen) startet eine groß angelegte Kampagne, um den entsprechenden Paragrafen abzuschaffen. Einige der jüngeren Feministinnen, darunter auch die deutsche Journalistin Alice Schwarzer, finden, prominente Unterstützung könnte dabei nicht schaden – und beschließen, die berühmte Simone de Beauvoir um Hilfe zu bitten. Die schließt sich den jüngeren Frauen an. So verfasst sie den Text des "Manifest der 343", das am 5. April 1971 in der Zeitschrift "Le Nouvel Observateur" erscheint. Darin bekennen 343 Frauen, abgetrieben zu haben – unter anderem die Schauspielerin Jeanne Moreau und die Schriftstellerin Marguerite Duras.
Obwohl sie sich nicht als "Militante im engeren Sinne" sieht, ist Beauvoir in den kommenden Jahren an vielen feministischen Aktionen beteiligt: So wird sie Präsidentin der 1971 gegründeten Vereinigung Choisir la cause des femmes, die sich unter anderem für das Recht auf Abtreibung einsetzt, ruft in "Les Temps Modernes" 1973 die Rubrik "Le Sexisme Ordinaire" (Der alltägliche Sexismus) ins Leben und wird 1983 Ehrenvorsitzende der von Frauenministerin Yvette Roudy eingerichteten Commission Femme et Culture – einer Kommission, die Vorschläge zur Gleichstellung der Geschlechter entwickeln soll. Grundsätzlich sieht Beauvoir ihre Rolle in der Frauenbewegung eher in der Unterstützung von Aktionen als in der Weiterentwicklung ihrer Analyse: Sie nutzt ihre Privilegien als berühmte Intellektuelle, um feministischen Forderungen und Anliegen Öffentlichkeit zu verschaffen. Sie steht der Bewegung, in ihren eigenen Worten, "zur Verfügung".
Seit sie, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, ihre politische Passivität abgelegt hat, engagiert Beauvoir sich für eine Vielzahl politischer Anliegen. Ab den 1950er Jahren entdeckt sie – endlich, könnte man sagen – ihre Verantwortung als Intellektuelle. Sie bringt sich aktiv (und meist im Tandem mit Sartre) ein, demonstriert für die Unabhängigkeit Algeriens und gegen den Vietnamkrieg, nimmt an Friedenskongressen teil, unterschreibt Petitionen, führt Gespräche mit Dissidenten oder besucht auf Einladung von Regierungen zahlreiche Länder. In den 1970er und 1980er Jahren schließlich tritt Beauvoirs Engagement für die Frauenbewegung in den Vordergrund.
Am Ende
Beauvoirs letzte Lebensjahre sind von Krankheit geprägt: Bis zu seinem Tod 1980 pflegt sie den erblindeten und von jahrzehntelangem Medikamenten- und Alkoholmissbrauch gezeichneten Sartre. Auch Beauvoir selbst kämpft mit gesundheitlichen Problemen, wird immer gebrechlicher. Um ihren Nachlass zu regeln, adoptiert sie nach Sartres Tod ihre enge Freundin, die über 30 Jahre jüngere Philosophielehrerin Sylvie Le Bon.
Als Simone de Beauvoir am 14. April 1986 stirbt, wird sie in zahlreichen Nachrufen in der linken Presse als feministisches Vorbild gefeiert, der berühmte Satz "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es", überall zitiert. Es gibt jedoch auch Artikel, die sich kritisch mit der Wirkung von "Das andere Geschlecht" auseinandersetzen und seine Bedeutung für den heutigen – französischen – Feminismus hinterfragen. Viel wichtiger als Beauvoirs Theorien zum Geschlechterverhältnis, das wird deutlich, ist für viele immer noch die Art und Weise, wie sie lebte. So verwundert es nicht, dass Beauvoirs vierbändige "Memoiren" 2018 in der renommierten Bibliothèque La Pléiade erscheinen – eine Reihe, die seit 1931 vom Verlag Gallimard veröffentlicht wird und Klassiker der Weltliteratur umfasst. Die "Memoiren" mögen kein dezidiert feministisches Werk sein, aber in ihnen findet sich alles, was an Beauvoir so fasziniert: der Wunsch, etwas aus sich zu machen, der Drang nach Freiheit – die Geschichte einer Emanzipation.