Szenebeobachter*innen, Wissenschaftler*innen und Sicherheitsbehörden sind sich einig: Die Gefährdungslage durch rechtsterroristische Anschläge mit verschiedenen möglichen Zielen und aus verschiedenen Täterspektren ist sehr hoch. Schwerste Gewaltstraftaten von allein handelnden Attentäter*innen, von Kleinstgruppen oder aus Netzwerken hinaus sind sowohl aus dem neonazistischen Milieu als auch aus dem internationalen Milieu der sogenannten Neuen Rechten möglich. Potenzielle Ziele sind vor allem antisemitisch und rassistisch markierte Personen und Einrichtungen, politische Gegner*innen sowie Repräsentant*innen des Staates.
Rassistische Gewalttaten und Anschläge, insbesondere gegen geflüchtete Menschen und solche, die als Muslime markiert werden, haben in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren massiv zugenommen. Im Zuge der Asyldiskussion seit 2014, in deren Verlauf sich nicht nur rechte Gewalttäter*innen, sondern auch Teile der Bevölkerung politisch an der für die radikale und populistische Rechte zentralen Einwanderungsfrage radikalisierten, ist in deren Milieus zunehmend der Eindruck entstanden, dass der Staat, der Zuwanderung nicht rigoros verhindere, in die Hände der Feinde gefallen sei und daher bekämpft werden müsse ("Vigilantismus").
Im Folgenden werden unter anderem die Fragen diskutiert, wie dieses Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus in Deutschland einzuschätzen ist und welche Motive und politischen Ziele hinter den entsprechenden Plänen und Taten stehen. Hierfür werde ich zunächst auf einige ideologische Grundlagen sowie auf die Rolle der in rechtsradikalen Kreisen verbreiteten Vorstellung eines "Tag X" eingehen, der für einen teils gefürchteten, teils ersehnten unbestimmten Moment des Zusammenbruchs der verfassungsmäßigen Ordnung des demokratischen Rechtsstaats steht und einen tiefen apokalyptischen Kulturpessimismus offenbart.
Rechtsradikaler Kulturpessimismus
In den Augen vieler Rechtsradikaler sind die unter anderem mit der Globalisierung einhergehenden Modernisierungs- und Liberalisierungsprozesse Zeichen und Beschleuniger eines gesellschaftlichen Niederganges.
Mit diesem Endzeitglauben knüpfen Rechtsradikalismus und Rechtsterrorismus teilweise an christliche Eschatologie und christlichen Antijudaismus an: Zur Geschichte apokalyptischer Szenarien im Christentum zählen die in den Kreuzzügen realisierte Idee der von Menschen geführten Heiligen Kriege sowie die Legenden vom Antichristen und von den apokalyptischen Völkern Gog und Magog, die als Juden und Muslime identifiziert werden. In der Selbstinszenierung, Bildsprache und Weltanschauung radikal rechter Aktivist*innen und Terrorist*innen lebt dieser christlich geprägte Chiliasmus und Antisemitismus bis heute fort. Im mittelalterlichen Christentum war die Ansicht verbreitet, Juden seien für die Ermordung von Jesus verantwortlich, womit die Tötung unzähliger Jüdinnen und Juden während der Kreuzzüge gerechtfertigt wurde.
Für einige radikale Apokalyptiker*innen hat das Mittelalter offenbar nie aufgehört: Dies zeigt sich insbesondere am Fall des norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik, der 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete.
Als Ursprünge für den behaupteten "Kulturmarxismus" benennen Rechtsradikale häufig die jüdischen Intellektuellen der Frankfurter Schule und die von der Kritischen Theorie beeinflusste Bewegung der 1968er.
Rassismus und Akzelerationismus
Im Vorfeld der Gedenkveranstaltung zum 15. Jahrestag des Nagelbombenanschlages durch den rechtsterroristischen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) in der Kölner Keupstraße
Die "Atomwaffen Division" tauchte zuerst 2015 in den USA auf. Nach Einschätzung des US-amerikanischen Southern Poverty Law Center handelt es sich dabei um ein schwer bewaffnetes Neonazinetzwerk mit etwa 80 Mitgliedern in dezentralen Zellen aus je drei bis vier Personen.
Die Auslösung eines Bürgerkriegs zwischen ethnischen Gruppen ist auch eines der zentralen Motive der im globalen Rechtsradikalismus einflussreichen apokalyptischen Bücher "The Turner Diaries" (1978) und "Hunter" (1989) von William L. Pierce, auf die sich verschiedene Neonazigruppen und Rechtsterrorist*innen beziehen. Beispiele hierfür sind unter anderem Timothy McVeigh, der 1995 mit zwei Komplizen einen Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City verübte und dabei 168 Menschen tötete, Anders Behring Breivik sowie Brenton Tarrant, der im März 2019 in Christchurch 51 Muslime erschoss. Auch die rechtsextremistischen Gruppierungen "Oldschool Society" und "Revolution Chemnitz" zielen auf eine Steigerung ethnischer Spannungen, um einen Bürgerkrieg herbeizuführen.
Vorbereitung auf den "Tag X"
Für einige Rechtsradikale ist der Rückzug in kleine Enklaven, in denen sich die "weiße Rasse" vor der bevorstehenden Apokalypse schützen kann, die Antwort auf die von ihnen wahrgenommene Bedrohung.
Das apokalyptische "Tag X"-Narrativ ist nicht neu – es taucht immer wieder in rechtsradikalen und neonazistischen Publikationen und Äußerungen auf. Rassistischer Kulturpessimismus prägte schon in den Jahrzehnten vor dem Nationalsozialismus das Weltbild der Anhängerschaft der sogenannten Konservativen Revolution, die den Nationalsozialisten den Weg bereitete und die Neue Rechte noch heute maßgeblich beeinflusst.
Fachleute und Sicherheitsbehörden stehen vor der Herausforderung, Äußerungen in Bezug auf den "Tag X" im Kontext milieuspezifischer Sprachcodes und Weltanschauungen einzuordnen – und zu differenzieren, wo es sich um apokalyptischen Verbalradikalismus und wo um konkrete Gewaltvorbereitungen handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur Rechtsradikale sich operativ und ideell auf einen "Tag X" vorbereiten. Sogenannte Prepper (von engl. prepare: vorbereiten) gehen von einer künftigen Katastrophe oder Krise aus, auf die sie sich mit unterschiedlichen Maßnahmen vorbereiten: Wasseraufbereitung, Anlegen von Vorräten und Depots, aber auch Selbstverteidigung und Bewaffnung. In den USA und in Europa verbreitet sich das Prepping verstärkt seit der Finanzmarktkrise 2007, doch bereits zum Jahrtausendwechsel beschäftigte die radikale Apokalyptik die US-Behörden.
Im Fall der Gruppe "Nordkreuz" mit ihren von der "Tageszeitung" (taz) aufgedeckten Kontakten in Sicherheitsbehörden des "Hannibal"-Netzwerks etwa ist der Übergang zwischen Vigilant*innen, Prepper*innen und rechtsradikalen Umsturzplänen fließend. Unter anderem werden ein Rechtsanwalt und ein Kriminaloberkommissar der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten beschuldigt. Sie sollen geplant haben, an einem "Tag X" Politiker*innen und linke Aktivist*innen festzusetzen und zu töten. Nach Informationen der taz gehörten sie zu einer Gruppe von rund 30 Personen, die sich auf Katastrophen und eine "Invasion" von Geflüchteten vorbereiteten und dazu auch Treibstoff, Waffen und Munition horteten und Schießübungen abhielten.
Umsturzfantasien
Offen systemfeindlich auftretenden Teilen der radikalen Rechten gilt der "Tag X" nicht als Katastrophenszenario, sondern als Zeitpunkt der Erneuerung des völkischen Mythos und einer vordemokratischen Gesellschaftsordnung. Im April 2018 führten Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen eine Gruppe sogenannter Reichsbürger zur Aufdeckung einer vermeintlichen "Reichsbürger-Armee", wie einige Medien berichteten.
In dieser systemfeindlichen Lesart ist der "Tag X" der Zeitpunkt des Ausbruchs des offenen Kampfes gegen den demokratischen Verfassungsstaat und der Beginn der "nationalen Revolution". Der Umbruch sei demnach in erster Linie nicht das Ergebnis eines historisch-deterministischen Niedergangs liberaler Gesellschaften, sondern der Beginn eines durch eigenes Handeln ausgelösten Umsturzes. Dieses Verständnis ist insbesondere im Neonationalsozialismus verbreitet; in vielen Rechtsrockliedern und Neonazichatgruppen ist dieses Narrativ präsent. Derartige rechtsradikale Erlösungsfantasien gab es auch in der DDR: Der Journalist Siegbert Schefke zitiert aus einem im Herbst 1987 geführten Interview, in dem ein ostdeutscher Rechtsradikaler in die Kamera sagte: "Hitler ist mein Vorbild. Wir warten nur drauf, losschlagen zu können."
Den Soundtrack für die Umsturzfantasien des militanten Neonazismus liefern Rechtsrockbands aus dem Milieu des verbotenen "Blood and Honour"-Netzwerkes mit seinem terroraffinen Arm "Combat 18" (C18, "Kampfgruppe Adolf Hitler"). Immer wieder werden in Liedern wie "Tag der Abrechnung", "Tag der Rache" oder "Wendezeit" Aufstandsszenarien behandelt. Im Lied "Tag X" zitiert die Rechtsrockband "Skalinger" gar aus einer Rede von Hitler an die deutsche Jugend: "Und ihr werdet neben mir stehen, wenn diese Stunde jemals kommen sollte, ihr werdet vor mir, neben und seiten und hinter mir stehen. Und wir werden in unserem Zeichen wieder siegen." Der "Tag X" wird hier definiert als der Tag der Auferstehung des Nationalsozialismus.
Die Terroranleitungen in rechter Hassmusik sind bisweilen sehr konkret. Im Frühjahr 2019, wenige Monate bevor Walter Lübcke im Juni auf der Terrasse seines Hauses aus nächster Nähe erschossen wurde, veröffentlichte die Schweizer Band "Erschießungskommando" das Lied "C18", in dem es heißt: "Wenn es dunkel wird im Land bleibt der Killer unerkannt, er schleicht sich lautlos an das Haus (…) bald da wird ein Leben enden in den eigenen vier Wänden. Das Opfer ahnt nicht sein Bestreben, es wird keine Rettung geben. Kühl im Kopf, handelt besonnen, kein Opfer ist ihm je entkommen. Weißer Stolz, weiße Kraft, ein Mann der keine Fehler macht, der Totenkopf am schwarzen Hemd, Schnellfeuerwaffen schallgedämpft. C18! Heil Combat 18!" Die im Mordfall Lübcke dringend Tatverdächtigen haben Verbindungen zu "Combat 18".
Dieses Beispiel verdeutlicht besonders drastisch, dass rechtsterroristische Anschläge nicht im luftleeren Raum geschehen, sondern Ausdruck und Ergebnis gewaltbefördernder Subkulturen sind – im Rechtsrock und im Internet, wo der geständige Attentäter aus Halle seine Bezugsgruppen hatte. Letztlich braucht es zur Eskalation nur wenige Personen oder eine*n allein handelnde*n Terrorist*in, die*der solche Zeilen als Handlungsanweisung begreift.
Gefahrenpotenzial
Dass auch ein gesellschaftliches Umfeld rechtsradikale Gewalt begünstigen kann, zeigten die Ereignisse im Sommer 2018 in Chemnitz: Nach dem gewaltsamen Tod eines jungen Mannes durch Asylsuchende kam es zu rechtsradikalen Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. AfD-Politiker*innen demonstrierten gemeinsam mit Neonazis und Hooligans. Unter den Demonstrant*innen war auch eine Gruppe, gegen die die Bundesanwaltschaft später wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung Anklage erhob. Der Anklageschrift folgend soll die rechtsradikale "Revolution Chemnitz" beabsichtigt haben, mit terroristischen Aktivitäten den 3. Oktober 2018 zu einem "historischen Tag" und einem "Wendepunkt der Geschichte" zu machen, der "das Regime stürzen" und einen "Systemwechsel" bringen sollte.
"Ob die Angeklagten die Möglichkeit hatten, das Staatssystem der Bundesrepublik grundlegend zu verändern, darf sicher ernsthaft bezweifelt werden" – so kommentierte eine Sprecherin des Oberlandesgerichtes Dresden die Entscheidung, die unter Terrorverdacht stehende Gruppe nicht mit der Eigenbezeichnung zu benennen.
In der Tat ist ein gewaltsamer, revolutionärer Umsturz der freiheitlich-demokratischen Ordnung selbst durch schwerwiegende rechtsterroristische Anschläge nicht zu erwarten – trotz des massiven und situativ aktivierbaren Gewaltpotenzials im rechtsradikalen Milieu. Der Verfassungsschutzbericht 2018 weist 12700 gewaltbereite Rechtsextremist*innen aus, und die Landeskriminalämter sprachen im Oktober 2019 von 43 sogenannten Gefährder*innen im Rechtsradikalismus – also Personen, denen terroristische Anschläge zugetraut werden.
Demokratien sterben, wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt überzeugend darlegen, heute nicht mehr durch einen gewaltförmigen Putsch, sondern durch schleichendes Erodieren demokratischen Engagements und demokratischer Werte.
Rechtsterrorismus erreicht seine Wirkung – selbst wenn er den Staat offensiv angreift – vor allem durch gewaltförmige "Botschaften" an gesellschaftliche, meist marginalisierte Gruppen. Deren Einschüchterung und Vertreibung ersetzen nicht die Verfassungsnormen, doch sie befördern eine abweichende Verfassungsrealität, in der die prinzipielle Gleichwertigkeit und Menschenwürde angreifbar sind und die Verfassungsordnung vulnerabel erscheint. Für das demokratische System ist daher die beabsichtigte mittelbare Wirkung von Terrorismus in allen Phänomenbereichen stets eine größere Gefahr als die unmittelbaren Folgen der Anschläge selbst.