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(Nicht Mehr) Warten auf den "Tag X" | Rechtsterrorismus | bpb.de

Rechtsterrorismus Editorial Nach dem NSU-Prozess: Leerstellen und Lehren Was ist Rechtsterrorismus? Zur Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland Nur "einsame Wölfe"? Rechtsterrorismus als transnationales Phänomen (Nicht Mehr) Warten auf den "Tag X". Ziele und Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus Vom Sagbaren zum Machbaren? Rechtspopulistische Sprache und Gewalt

(Nicht Mehr) Warten auf den "Tag X" Ziele und Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus

Matthias Quent

/ 15 Minuten zu lesen

Der "Tag X" bezeichnet für systemfeindliche Rechtsextremisten den von ihnen herbeigesehnten Zeitpunkt des Zusammenbruchs der verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung. Doch nicht alle sind bereit, auf eine Krise zu warten – sie wollen sie stattdessen selbst auslösen.

Szenebeobachter*innen, Wissenschaftler*innen und Sicherheitsbehörden sind sich einig: Die Gefährdungslage durch rechtsterroristische Anschläge mit verschiedenen möglichen Zielen und aus verschiedenen Täterspektren ist sehr hoch. Schwerste Gewaltstraftaten von allein handelnden Attentäter*innen, von Kleinstgruppen oder aus Netzwerken hinaus sind sowohl aus dem neonazistischen Milieu als auch aus dem internationalen Milieu der sogenannten Neuen Rechten möglich. Potenzielle Ziele sind vor allem antisemitisch und rassistisch markierte Personen und Einrichtungen, politische Gegner*innen sowie Repräsentant*innen des Staates.

Rassistische Gewalttaten und Anschläge, insbesondere gegen geflüchtete Menschen und solche, die als Muslime markiert werden, haben in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren massiv zugenommen. Im Zuge der Asyldiskussion seit 2014, in deren Verlauf sich nicht nur rechte Gewalttäter*innen, sondern auch Teile der Bevölkerung politisch an der für die radikale und populistische Rechte zentralen Einwanderungsfrage radikalisierten, ist in deren Milieus zunehmend der Eindruck entstanden, dass der Staat, der Zuwanderung nicht rigoros verhindere, in die Hände der Feinde gefallen sei und daher bekämpft werden müsse ("Vigilantismus"). Laut Verfassungsschutzbericht erhöhte sich 2018 die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr zwar "nur" um 3,2 Prozent auf 1.088 Delikte, aber im Vergleich zu 2013 mit 801 Delikten bedeutet dies einen Anstieg von 35,8 Prozent. Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund stieg 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 6,1 Prozent auf 821 Delikte, die Zahl der antisemitischen Gewalttaten sogar um über 71,4 Prozent auf 48 Delikte. Zudem gab es 2018 sechs von Rechtsradikalen versuchte Tötungsdelikte. Außerdem ist 2018 die Zahl der Waffenfunde bei rechten Straftätern gegenüber dem Vorjahr um 61 Prozent angestiegen: Die radikalen Rechten rüsten auf. Der in der Geschichte der Bundesrepublik bisher extremste Fall von Angriffen auf Politiker*innen und Repräsentant*innen des Staates durch Rechtsradikale, die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019, kommt in dieser Statistik noch gar nicht vor. Gleiches gilt für den versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober 2019, durch den die rechtsterroristische Gefahr nochmals unübersehbar vor Augen geführt wurde.

Im Folgenden werden unter anderem die Fragen diskutiert, wie dieses Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus in Deutschland einzuschätzen ist und welche Motive und politischen Ziele hinter den entsprechenden Plänen und Taten stehen. Hierfür werde ich zunächst auf einige ideologische Grundlagen sowie auf die Rolle der in rechtsradikalen Kreisen verbreiteten Vorstellung eines "Tag X" eingehen, der für einen teils gefürchteten, teils ersehnten unbestimmten Moment des Zusammenbruchs der verfassungsmäßigen Ordnung des demokratischen Rechtsstaats steht und einen tiefen apokalyptischen Kulturpessimismus offenbart.

Rechtsradikaler Kulturpessimismus

In den Augen vieler Rechtsradikaler sind die unter anderem mit der Globalisierung einhergehenden Modernisierungs- und Liberalisierungsprozesse Zeichen und Beschleuniger eines gesellschaftlichen Niederganges. Ein Teil dieses Milieus ist davon überzeugt, dass ein "Zerfall" der "deutschen Kultur" bevorstehe. Aufklärung und Demokratie hätten demnach die angeblich natürliche soziale Hierarchie von Menschen(-gruppen) und "Völkern" aufgehoben und damit eine verfassungsrechtliche und kulturelle Moderne geschaffen, die der eigentlichen und unabänderlichen Natur der Menschen widerspreche. Die apokalyptische Substanz dieses Glaubens ist jedoch ausschließlich in Kategorien rassistischen Denkens begründet – was sich etwa in der Rede vom "Volkstod" zeigt. Viele Rechtsradikale glauben, eine solche ideologisch konstruierte Zukunftsgefahr sei nur durch extreme Maßnahmen und Selbstjustiz zu bannen: Die verbreitete Enttäuschung über den Bedeutungsverlust von Kategorien wie "Volk", "Nation" und "Rasse" entlädt sich in radikalisierter Form in Gewalt gegen Minderheiten und Repräsentant*innen der staatlichen Ordnung.

Mit diesem Endzeitglauben knüpfen Rechtsradikalismus und Rechtsterrorismus teilweise an christliche Eschatologie und christlichen Antijudaismus an: Zur Geschichte apokalyptischer Szenarien im Christentum zählen die in den Kreuzzügen realisierte Idee der von Menschen geführten Heiligen Kriege sowie die Legenden vom Antichristen und von den apokalyptischen Völkern Gog und Magog, die als Juden und Muslime identifiziert werden. In der Selbstinszenierung, Bildsprache und Weltanschauung radikal rechter Aktivist*innen und Terrorist*innen lebt dieser christlich geprägte Chiliasmus und Antisemitismus bis heute fort. Im mittelalterlichen Christentum war die Ansicht verbreitet, Juden seien für die Ermordung von Jesus verantwortlich, womit die Tötung unzähliger Jüdinnen und Juden während der Kreuzzüge gerechtfertigt wurde.

Für einige radikale Apokalyptiker*innen hat das Mittelalter offenbar nie aufgehört: Dies zeigt sich insbesondere am Fall des norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik, der 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete. Er inszenierte sich als Ritter eines geheimen europäischen Templerordens, für den er Symbole und sogar Uniformen anfertigte. Breivik sah sich als moderner Kreuzritter im Heiligen Krieg gegen das Böse, welches er in der angeblichen "Islamisierung" zu erkennen glaubte. In seinem umfassenden "Manifest" bekannte er sich zum Christentum, mit der Einschränkung, dies habe für ihn vor allem kulturelle, nicht religiöse Bedeutung. Ferner führte er aus, mit seinem Terror ein Fanal gegen den aus seiner Sicht massiven Niedergang der norwegischen und europäischen Gesellschaft seit den 1950er Jahren setzen zu wollen, für den "Kulturmarxisten" verantwortlich seien.

Als Ursprünge für den behaupteten "Kulturmarxismus" benennen Rechtsradikale häufig die jüdischen Intellektuellen der Frankfurter Schule und die von der Kritischen Theorie beeinflusste Bewegung der 1968er. Nach den Anschlägen von Breivik entstand in verschiedenen europäischen Staaten die mit dem Rechtsterroristen ideologisch weitgehend deckungsgleiche rechtsradikale Identitäre Bewegung, inszeniert als "letzte Generation, die noch etwas ändern kann", die den Untergang einer rassistisch konstruierten, europäischen Identität verhindern will. Wie Breivik beziehen sich die Identitären positiv auf die christlichen Kreuzzüge – und damit auf den Massenmord an Juden und Muslimen in einem apokalyptischen Szenario. Sie radikalisieren übergreifende Debatten um den Kulturkonflikt zwischen dem in rechten Kreisen häufig angerufenen "Abendland" und islamisch geprägten Kulturen. Bemerkenswert ist dabei, dass auch die vermeintlichen Antagonist*innen der radikalen Rechten – Islamisten von al-Qaida und vom sogenannten Islamischen Staat – sich auf die Kreuzzüge und apokalyptische Untergangsszenarien berufen.

Rassismus und Akzelerationismus

Im Vorfeld der Gedenkveranstaltung zum 15. Jahrestag des Nagelbombenanschlages durch den rechtsterroristischen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) in der Kölner Keupstraße wurden im Juni 2019 in Tatortnähe Drohbriefe verteilt. Darin heißt es: "Moslems in Deutschland! Eure Invasion in unser Land wird scheitern. Das deutsche Volk wacht auf und wir erkennen immer klarer, dass ihr Feinde seid, und uns hasst. Ihr seid das willfährige Werkzeug der Juden, um Deutschland und Europa zu zerstören. Deshalb ist jeder einzelne von euch ein legitimes Ziel." Über dem Text prangen ein Hakenkreuz und das Logo der rechtsterroristischen Gruppierung "Atomwaffen Division Deutschland". Diese Drohung gegen die ohnehin durch den jahrelang unerkannten NSU-Terror traumatisierte migrantische Gemeinschaft in Köln offenbart die Verbindung von antimuslimischem Rassismus mit antisemitischen Verschwörungsvorstellungen, die allen rechten Erzählungen vom "Bevölkerungsaustausch", von der "Umvolkung" oder dem "Volkstod" mehr oder weniger explizit innewohnen. Jüdinnen und Juden und andere Personen, die im antisemitischen Weltbild nations- und volkszerstörend wirken und häufig als "Multikulturalisten" oder "Kulturmarxisten" chiffriert werden, seien demnach die eigentlichen Drahtzieher*innen, die durch Migration, Feminismus oder "Genderideologie" die nationalen Bevölkerungen unterdrücken und zersetzen würden. Antisemitismus nimmt in aktuellen Formen des Rechtsterrorismus ohnehin eine hervorgehobene Rolle ein, die sich bei Rechtsterrorist*innen immer wieder in Verschwörungsideologien über die "zionistisch okkupierte Regierung" und im Hass auf die Polizei ausdrückt, die vermeintlich "jüdischen Interessen" diene.

Die "Atomwaffen Division" tauchte zuerst 2015 in den USA auf. Nach Einschätzung des US-amerikanischen Southern Poverty Law Center handelt es sich dabei um ein schwer bewaffnetes Neonazinetzwerk mit etwa 80 Mitgliedern in dezentralen Zellen aus je drei bis vier Personen. Sie stehen für einen rechtsradikalen Akzelerationismus (von engl. accelerate: beschleunigen) – das bedeutet, sie wollen den erwarteten Zusammenbruch durch Gewalt beschleunigen und einen "Rassenkrieg" hervorrufen, um ihr apokalyptisches Weltbild durchzusetzen. In Deutschland ist mindestens eine Zelle aktiv, die jüngst auch durch Morddrohungen gegen prominente Politiker*innen der Grünen auffiel. In den USA gehen bereits fünf Morde auf das Konto des Netzwerks, das sich über rechtsradikale Foren im Internet gründete und weiter vernetzt. Wichtigster Impulsgeber war der Newsletter "Siege" des Neonazis James Manson, der sich unter anderem auf den rassistischen Sektenführer Charles Manson bezieht. Auch dieser war der Überzeugung, dass ein "Rassenkrieg" bevorstehe: Auf seinen Befehl hin töteten Angehörige seiner Sekte 1969 sieben Menschen, in der Hoffnung, die Öffentlichkeit würde Afroamerikaner*innen die Schuld geben und den Bürgerkrieg beginnen.

Die Auslösung eines Bürgerkriegs zwischen ethnischen Gruppen ist auch eines der zentralen Motive der im globalen Rechtsradikalismus einflussreichen apokalyptischen Bücher "The Turner Diaries" (1978) und "Hunter" (1989) von William L. Pierce, auf die sich verschiedene Neonazigruppen und Rechtsterrorist*innen beziehen. Beispiele hierfür sind unter anderem Timothy McVeigh, der 1995 mit zwei Komplizen einen Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City verübte und dabei 168 Menschen tötete, Anders Behring Breivik sowie Brenton Tarrant, der im März 2019 in Christchurch 51 Muslime erschoss. Auch die rechtsextremistischen Gruppierungen "Oldschool Society" und "Revolution Chemnitz" zielen auf eine Steigerung ethnischer Spannungen, um einen Bürgerkrieg herbeizuführen.

Vorbereitung auf den "Tag X"

Für einige Rechtsradikale ist der Rückzug in kleine Enklaven, in denen sich die "weiße Rasse" vor der bevorstehenden Apokalypse schützen kann, die Antwort auf die von ihnen wahrgenommene Bedrohung. Dieser Exit aus der Demokratie findet seine praktische Entsprechung in abgeschotteten Lebenswelten wie der neonazistischen Subkultur, in völkischen und rechtsesoterischen Siedlungen (etwa der sogenannten Artamanen), in komplexen Verschwörungslegenden sowie in der Negierung der Legitimität der Bundesrepublik und der Erfindung von "souveränen" Pseudostaaten oder -reichen. Um die erwartete Krise für eine politische Machtübernahme zu nutzen, bereiten sich manche bereits auf den "Tag X" vor, der insbesondere im neonazistischen und systemfeindlichen Rechtsradikalismus als Erlösungsmoment konstruiert wird. Dabei muss dieser Tag gar nicht explizit genannt werden, häufig wird er umschrieben ("wenn der Tag gekommen ist", "wenn wir so weit sind").

Das apokalyptische "Tag X"-Narrativ ist nicht neu – es taucht immer wieder in rechtsradikalen und neonazistischen Publikationen und Äußerungen auf. Rassistischer Kulturpessimismus prägte schon in den Jahrzehnten vor dem Nationalsozialismus das Weltbild der Anhängerschaft der sogenannten Konservativen Revolution, die den Nationalsozialisten den Weg bereitete und die Neue Rechte noch heute maßgeblich beeinflusst. Der Historiker Robert Owen Paxton definierte die "obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft" als wesenhaft für den Faschismus. Für den Historiker Timothy Snyder war die apokalyptische Propaganda gar ursächlich für den Holocaust: "Wenn sich am Horizont eine Apokalypse abzeichnet, scheint es sinnlos zu sein, auf wissenschaftliche Lösungen zu warten, dann muss natürlich gekämpft werden, dann kommt die Stunde der Blut-und-Boden-Demagogen." In der radikalen Rechten haben die Untergangsnarrative den Nationalsozialismus überlebt. Der Politologe Gideon Botsch hat gezeigt, dass die Zukunft für die radikale Rechte in Deutschland nach 1945 "in der Regel eine relativ offene und unbestimmte Chiffre für die Ablehnung der Gegenwartsverhältnisse" war. Ausblicke konzentrieren sich demnach vor allem auf ein "Absterben des deutschen Volkes". Was nach dem "Tag X" kommen soll, das bleibt, so Botsch, "fast durchweg vage".

Fachleute und Sicherheitsbehörden stehen vor der Herausforderung, Äußerungen in Bezug auf den "Tag X" im Kontext milieuspezifischer Sprachcodes und Weltanschauungen einzuordnen – und zu differenzieren, wo es sich um apokalyptischen Verbalradikalismus und wo um konkrete Gewaltvorbereitungen handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur Rechtsradikale sich operativ und ideell auf einen "Tag X" vorbereiten. Sogenannte Prepper (von engl. prepare: vorbereiten) gehen von einer künftigen Katastrophe oder Krise aus, auf die sie sich mit unterschiedlichen Maßnahmen vorbereiten: Wasseraufbereitung, Anlegen von Vorräten und Depots, aber auch Selbstverteidigung und Bewaffnung. In den USA und in Europa verbreitet sich das Prepping verstärkt seit der Finanzmarktkrise 2007, doch bereits zum Jahrtausendwechsel beschäftigte die radikale Apokalyptik die US-Behörden. Unklar ist, wie groß der Anteil der rechtsradikalen Kulturpessimist*innen unter den Preppern ist. Anknüpfungspunkte bestehen im Untergangsdenken, im Misstrauen gegenüber dem Staat und in der Neigung zu Verschwörungserzählungen.

Im Fall der Gruppe "Nordkreuz" mit ihren von der "Tageszeitung" (taz) aufgedeckten Kontakten in Sicherheitsbehörden des "Hannibal"-Netzwerks etwa ist der Übergang zwischen Vigilant*innen, Prepper*innen und rechtsradikalen Umsturzplänen fließend. Unter anderem werden ein Rechtsanwalt und ein Kriminaloberkommissar der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten beschuldigt. Sie sollen geplant haben, an einem "Tag X" Politiker*innen und linke Aktivist*innen festzusetzen und zu töten. Nach Informationen der taz gehörten sie zu einer Gruppe von rund 30 Personen, die sich auf Katastrophen und eine "Invasion" von Geflüchteten vorbereiteten und dazu auch Treibstoff, Waffen und Munition horteten und Schießübungen abhielten. Doch nicht alle Rechtsradikalen sind bereit, auf eine mögliche Krise in der Zukunft zu warten – sie wollen sie stattdessen selbst auslösen.

Umsturzfantasien

Offen systemfeindlich auftretenden Teilen der radikalen Rechten gilt der "Tag X" nicht als Katastrophenszenario, sondern als Zeitpunkt der Erneuerung des völkischen Mythos und einer vordemokratischen Gesellschaftsordnung. Im April 2018 führten Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen eine Gruppe sogenannter Reichsbürger zur Aufdeckung einer vermeintlichen "Reichsbürger-Armee", wie einige Medien berichteten. Das zuständige Thüringer Innenministerium teilte mit, das Ziel der Beschuldigten sei es gewesen, das System der Bundesrepublik durch eine "an die Struktur des deutschen Kaiserreiches angelehnte neue Ordnung" zu ersetzen. "In diesem Zusammenhang soll auch in Betracht gezogen worden sein, nötigenfalls Menschen zielgerichtet zu töten."

In dieser systemfeindlichen Lesart ist der "Tag X" der Zeitpunkt des Ausbruchs des offenen Kampfes gegen den demokratischen Verfassungsstaat und der Beginn der "nationalen Revolution". Der Umbruch sei demnach in erster Linie nicht das Ergebnis eines historisch-deterministischen Niedergangs liberaler Gesellschaften, sondern der Beginn eines durch eigenes Handeln ausgelösten Umsturzes. Dieses Verständnis ist insbesondere im Neonationalsozialismus verbreitet; in vielen Rechtsrockliedern und Neonazichatgruppen ist dieses Narrativ präsent. Derartige rechtsradikale Erlösungsfantasien gab es auch in der DDR: Der Journalist Siegbert Schefke zitiert aus einem im Herbst 1987 geführten Interview, in dem ein ostdeutscher Rechtsradikaler in die Kamera sagte: "Hitler ist mein Vorbild. Wir warten nur drauf, losschlagen zu können."

Den Soundtrack für die Umsturzfantasien des militanten Neonazismus liefern Rechtsrockbands aus dem Milieu des verbotenen "Blood and Honour"-Netzwerkes mit seinem terroraffinen Arm "Combat 18" (C18, "Kampfgruppe Adolf Hitler"). Immer wieder werden in Liedern wie "Tag der Abrechnung", "Tag der Rache" oder "Wendezeit" Aufstandsszenarien behandelt. Im Lied "Tag X" zitiert die Rechtsrockband "Skalinger" gar aus einer Rede von Hitler an die deutsche Jugend: "Und ihr werdet neben mir stehen, wenn diese Stunde jemals kommen sollte, ihr werdet vor mir, neben und seiten und hinter mir stehen. Und wir werden in unserem Zeichen wieder siegen." Der "Tag X" wird hier definiert als der Tag der Auferstehung des Nationalsozialismus.

Die Terroranleitungen in rechter Hassmusik sind bisweilen sehr konkret. Im Frühjahr 2019, wenige Monate bevor Walter Lübcke im Juni auf der Terrasse seines Hauses aus nächster Nähe erschossen wurde, veröffentlichte die Schweizer Band "Erschießungskommando" das Lied "C18", in dem es heißt: "Wenn es dunkel wird im Land bleibt der Killer unerkannt, er schleicht sich lautlos an das Haus (…) bald da wird ein Leben enden in den eigenen vier Wänden. Das Opfer ahnt nicht sein Bestreben, es wird keine Rettung geben. Kühl im Kopf, handelt besonnen, kein Opfer ist ihm je entkommen. Weißer Stolz, weiße Kraft, ein Mann der keine Fehler macht, der Totenkopf am schwarzen Hemd, Schnellfeuerwaffen schallgedämpft. C18! Heil Combat 18!" Die im Mordfall Lübcke dringend Tatverdächtigen haben Verbindungen zu "Combat 18".

Dieses Beispiel verdeutlicht besonders drastisch, dass rechtsterroristische Anschläge nicht im luftleeren Raum geschehen, sondern Ausdruck und Ergebnis gewaltbefördernder Subkulturen sind – im Rechtsrock und im Internet, wo der geständige Attentäter aus Halle seine Bezugsgruppen hatte. Letztlich braucht es zur Eskalation nur wenige Personen oder eine*n allein handelnde*n Terrorist*in, die*der solche Zeilen als Handlungsanweisung begreift.

Gefahrenpotenzial

Dass auch ein gesellschaftliches Umfeld rechtsradikale Gewalt begünstigen kann, zeigten die Ereignisse im Sommer 2018 in Chemnitz: Nach dem gewaltsamen Tod eines jungen Mannes durch Asylsuchende kam es zu rechtsradikalen Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. AfD-Politiker*innen demonstrierten gemeinsam mit Neonazis und Hooligans. Unter den Demonstrant*innen war auch eine Gruppe, gegen die die Bundesanwaltschaft später wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung Anklage erhob. Der Anklageschrift folgend soll die rechtsradikale "Revolution Chemnitz" beabsichtigt haben, mit terroristischen Aktivitäten den 3. Oktober 2018 zu einem "historischen Tag" und einem "Wendepunkt der Geschichte" zu machen, der "das Regime stürzen" und einen "Systemwechsel" bringen sollte.

"Ob die Angeklagten die Möglichkeit hatten, das Staatssystem der Bundesrepublik grundlegend zu verändern, darf sicher ernsthaft bezweifelt werden" – so kommentierte eine Sprecherin des Oberlandesgerichtes Dresden die Entscheidung, die unter Terrorverdacht stehende Gruppe nicht mit der Eigenbezeichnung zu benennen. Stattdessen nutzt der Staatsschutzsenat die harmlosere Bezeichnung "Chemnitzer Gruppe".

In der Tat ist ein gewaltsamer, revolutionärer Umsturz der freiheitlich-demokratischen Ordnung selbst durch schwerwiegende rechtsterroristische Anschläge nicht zu erwarten – trotz des massiven und situativ aktivierbaren Gewaltpotenzials im rechtsradikalen Milieu. Der Verfassungsschutzbericht 2018 weist 12700 gewaltbereite Rechtsextremist*innen aus, und die Landeskriminalämter sprachen im Oktober 2019 von 43 sogenannten Gefährder*innen im Rechtsradikalismus – also Personen, denen terroristische Anschläge zugetraut werden. Jedoch ist umstritten, wie diese Statistiken erstellt werden und ob nicht insbesondere die Angabe der Gefährder erheblich zu klein ist – zumal die Behörden 690 islamistische Gefährder zählen. Weder der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke noch der Attentäter aus Halle galten als Gefährder.

Demokratien sterben, wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt überzeugend darlegen, heute nicht mehr durch einen gewaltförmigen Putsch, sondern durch schleichendes Erodieren demokratischen Engagements und demokratischer Werte. Hierzu tragen unterschiedliche Faktoren und Phänomene bei: unter anderem eine Aura der Gewalt, die nicht allein durch terroristische Gewalt, sondern schon durch Hassbotschaften und Drohungen im Netz entsteht, die Einschüchterung von zivilgesellschaftlich und (kommunal)politisch Aktiven, der Vertrauensverlust in den Staat, aber auch gesellschaftliche und staatliche Überreaktionen auf terroristische Gefahren. Besonders fatal wirken dementsprechend 1) ideologische und strukturelle Überschneidungen des militanten zum parlamentarischen Rechtsradikalismus, 2) rechtsradikale Verstrickungen in Sicherheitsbehörden, 3) der verbreitete Eindruck, dass der Staat nicht entschieden genug gegen radikale Rechte vorgeht, 4) mangelnde gesellschaftliche Solidarität für Betroffene rechter Gewalt und 5) die sachfremde Vereinnahmung von Anschlägen für ein Ausufern autoritärer sicherheitspolitischer Befugnisse auf Kosten von allgemeinen Bürgerrechten (zum Beispiel Vorratsdatenspeicherung).

Rechtsterrorismus erreicht seine Wirkung – selbst wenn er den Staat offensiv angreift – vor allem durch gewaltförmige "Botschaften" an gesellschaftliche, meist marginalisierte Gruppen. Deren Einschüchterung und Vertreibung ersetzen nicht die Verfassungsnormen, doch sie befördern eine abweichende Verfassungsrealität, in der die prinzipielle Gleichwertigkeit und Menschenwürde angreifbar sind und die Verfassungsordnung vulnerabel erscheint. Für das demokratische System ist daher die beabsichtigte mittelbare Wirkung von Terrorismus in allen Phänomenbereichen stets eine größere Gefahr als die unmittelbaren Folgen der Anschläge selbst.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Matthias Quent, Selbstjustiz im Namen des Volkes. Vigilantistischer Terrorismus, in: APuZ 24–25/2016, S. 20–26.

  2. Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2018, Berlin 2019, S. 24ff., S. 51; BMI, Verfassungsschutzbericht 2014, Berlin 2015, S. 27.

  3. Vgl. Michael Stempfle, Die rechte Szene rüstet auf, 28.9.2019, Externer Link: http://www.tagesschau.de/inland/rechte-szene-101.html.

  4. Vgl. Matthias Quent, Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können, München 2019.

  5. Vgl. Gideon Botsch/Christoph Kopke, "Umvolkung" und "Volkstod". Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia, Ulm 2019.

  6. Vgl. Quent (Anm. 1).

  7. Vgl. Frances L. Flannery, Understanding Apocalyptic Terrorism, London–New York 2016, S. 50.

  8. Vgl. Quent (Anm. 4)., S. 189ff.

  9. Vgl. Flannery (Anm. 7), S. 52; William McCants, The ISIS Apocalypse, New York 2015.

  10. Vgl. Matthias Quent, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät, Weinheim 20192.

  11. Vgl. Christoph Kopke et al., Feindbild Polizei, Potsdam 2013; Matthias Quent/Jan Rathje, Von den Turner Diaries über Breivik bis zum NSU: Antisemitismus und rechter Terrorismus, in: Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitismus seit 9/11, Baden-Baden 2019 S. 165–178.

  12. Vgl. Southern Poverty Law Center, Atomwaffen Division, 2019, Externer Link: http://www.splcenter.org/fighting-hate/extremist-files/group/atomwaffen-division.

  13. Vgl. Robert Jay Lifton, Destroying the World to Save It, New York 2000, S. 247ff.; Quent (Anm. 4), S. 213f.

  14. Vgl. Jeffrey Kaplan, America’s Apocalyptic Literature of the Radical Right, in: International Sociology 4/2018, S. 503–522, hier S. 503ff.

  15. Vgl. Fritz Stern, Kulturpessimismus als Politische Gefahr, Stuttgart 20182; Quent (Anm. 4).

  16. Robert Owen Paxton, Anatomie des Faschismus, München 2006, S. 301.

  17. Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Frankfurt/M. 2017, S. 348.

  18. Gideon Botsch, "Politische Zukunft" im bundesdeutschen radikalen Nationalismus und der extremen Rechten, 1949 bis 1989, in: Lucian Hölscher et al. (Hrsg.), Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2020 (i.E.).

  19. Vgl. FBI, Project Megiddo, Washington, D.C. 1999.

  20. Vgl. Martin Kaul et al., Hannibals Schattenarmee, 16.11.2018, Externer Link: http://www.taz.de/!5548926.

  21. Vgl. Fabian Klaus, "Reichsbürger-Armee" von Thüringen aus aufgespürt, 10.4.2018, Externer Link: http://www.thueringer-allgemeine.de/id224033725.html.

  22. Thüringer Landtag, Kleine Anfrage der Abgeordneten Henfling (Bündnis 90/die Grünen) und Antwort des Thüringer Ministeriums für Inneres und Kommunales, Eine Armee von Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern, Drucksache 6/5869, 28.6.2018, Externer Link: http://parldok.thueringen.de/ParlDok/vorgang/36377, S. 2.

  23. Siegbert Schefke, Als die Angst die Seite wechselte. Die Macht der verbotenen Bilder, Berlin 2019.

  24. Vgl. Maik Baumgärtner et al., Das rechte Netzwerk von Kassel, 26.6.2019, Externer Link: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/a-1274255.html.

  25. Zit. nach Deutsche Presseagentur, Rechte vor Gericht, 29.9.2019, Externer Link: http://www.giessener-allgemeine.de/politik/rechte-gericht-13052156.html.

  26. Vgl. Frank Jansen, BKA geht von deutlich mehr Gefährdern aus, 15.10.2019, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/politik/terrorgefahr-durch-neonazis-bka-geht-von-deutlich-mehr-gefaehrdern-aus/25116880.html.

  27. Vgl. Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben: Und was wir dagegen tun können, Stuttgart 2018.

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ist promovierter Soziologe und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft der Amadeu Antonio Stiftung in Jena. E-Mail Link: matthias.quent@idz-jena.de