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Der Fall Dreyfus und die Folgen | Juden in Europa | bpb.de

Juden in Europa Editorial Die Einbürgerung der jüdischen Religion in Europa Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach 1945 Der Wiederaufbau jüdischen Lebens in Italien Der Fall Dreyfus und die Folgen Deutschsprachige Literatur und der Holocaust

Der Fall Dreyfus und die Folgen

Elke-Vera Kotowski

/ 17 Minuten zu lesen

Der Skandal um den zu Unrecht beschuldigten jüdischen Hauptmann Dreyfus löste eine Staatskrise in Frankreich aus. Die Affäre ist ein Lehrstück in Zivilcourage und bürgerlicher Mitbestimmung.

Einleitung

Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" - so untertitelte Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung, seinen 1902 verfassten utopischen Roman Altneuland, in dem er das Ideal einer künftigen "Heimstatt für Juden" darlegte. Es war kein Märchen, was sich Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich ereignete, jene Affäre um den französischen Hauptmann jüdischen Glaubens, Alfred Dreyfus, die Herzl dazu bewog, fortan sein Augenmerk auf die in Europa immer lauter artikulierte "Judenfrage" zu richten und diese durch einen "Judenstaat" (so auch der Titel seines politischen Hauptwerks, das er 1896 verfasste) zu lösen.



Herzl, als Korrespondent für die Wiener "Neue Freie Presse" seit 1891 in Paris tätig, war Augenzeuge und Berichterstatter jener folgenschweren Ereignisse, die einen Wendepunkt in Frankreich und in der Geschichte der Juden in Europa darstellte. L'Affaire, mit der nahezu jeder französische Bürger die nachhaltigste Gesellschaftskrise der Dritten Republik assoziiert, klingt bis heute nach und stellt einen Markstein im kollektiven Gedächtnis dar, der nicht allein in der Grande Nation, sondern in ganz Europa das gesellschaftliche wie politische Bewusstsein schärfte.

Der Fall Dreyfus

Beim Entleeren des Papierkorbs des Militärattachés Max von Schwartzkoppen in der deutschen Botschaft in Paris fischte eine Putzfrau, die für den französischen Geheimdienst tätig war, am 25. September 1894 ein Schriftstück heraus, das sie dem Nachrichtenbüro des Kriegsministeriums übergab. Dieses Dokument, das als bordereau (Ankündigungsschreiben, Lieferschein) in die Geschichte einging, listete geheime Informationen auf (beispielsweise "eine Aufzeichnung über die hydraulische Bremse des 120-mm-Geschützes und über die Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat"), die dem Adressaten in Aussicht gestellt wurden. Das bordereau war handschriftlich verfasst und wies keinen Verfasser auf. Allerdings konnte dieser nur im Generalstab in Paris zu finden sein, da die avisierten Informationen nur dort zugänglich waren.

Anhand einer fotografischen Kopie wurde im Büro des Generalstabs ein Handschriftenvergleich vorgenommen. Der Verdacht fiel schnell auf einen patriotischen und sehr ehrgeizigen jüdischen Artilleriehauptmann namens Alfred Dreyfus (1859 - 1935), der seit Januar 1893 eine zweijährige Schulung im Generalstab absolvierte und zurzeit in ein Pariser Infanterieregiment abkommandiert war. Er war verdächtig - so die einhellige Meinung im Generalstab -, weil er nicht nur Elsässer und somit quasi Deutscher, sondern auch Jude und damit als Verräter prädestiniert war. Am 14. Oktober 1894, einem Sonntag, liefen die Vorbereitung für die Verhaftung Dreyfus' auf Hochtouren. Der Kriegsminister, Divisionsgeneral Auguste Mercier, ernannte Major Armand du Paty de Clam zum Officier de police judiciare und beauftragte ihn mit Voruntersuchungen, derweil bereits Dreyfus' Haftbefehl unterzeichnet wurde. Unter einem Vorwand wurde Dreyfus am 15. Oktober zum Generalstab zitiert und dort aufgefordert, ihm vorgetragene Sätze per Hand niederzuschreiben. Es handelte sich um Worte und Satzteile aus dem bordereau. Obwohl einige Tage zuvor ein Handschriftensachverständiger es abgelehnt hatte, Dreyfus als Verfasser des bordereau zu bestätigen, bot den Offizieren des Nachrichtenbüros eine oberflächliche Ähnlichkeit in der Handschrift den hinreichenden Beweis dafür, dass Dreyfus der Urheber des Schriftstücks und somit Vaterlandsverräter war. Dreyfus wurde abgeführt und noch am selben Tag für unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft genommen.

Du Paty de Clam schloss bereits nach 14 Tagen die Voruntersuchungen ab, wobei unterschiedlichste "Beweisstücke" zusammengestellt wurden, "um die einmal gelegte Fährte zu verstärken". Am 31. Oktober gab die Presseagentur Agence Havas bekannt, dass ein Offizier wegen Verdachts auf Hochverrat verhaftet worden sei. Einen Tag später benannte die antisemitische Zeitung "La Libre Parole" den "Juden" Dreyfus als Schuldigen. Am 3. November 1894 erhob die Militärjustiz Anklage gegen Dreyfus; der Prozess vor dem Kriegsgericht wurde am 19. Dezember eröffnet. Bereits nach drei Kalendertagen erfolgte der einstimmige Schuldspruch. Der damals 35-jährige Ehemann und Vater von zwei Kindern wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen und zu lebenslänglicher Verbannung auf der dem südamerikanischen Französisch-Guayana vorgelagerten Teufelsinsel (Ile du Diable) verurteilt.

Wenige Tage, bevor der Prozess vor dem Kriegsgericht begann, formulierte von Schwartzkoppen - in Unkenntnis der Tatsache, dass das bordereau aus seinem Papierkorb als einziges wirkliches Beweismaterial für Dreyfus' Schuld diente - seine Einschätzung über den "Fall Dreyfus" und schickte diese per Brief, datiert am 14. Dezember 1894, nach Berlin: "Ueber die Angelegenheit Dreyfuß herrscht fortgesetzt vollkommenes Dunkel. Es ist bisher noch nicht festgestellt, welches der Inhalt des Schriftstückes ist, von welchem behauptet wird, daß Dreyfuß es einem ausländischen Militär-Attaché oder Agenten gegeben habe. (...) Es gewinnt immer mehr den Anschein, als ob die ganze Angelegenheit schließlich mit einer Freisprechung von Dreyfuß endigen wird, wodurch natürlich die schon so sehr untergebene Stellung des Kriegsministers wie auch diejenigen d. Chefs des Generalstabes nicht nur sehr leiden würden, sondern diejenige des Ersteren absolut unhaltbar wird. (...) Diese Parteinahme seitens der niedrigsten Presse für den Kriegsminister kann nur dazu beitragen, den Sturz des Letzteren zu beschleunigen, der auch ohne die Dreyfuß Affaire längst beschlossene Sache war."

Die Folgen

Wie von Schwartzkoppen bereits andeutete, war das Kriegsministerium bemüht, den Fall möglichst schnell abzuschließen und wenig an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Und doch wurden gezielte (wenn auch fingierte, wie sich später herausstellen sollte) Informationen an die Presse gegeben, die sich sogleich auf den Fall stürzte. Ob liberale oder konservative Zeitungen, die verbalen Flammenwerfer richteten sich - ungeachtet des Wahrheitsgehaltes der Anschuldigungen - auf den "Juden Dreyfus". Mit Hilfe der neuen drucktechnischen Möglichkeiten prangten großformatige Karikaturen des vermeintlichen Agenten des Erbfeindes Deutschland auf den Titelseiten der Gazetten. Galt Kriegsminister Mercier gestern noch als Versager, dessen Rücktritt gefordert wurde, so war er nun der Volksheld und Heros der Armee, der mit dem Verräter kurzen Prozess machte.

Was die antisemitischen Attitüden der Berichterstattung anbelangte, so nahm die rechte wie auch die linke Presse kein Blatt vor den Mund. Der Spionagevorwurf gegenüber einem jüdischen Offizier, der zudem noch aus dem Elsass stammte, das nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg (1870/71) von Deutschland annektiert worden war, erhielt Katalysatorfunktion für alle Unzufriedenen und zu kurz Gekommenen in der französischen Gesellschaft. Dreyfus diente als klassischer Sündenbock. Für viele Katholiken galt er als Inkarnation des Christusmörders, für nicht wenige Sozialisten symbolisierte er das jüdische Großkapital à la Rothschild samt Weltverschwörungsambitionen. Für die Revisionisten war er der Inbegriff für die negativen Auswüchse der Republik samt ihrer falsch verstandenen Toleranz und ihres destruktiven demokratischen Gleichheitsideals. Im Militär, das in weiten Teilen noch immer vom verlorenen Krieg traumatisiert war und das sich auf Offiziersebene mehrheitlich aus der Aristokratie rekrutierte, klang zudem ein antisemitischer Grundton an: Vorbehalte, welche die militärische Führung bei der Besetzung höherer Offiziersposten durch Juden hegte.

Einer der schärfsten Anheizer antijüdischer Ressentiments war Edouard Drumont, der bereits mit seiner Schrift La France juive 1886 (die deutsche Ausgabe erschien im selben Jahr unter dem Titel Das verjudete Frankreich) eine Wende in der öffentlichen Meinung Frankreichs herbeigeführt hatte. La France juive wurde so etwas wie die Bibel der Antisemiten. Im Erscheinungsjahr wurden bereits 100 000 Exemplare des Pamphlets verkauft, und es erfuhr bis 1914 mehr als 200 Neuauflagen. Drumont, der 1889 die Antisemitenliga gegründet hatte, verstärkte die antijüdische Propaganda, als er ab 1892 seine eigene Zeitung "La Libre Parole" herausgab, in der er unter die Titel "Die freie Rede" mächtig vom antisemitischen Leder zog. Kurz nach Gründung der "La Libre Parole" berichtete Theodor Herzl in einem Artikel für die "Neue Freie Presse" aus Paris über den offenen Antisemitismus Drumonts. Unter der Überschrift "Französische Antisemiten" heißt es: "Die Juden eignen sich von alters her vortrefflich dazu, für Fehler und Mißbräuche der Regierung, für Unbehagen und Elend Regierter, für Pest, Misswachs, Hungersnot, öffentliche Korruption und Verarmung verantwortlich gemacht zu werden."

In seinem antisemitischen Propagandablatt war Drumont selbst in Karikaturen zu sehen, so auch in der Ausgabe vom 10. November 1894, in der sein übermächtiges Konterfei den Verräter Dreyfus - ausgestattet mit einer vermeintlich jüdischen Physiognomie und dem häufig wiederkehrenden Attribut der deutschen Pickelhaube - mit der Kneifzange zu entsorgen gedachte (vgl. Abbildung der PDF-Version). Mit derartigen Karikaturen, die auch in vielen anderen, durchaus gemäßigteren Zeitungen erschienen, wurde die Volksseele angeheizt. Als am 5. Januar 1895 der verurteilte Dreyfus die erniedrigende Prozedur der öffentlichen Degradierung über sich ergehen lassen musste, säumten 20 000 Schaulustige den Zaun der École Militaire oder kletterten auf die umliegenden Bäume und skandierten: "Tod dem Verräter! - Tod dem Juden!"

Bei Herzl, der dieser Entwürdigung beiwohnte, hinterließ das Ereignis nachhaltigen Eindruck: "Um neun Uhr war der Riesenhof mit Truppenabteilungen, die ein Karree bildeten, gefüllt. Fünftausend Mann waren ausgerückt. In der Mitte hielt ein General zu Pferde. Einige Minuten nach neun wurde Dreyfus herausgeführt. (...) Vier Mann führten ihn vor den General. Dieser sagte: Alfred Dreyfus, Sie sind unwürdig, die Waffe zu tragen. Im Namen des französischen Volkes degradiere ich Sie. Man vollziehe das Urtheil. Da erhob Dreyfus die rechte Hand und rief: Ich schwöre und erkläre, dass Sie einen Unschuldigen degradieren. Es lebe Frankreich!" Weiter heißt es: "Ich sehe den Angeklagten noch in seiner dunklen, verschnürten Artilleristenuniform (...). Und auch der Wutschrei der Menge auf der Straße gellt mir noch unvergesslich in den Ohren: à mort! À mort les juifs! Tod allen Juden..."

Herzl, der 1897 den ersten Zionistenkongress in Basel einberufen hatte, erkannte spätestens nach dem Revisionsprozess 1899 und der erneuten Verurteilung Dreyfus', dass es hier nicht um die Verurteilung eines x-beliebigen Offiziers, sondern um die Schuldzuweisung gegenüber einem "Juden" ging. 1899 bekannte er in der "North American Review": "Zum Zionisten hat mich der Prozeß Dreyfus gemacht." Er sah ein Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Europa "auf der Basis gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Duldung" künftig als unmöglich an und beurteilte die bisherigen Versuche der Juden um Emanzipation und Integration als vergeblich. Denn wenn schon in Frankreich, dem Land der Menschenrechte und dem revolutionären Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Gleichstellung gescheitert war, wo sonst in Europa sollte sie glücken?

Zwischen 1895 und 1899 hatte die Familie Dreyfus nichts unversucht gelassen, die Unschuld des Gatten und Bruders, der auf der Teufelsinsel unter menschenunwürdigen Bedingungen in Arrest saß, zu beweisen. Seine Frau Lucie trat an die Öffentlichkeit, um ein Revisionsverfahren zu erwirken. Um ihrem Ersuchen Nachdruck zu verleihen, offenbarte sie das Kostbarste und zugleich Intimste, was ihr von ihrem Mann geblieben war: die sporadisch eintreffenden Briefe von der Teufelsinsel, wohin sie ihm sogar folgen wollte, was man ihr jedoch nicht gestattete. Diese nicht selten deprimierenden Briefe eines stets seine Unschuld beteuernden und dennoch dem Vaterland und dem Militär tief verbundenen Patrioten zeigten keinen Verräter, sondern einen verzweifelten Menschen, dem großes Unrecht widerfahren war. Sein älterer Bruder Mathieu setzte sich ebenso vehement für Dreyfus' Freilassung ein. Er erhielt Unterstützung von einflussreichen Sympathisanten, die ihm entlastendes Beweismaterial zuspielten. Um den Fall Dreyfus wieder ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, ließ er sogar eine fingierte Meldung über die Flucht seines Bruders von der Teufelsinsel in der Presse streuen.

Derweil regten sich auch innerhalb des Militärs Stimmen, die an der Schuld Dreyfus zweifelten, allen voran die des seit dem 1. Juli 1895 das Nachrichtenbüro leitende Majors Georges Picquart. Dessen Recherchen zeigten im August 1896, dass Marie-Charles-Ferdinand Walsin-Esterhazy, Major im 74. Infanterieregiment, eindeutig der Verfasser des bordereaus sein musste. Picquart unterrichtete den stellvertretenden Generalstabschef Charles-Arthur Gonse über seine Entdeckung, woraufhin er bald seines Amtes verlustig ging und Anklage gegen ihn erhoben wurde. Im Januar 1897 wurde Picquart in ein algerisches Schützenregiment abkommandiert, um ihn dort mundtot zu machen. Allerdings verfasste er eine Denkschrift über den Fall, der sich mittlerweile eher auf Esterhazy denn auf Dreyfus fokussierte, und ließ sie über seinen Anwalt an den Präsidenten der Republik, Félix Faure, und Senator Gustave Scheuerer-Kestner übermitteln. Damit gewährleistete er - sich der Konsequenzen für die eigene Person gewiss -, dass seinen Anschuldigungen gegenüber Esterhazy und somit seine Überzeugung, dass Dreyfus unschuldig sei, in die Öffentlichkeit gelangten. Im Generalstab wurden Anstrengungen unternommen, den Nestbeschmutzer Picquart zu diskreditieren, wobei man auch hier gefälschtes Beweismaterial anfertigen ließ. Etwa zur selben Zeit identifizierte ein Pariser Bankier die Handschrift Esterhazys als identisch mit der des bordereau, woraufhin Mathieu Dreyfus Strafanzeige gegen ihn stellte. Am 4. Dezember 1897 begann der Prozess gegen Esterhazy. Drei Schriftsachverständige erklärten jedoch - nachdem ihnen ein sehr großzügiges Honorar in Aussicht gestellt wurde -, dass Esterhazy nicht der Verfasser des bordereau sei. Das Verfahren vor dem Kriegsgericht wurde am 11. Januar 1898 eingestellt.

J'Accuse!

Am 13. Januar 1898 veröffentlichte George Clemenceau, Herausgeber der Zeitung "L'Aurore", einen Offenen Brief an den Präsidenten der Republik, verfasst vom bekanntesten lebenden französischen Schriftsteller, Émile Zola. In großen Lettern war ihm die Überschrift "J'Accuse...!" ("Ich klage an...!) vorangestellt. Während Clemenceau 1894 noch die zu milde Strafe für den Hochverrat Dreyfus' beklagt hatte, stand er nunmehr an vorderster Front der Dreyfusards und hatte Zola davon überzeugen können, öffentlich für den Unschuldigen Partei zu ergreifen. Bereits zuvor war Zola durch viele Gespräche und die Überzeugungsversuche des Vizepräsidenten des französischen Senats, Scheurer-Kestner, dazu aufgefordert worden, Stellung zu beziehen. Der Freispruch Esterhazys zwei Tage zuvor gab den Ausschlag für seine über Nacht verfassten Zeilen. In seiner Anklageschrift stellte er - mit nicht minderer öffentlichen Wirkung als einst Luther mit seinen 95 Thesen - die Staatsräson samt des korrupten Militärapparats und deren Helfershelfer an den Pranger. Er nannte alle Beteiligten beim Namen, im Wissen darum, dass er nun selbst mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hatte. Die Reaktionen auf die Anklageschrift waren ebenso lautstark wie konträr. Einerseits setzte eine Flut von Solidaritätsbekundungen ein, andererseits formierte sich ein durch konservative Kreise und die Kirche aufgehetzter Mob.

Spätestens jetzt wurde offensichtlich, dass sich in Frankreich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstanden, das der Dreyfusards, die sich aus linken Intellektuellen, liberalen Journalisten und Juristen rekrutierten und von der Unschuld des jüdischen Hauptmann überzeugt waren, sowie das der Anti-Dreyfusards, deren Wortführer aus dem konservativen Lager, dem Militär, dem Klerus und der Antisemitenliga stammten: "Die Ideologie der Anti-Drefusards bewegte sich schnell in Richtung Nationalismus, der oftmals mit Antisemitismus einhergeht. Diesem autoritären Nationalismus, der intellektuellenfeindlich, anti-individualistisch, antiprotestantisch, antiparlamentarisch, xenophob und militaristisch war, ging es darum, den Niedergang der Nation aufzuhalten, indem er sie an die Institutionen der Armee und der Kirche in einem starken Staat aufrichtete, die sich auf traditionelle Werte stützte. Ordnung, Autorität und Vaterland waren zentrale Begriffe dieses Wertesystems, das seine Verfechter wiederherstellen wollten. Die Protestanten, Juden, Freimaurer und Fremden gefährdeten die nationale Gemeinschaft der rechtschaffenden Leute, dieser Verlierer des Fortschritts, aus denen die Mehrheit des Fußvolkes der Anti-Dreyfus-Bewegung bestand."

In den Archivalien des Auswärtigen Amtes findet sich eine Stellungnahme zu Zolas J'Accuse!, die seinen Adressaten jedoch nie erreichte. Es handelt sich um eine Notiz des deutschen Kaisers Wilhelm II., die er nach der Lektüre des Offenen Briefes verfasst hatte. Sie lautete: "Bravo Zola!" In der zeitgenössischen Presse des In- und Auslands finden sich zahlreiche Kommentare und auch Karikaturen, die Zola sowohl als Helden der Vernunft und der Gerechtigkeit als auch despektierlich als Nestbeschmutzer der Grande Nation darstellen. Wie von Zola erwartet, wurde kurz nach Erscheinen seines Offenen Briefes gegen ihn eine Verleumdungsklage erhoben, die mit der Höchststrafe (ein Jahr Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe) geahndet wurde. Obwohl das Gericht zu verhindern suchte, den Fall Dreyfus zum Gegenstand der Verhandlung zu machen, missglückt dies. Auf der Anklagebank wiederholt Zola seine Überzeugung: "Dreyfus ist unschuldig, das schwöre ich. Ich schwöre es bei meinem Leben, bei meiner Ehre (...)." Es folgten Tumulte und Straßenschlachten. In Algerien kam es zu pogromartigen Aufständen, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden. Max Régis, der Bürgermeister Algiers und Präsident der antijüdischen Liga, schickte unter Rufen wie "Es lebe die Armee! Nieder mit den Juden!" seine Anhänger in das Jüdische Viertel der Stadt. Auf Anraten seines Anwalts und seiner Freunde entzog sich Zola der Haftstrafe, indem er Frankreich noch am Abend der Urteilsverkündung verließ und in London und anschließend in einem Dorf in der Grafschaft Surrey Quartier nahm.

Dank Zolas Solidaritätserklärung und der sich wenige Wochen danach aus dem Lager der Dreyfusards gegründeten Liga für Menschenrechte (Ligue française pour la défense des droits de l'homme et du citoyen), die entschlossen für Dreyfus eintrat, wurde der Fall nun zu einer nationalen Affäre, die weltweit verfolgt wurde. Nach langjährigen Versuchen Lucie Dreyfus', ein Revisionsverfahren für ihren Mann zu erwirken, wurde diesem nun stattgegeben. Ende des gleichen Jahres gründete sich seitens der Anti-Dreyfusards die Ligue de la patrie française, die gegen die Revision mobil machte und in kürzester Zeit bereits 500 000 Mitglieder zählte. Derweil hatte Esterhazy öffentlich bekannt gegeben, Urheber des bordereau zu sein bzw. auf Befehl seines Vorgesetzten, Oberst Jean Sandherr, dieses verfasst zu haben.

Am 9. Juni 1899 verlies Dreyfus die Teufelsinsel an Bord der "Sfax" in Richtung Frankreich, wo er am 30. Juni 1899 in der Bretagne an Land ging und von dort ins Militärgefängnis in Rennes gebracht wurde. Eine Woche später begann der Revisionsprozess, der am 9. September mit der Urteilsverkündung endete. Es war das erste Mal, dass Journalisten aus allen Kontinenten nach Rennes reisten, um dort der Verhandlung beizuwohnen. Gespannt erwarteten alle das Urteil, das - so die einhellige Meinung - nur in einem Freispruch enden konnte. Die Fassungslosigkeit der Prozessbeobachter war grenzenlos, als sich von sieben Voten fünf für eine erneute Verurteilung aussprachen. Theodor Herzl, der dem Prozess in Rennes beiwohnte, schrieb: "Samstag, dem neunten September 1899, in den Abendstunden, wurde eine merkwürdige Entdeckung gemacht, die auch wirklich nicht verfehlt hat, allgemeines Aufsehen in sämtlichem mit Telegraphendrähten versehenen Weltteilen hervorgerufen. Es wurde nämlich entdeckt, dass einem Juden die Gerechtigkeit verweigert werden kann, aus keinem anderen Grunde, als weil er Jude ist. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden quälen kann, als ob er kein Mensch wäre. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden zu infamer Strafe verurteilen kann, obwohl er unschuldig ist."

Die internationale Presse reagierte entsetzt auf die erneute Verurteilung zu "10 Jahren Festungshaft unter Zubilligung mildernder Umstände". Viele Künstler und international bekannte Persönlichkeiten bekundeten ihre Solidarität gegenüber dem zu Unrecht Verurteilten. Edvard Grieg sagte sämtliche Konzertreisen nach Frankreich ab. Zahlreiche Staaten drohten mit dem Boykott der Weltausstellung 1900 in Paris. Der neue Staatspräsident Émile Loubet sah sich genötigt, Dreyfus am 19. September 1899, wenige Tage nach der Urteilsverkündung, zu begnadigen. Dieser akzeptierte die Begnadigung jedoch nur unter der Bedingung, weiter für den Beweis seiner Unschuld zu kämpfen, denn mit der Begnadigung wurde auch ein Amnestiegesetz für alle Beteiligten in der Affäre beschlossen.

Es dauerte noch sieben Jahre, bis Dreyfus' Ehre wiederhergestellt wurde. Seine Rehabilitation erfolgte am 12. Juli 1906, genau dort, wo er knapp zwölf Jahre zuvor vor den Augen tausender Schaulustiger degradiert worden war, auf dem Hof der École Militaire in Paris. Der bekennende Dreyfusard und spätere französische Ministerpräsident Léon Blum beschrieb das Ende der Affäre 1935 rückblickend: "So war also unsere eigentliche Aufgabe vollbracht, und der Dreyfusard wurde wieder ein gewöhnlicher Mensch. Wir begannen wieder wie alle Welt zu leben, so, wie wir früher gelebt hatten, stets für die Sache begeistert, wohl wahr, stets voller Überzeugung, aber nicht mehr völlig versunken, verwunschen - wir fanden in uns wieder Raum für die eigenen Interessen, die Sorgen, die Gewohnheitsgefühle der Alltagsexistenz."

Das Ende des Falls Dreyfus war fast ein Märchen. Die Guten wurden belohnt: Clemenceau wurde Premierminister, Picquart Kriegsminister, Dreyfus wurde zum Major befördert und als Ritter der Ehrenlegion geehrt. 1914, da war er bereits 55 Jahre alt, zog er als Patriot in den Krieg gegen Deutschland. Lediglich Zola erlebte die Rehabilitation Dreyfus' als vollständigen Sieg der Gerechtigkeit nicht mehr, er starb 1902 unter mysteriösen Umständen. Weil sich Märchen dadurch auszeichnen, dass sie eben nicht real sind, obsiegte die vollständige Gerechtigkeit am Ende lediglich im Märchen. Denn in der Realität hat das letzte Wort immer noch - ob Kaiser oder Präsident - der höchste Mann im Staate, und der sagte "non", als es 2006, 100 Jahre nach Dreyfus' Rehabilitation, um das Ansinnen ging, Dreyfus - neben Émile Zola - in den Pariser Pantheon zu überführen. Dieses Privileg ist in der realen Welt den Helden der Grande Nation vorbehalten, und Dreyfus war eben nur das Opfer, so die Argumentation. Eine derartige geste dhonneur, wie sie zu Dreyfus' Zeiten in zahlreichen allegorischen Abbildungen zu sehen war, gibt es eben wohl doch nur im Märchen.

Die Moral von der Geschichte

Eine derartige Affäre war bis dahin beispiellos. Sie ist bis heute ein politisches Lehrstück in Sachen Zivilcourage und bürgerlicher Mitbestimmung an gesellschaftlichen Prozessen, wie beispielsweise das Gesetz von 1905 beweist, das die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich festlegte. Es ist aber auch ein Lehrstück gegen militärischen Kadavergehorsam, das zeigt, dass es auch im Militär charakterstarke Persönlichkeiten wie Georges Picquart gegeben hat, der trotz der Gewissheit der eigenen Gefahr für einen Kameraden Partei ergriff, obwohl er weder persönlichen Kontakt pflegte noch dessen Überzeugungen teilte.

Die Macht der Medien zeigte sich während der Affäre auf erschreckende Weise. Ohne die zeitgenössische Berichterstattung wäre der Fall Dreyfus wohl nicht zur nationalen Affäre geworden, ebenso wenig, wenn nicht Intellektuelle wie Zola öffentlich Stellung bezogen hätten. Die Affäre gilt vielen daher als Geburtsstunde des "Intellektuellen", ein Begriff, der in jener Zeit durch nationale, rechtsradikale und klerikale Kreise geprägt und abfällig für jene Journalisten, Schriftsteller, Künstler und linke Politiker benutzt wurde, die sich für Dreyfus einsetzten. Aus diesem Kreis der Intellektuellen heraus hatte sich 1898 die Liga für Menschenrechte gegründet, die 1922 den ersten internationalen Dachverband der Menschenrechtsbewegung initiierte.

Die Dreyfus-Affäre war, um mit Heinrich Heine zu sprechen, nur ein Vorspiel. Zeitgenossen, die von Deutschland aus das Geschehen in Frankreich beobachteten, hätten es nicht für möglich gehalten, dass blindwütender Antisemitismus auch im eigenen Land auf breite Teile der Gesellschaft übergreifen könnte. Die Geschichte hat sie eines Besseren belehrt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Detlev Zimmermann, Eine Bewährungsprobe für die Republik. Frankreich und die Dreyfus-Affäre, in: Elke-Vera Kotowski/Julius H. Schoeps (Hrsg.), J'Accuse ...! ... ich klage an! Zur Affäre Dreyfus. Eine Dokumentation, Berlin 2005, S. 37.

  2. Am 20. Juli 1894, zwei Monate, bevor das bordereau ins Nachrichtenbüro gelangte, tauchte erstmals ein französischer Major namens Marie-Charles-Ferdinand Walsin-Esterhazy in der deutschen Botschaft in Paris auf und bot dem Militärattaché, Oberstleutnant Max von Schwartzkoppen, seine Dienste an. Bereits am nächsten Tag erhielt Schwartzkoppen einen Brief von Esterhazy, in dem er eine Reise und Auskünfte über Russland avisierte. Am 27. Juli wurde Esterhazy erneut bei Schwartzkoppen vorstellig, gab diesem über sich Auskunft und forderte für künftige Dienste einen monatlichen Betrag von 2000 Francs. Schwartzkoppen notierte über diese Begegnung: "Ein aktiver französischer Offizier, welcher sich nicht entblödet, zum Verräter an seinem Vaterland zu werden (...)." Am 15. August kaufte Schwartzkoppen die ersten "geheimen" Dokumente von Esterhazy. Es handelte sich um einen Mobilmachungsplan der französischen Artillerie; Esterhazy erhielt 1000 Francs. Am 1. September übergab dieser erneut drei Schriftstücke an Schwartzkoppen: ein Verzeichnis der Bedeckungstruppen, eine Beschreibung der kurzen 120-mm-Kanone und den Entwurf der Schießvorschrift der Feldartillerie. Wenige Tage später folgte ein Bericht über Artilleriemanöver in Sissonne.

  3. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin.

  4. Seit dem Aufstieg Preußens sah Frankreich einen neuen Rivalen in unmittelbarer Nachbarschaft, der durch den von Frankreich verlorenen Krieg 1870/71 und die anschließende deutsche Reichsgründung einschließlich des erwachenden deutschen Nationalgefühls große Ängste in der Grande Nation auslöste.

  5. In diesem zweibändigen Werk, eines der größten buchhändlerischen Erfolge des 19. Jahrhunderts, machte Drumont die Juden für den Abstieg und das Unglück Frankreichs verantwortlich. Er entwickelte ein geschlossenes System des Antisemitismus und berief sich auf verschiedene Vordenker: Bei Gougenot des Mousseaux bediente er sich dessen Verschwörungstheorie, von Gobineau entlieh er sich dessen Rassentheorie. Laut Drumont seien die Juden den Franzosen gegenüber wesensfremd und von minderwertiger Rasse, die den Charakter des Franzosentums depraviere.

  6. Ähnlich wie die 1879 in Deutschland von Wilhelm Marr gegründete Antisemitenliga war diese auch in Frankreich ein Sammelbecken für erklärte Gegner der Gleichstellung von Juden in der Gesellschaft.

  7. Neue Freie Presse vom 31.8. 1892.

  8. Ebd., vom 5.1. 1895.

  9. Zit. nach: Julius H. Schoeps, Theodor Herzl und die Affäre Dreyfus, in: ders./Hermann Simon, Dreyfus und die Folgen, Berlin 1995, S. 25.

  10. Zit. nach: ebd., S. 24.

  11. Zunächst erschienen die Briefe in der Zeitung "Le Siécle", anschließend als Buch: Lettres d'un innocent, Paris 1898.

  12. Esther Benbassa, Die Geschichte der Juden in Frankreich, Berlin-Wien 2000, S. 180.

  13. Zit. nach: Alain Pagès/Karl Zieger, Emile Zola. Die Dreyfus Affäre. Artikel, Interviews, Briefe, Innsbruck 1998, S. 34.

  14. Vgl. E. Benbassa (Anm. 12), S. 182.

  15. Aus ihr ging 1908 die noch immer dreyfus-feindliche, antisemitische Tageszeitung "L'Action française" hervor.

  16. Theodor Herzl unter dem Pseudonym Benjamin Seff, Fünf gegen Zwei, in: Die Welt vom 15.9. 1899.

  17. Léon Blum, Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus, Berlin 2005, S. 94.

  18. Zola starb bei einem Brand in seiner Wohnung. Ob es ein Unfall oder Brandstiftung war, konnte nie geklärt werden. Als ihm Tausende Pariser das letzte Geleit gaben, wurde Alfred Dreyfus im Trauerzug Opfer eines Attentatversuchs, das er mit leichten Verletzungen überlebte.

Dr. phil., geb. 1961; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ), Am Neuen Markt 8, 14467 Potsdam.
E-Mail: E-Mail Link: kotowski@rzuni-potsdam.de