Einleitung
Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" - so untertitelte Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung, seinen 1902 verfassten utopischen Roman Altneuland, in dem er das Ideal einer künftigen "Heimstatt für Juden" darlegte. Es war kein Märchen, was sich Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich ereignete, jene Affäre um den französischen Hauptmann jüdischen Glaubens, Alfred Dreyfus, die Herzl dazu bewog, fortan sein Augenmerk auf die in Europa immer lauter artikulierte "Judenfrage" zu richten und diese durch einen "Judenstaat" (so auch der Titel seines politischen Hauptwerks, das er 1896 verfasste) zu lösen.
Herzl, als Korrespondent für die Wiener "Neue Freie Presse" seit 1891 in Paris tätig, war Augenzeuge und Berichterstatter jener folgenschweren Ereignisse, die einen Wendepunkt in Frankreich und in der Geschichte der Juden in Europa darstellte. L'Affaire, mit der nahezu jeder französische Bürger die nachhaltigste Gesellschaftskrise der Dritten Republik assoziiert, klingt bis heute nach und stellt einen Markstein im kollektiven Gedächtnis dar, der nicht allein in der Grande Nation, sondern in ganz Europa das gesellschaftliche wie politische Bewusstsein schärfte.
Der Fall Dreyfus
Beim Entleeren des Papierkorbs des Militärattachés Max von Schwartzkoppen in der deutschen Botschaft in Paris fischte eine Putzfrau, die für den französischen Geheimdienst tätig war, am 25. September 1894 ein Schriftstück heraus, das sie dem Nachrichtenbüro des Kriegsministeriums übergab. Dieses Dokument, das als bordereau (Ankündigungsschreiben, Lieferschein) in die Geschichte einging, listete geheime Informationen auf (beispielsweise "eine Aufzeichnung über die hydraulische Bremse des 120-mm-Geschützes und über die Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat"), die dem Adressaten in Aussicht gestellt wurden. Das bordereau war handschriftlich verfasst und wies keinen Verfasser auf. Allerdings konnte dieser nur im Generalstab in Paris zu finden sein, da die avisierten Informationen nur dort zugänglich waren.
Anhand einer fotografischen Kopie wurde im Büro des Generalstabs ein Handschriftenvergleich vorgenommen. Der Verdacht fiel schnell auf einen patriotischen und sehr ehrgeizigen jüdischen Artilleriehauptmann namens Alfred Dreyfus (1859 - 1935), der seit Januar 1893 eine zweijährige Schulung im Generalstab absolvierte und zurzeit in ein Pariser Infanterieregiment abkommandiert war. Er war verdächtig - so die einhellige Meinung im Generalstab -, weil er nicht nur Elsässer und somit quasi Deutscher, sondern auch Jude und damit als Verräter prädestiniert war. Am 14. Oktober 1894, einem Sonntag, liefen die Vorbereitung für die Verhaftung Dreyfus' auf Hochtouren. Der Kriegsminister, Divisionsgeneral Auguste Mercier, ernannte Major Armand du Paty de Clam zum Officier de police judiciare und beauftragte ihn mit Voruntersuchungen, derweil bereits Dreyfus' Haftbefehl unterzeichnet wurde. Unter einem Vorwand wurde Dreyfus am 15. Oktober zum Generalstab zitiert und dort aufgefordert, ihm vorgetragene Sätze per Hand niederzuschreiben. Es handelte sich um Worte und Satzteile aus dem bordereau. Obwohl einige Tage zuvor ein Handschriftensachverständiger es abgelehnt hatte, Dreyfus als Verfasser des bordereau zu bestätigen, bot den Offizieren des Nachrichtenbüros eine oberflächliche Ähnlichkeit in der Handschrift den hinreichenden Beweis dafür, dass Dreyfus der Urheber des Schriftstücks und somit Vaterlandsverräter war. Dreyfus wurde abgeführt und noch am selben Tag für unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft genommen.
Du Paty de Clam schloss bereits nach 14 Tagen die Voruntersuchungen ab, wobei unterschiedlichste "Beweisstücke" zusammengestellt wurden, "um die einmal gelegte Fährte zu verstärken"
Wenige Tage, bevor der Prozess vor dem Kriegsgericht begann, formulierte von Schwartzkoppen - in Unkenntnis der Tatsache, dass das bordereau
Die Folgen
Wie von Schwartzkoppen bereits andeutete, war das Kriegsministerium bemüht, den Fall möglichst schnell abzuschließen und wenig an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Und doch wurden gezielte (wenn auch fingierte, wie sich später herausstellen sollte) Informationen an die Presse gegeben, die sich sogleich auf den Fall stürzte. Ob liberale oder konservative Zeitungen, die verbalen Flammenwerfer richteten sich - ungeachtet des Wahrheitsgehaltes der Anschuldigungen - auf den "Juden Dreyfus". Mit Hilfe der neuen drucktechnischen Möglichkeiten prangten großformatige Karikaturen des vermeintlichen Agenten des Erbfeindes Deutschland
Was die antisemitischen Attitüden der Berichterstattung anbelangte, so nahm die rechte wie auch die linke Presse kein Blatt vor den Mund. Der Spionagevorwurf gegenüber einem jüdischen Offizier, der zudem noch aus dem Elsass stammte, das nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg (1870/71) von Deutschland annektiert worden war, erhielt Katalysatorfunktion für alle Unzufriedenen und zu kurz Gekommenen in der französischen Gesellschaft. Dreyfus diente als klassischer Sündenbock. Für viele Katholiken galt er als Inkarnation des Christusmörders, für nicht wenige Sozialisten symbolisierte er das jüdische Großkapital à la Rothschild samt Weltverschwörungsambitionen. Für die Revisionisten war er der Inbegriff für die negativen Auswüchse der Republik samt ihrer falsch verstandenen Toleranz und ihres destruktiven demokratischen Gleichheitsideals. Im Militär, das in weiten Teilen noch immer vom verlorenen Krieg traumatisiert war und das sich auf Offiziersebene mehrheitlich aus der Aristokratie rekrutierte, klang zudem ein antisemitischer Grundton an: Vorbehalte, welche die militärische Führung bei der Besetzung höherer Offiziersposten durch Juden hegte.
Einer der schärfsten Anheizer antijüdischer Ressentiments war Edouard Drumont, der bereits mit seiner Schrift La France juive 1886 (die deutsche Ausgabe erschien im selben Jahr unter dem Titel Das verjudete Frankreich) eine Wende in der öffentlichen Meinung Frankreichs herbeigeführt hatte. La France juive wurde so etwas wie die Bibel der Antisemiten.
In seinem antisemitischen Propagandablatt war Drumont selbst in Karikaturen zu sehen, so auch in der Ausgabe vom 10. November 1894, in der sein übermächtiges Konterfei den Verräter Dreyfus - ausgestattet mit einer vermeintlich jüdischen Physiognomie und dem häufig wiederkehrenden Attribut der deutschen Pickelhaube - mit der Kneifzange zu entsorgen gedachte (vgl. Abbildung der PDF-Version). Mit derartigen Karikaturen, die auch in vielen anderen, durchaus gemäßigteren Zeitungen erschienen, wurde die Volksseele angeheizt. Als am 5. Januar 1895 der verurteilte Dreyfus die erniedrigende Prozedur der öffentlichen Degradierung über sich ergehen lassen musste, säumten 20 000 Schaulustige den Zaun der École Militaire oder kletterten auf die umliegenden Bäume und skandierten: "Tod dem Verräter! - Tod dem Juden!"
Bei Herzl, der dieser Entwürdigung beiwohnte, hinterließ das Ereignis nachhaltigen Eindruck: "Um neun Uhr war der Riesenhof mit Truppenabteilungen, die ein Karree bildeten, gefüllt. Fünftausend Mann waren ausgerückt. In der Mitte hielt ein General zu Pferde. Einige Minuten nach neun wurde Dreyfus herausgeführt. (...) Vier Mann führten ihn vor den General. Dieser sagte: Alfred Dreyfus, Sie sind unwürdig, die Waffe zu tragen. Im Namen des französischen Volkes degradiere ich Sie. Man vollziehe das Urtheil. Da erhob Dreyfus die rechte Hand und rief: Ich schwöre und erkläre, dass Sie einen Unschuldigen degradieren. Es lebe Frankreich!"
Herzl, der 1897 den ersten Zionistenkongress in Basel einberufen hatte, erkannte spätestens nach dem Revisionsprozess 1899 und der erneuten Verurteilung Dreyfus', dass es hier nicht um die Verurteilung eines x-beliebigen Offiziers, sondern um die Schuldzuweisung gegenüber einem "Juden" ging. 1899 bekannte er in der "North American Review": "Zum Zionisten hat mich der Prozeß Dreyfus gemacht."
Zwischen 1895 und 1899 hatte die Familie Dreyfus nichts unversucht gelassen, die Unschuld des Gatten und Bruders, der auf der Teufelsinsel unter menschenunwürdigen Bedingungen in Arrest saß, zu beweisen. Seine Frau Lucie trat an die Öffentlichkeit, um ein Revisionsverfahren zu erwirken. Um ihrem Ersuchen Nachdruck zu verleihen, offenbarte sie das Kostbarste und zugleich Intimste, was ihr von ihrem Mann geblieben war: die sporadisch eintreffenden Briefe
Derweil regten sich auch innerhalb des Militärs Stimmen, die an der Schuld Dreyfus zweifelten, allen voran die des seit dem 1. Juli 1895 das Nachrichtenbüro leitende Majors Georges Picquart. Dessen Recherchen zeigten im August 1896, dass Marie-Charles-Ferdinand Walsin-Esterhazy, Major im 74. Infanterieregiment, eindeutig der Verfasser des bordereaus sein musste. Picquart unterrichtete den stellvertretenden Generalstabschef Charles-Arthur Gonse über seine Entdeckung, woraufhin er bald seines Amtes verlustig ging und Anklage gegen ihn erhoben wurde. Im Januar 1897 wurde Picquart in ein algerisches Schützenregiment abkommandiert, um ihn dort mundtot zu machen. Allerdings verfasste er eine Denkschrift über den Fall, der sich mittlerweile eher auf Esterhazy denn auf Dreyfus fokussierte, und ließ sie über seinen Anwalt an den Präsidenten der Republik, Félix Faure, und Senator Gustave Scheuerer-Kestner übermitteln. Damit gewährleistete er - sich der Konsequenzen für die eigene Person gewiss -, dass seinen Anschuldigungen gegenüber Esterhazy und somit seine Überzeugung, dass Dreyfus unschuldig sei, in die Öffentlichkeit gelangten. Im Generalstab wurden Anstrengungen unternommen, den Nestbeschmutzer Picquart zu diskreditieren, wobei man auch hier gefälschtes Beweismaterial anfertigen ließ. Etwa zur selben Zeit identifizierte ein Pariser Bankier die Handschrift Esterhazys als identisch mit der des bordereau, woraufhin Mathieu Dreyfus Strafanzeige gegen ihn stellte. Am 4. Dezember 1897 begann der Prozess gegen Esterhazy. Drei Schriftsachverständige erklärten jedoch - nachdem ihnen ein sehr großzügiges Honorar in Aussicht gestellt wurde -, dass Esterhazy nicht der Verfasser des bordereau sei. Das Verfahren vor dem Kriegsgericht wurde am 11. Januar 1898 eingestellt.
J'Accuse!
Am 13. Januar 1898 veröffentlichte George Clemenceau, Herausgeber der Zeitung "L'Aurore", einen Offenen Brief an den Präsidenten der Republik, verfasst vom bekanntesten lebenden französischen Schriftsteller, Émile Zola. In großen Lettern war ihm die Überschrift "J'Accuse...!" ("Ich klage an...!) vorangestellt. Während Clemenceau 1894 noch die zu milde Strafe für den Hochverrat Dreyfus' beklagt hatte, stand er nunmehr an vorderster Front der Dreyfusards und hatte Zola davon überzeugen können, öffentlich für den Unschuldigen Partei zu ergreifen. Bereits zuvor war Zola durch viele Gespräche und die Überzeugungsversuche des Vizepräsidenten des französischen Senats, Scheurer-Kestner, dazu aufgefordert worden, Stellung zu beziehen. Der Freispruch Esterhazys zwei Tage zuvor gab den Ausschlag für seine über Nacht verfassten Zeilen. In seiner Anklageschrift stellte er - mit nicht minderer öffentlichen Wirkung als einst Luther mit seinen 95 Thesen - die Staatsräson samt des korrupten Militärapparats und deren Helfershelfer an den Pranger. Er nannte alle Beteiligten beim Namen, im Wissen darum, dass er nun selbst mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hatte. Die Reaktionen auf die Anklageschrift waren ebenso lautstark wie konträr. Einerseits setzte eine Flut von Solidaritätsbekundungen ein, andererseits formierte sich ein durch konservative Kreise und die Kirche aufgehetzter Mob.
Spätestens jetzt wurde offensichtlich, dass sich in Frankreich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstanden, das der Dreyfusards, die sich aus linken Intellektuellen, liberalen Journalisten und Juristen rekrutierten und von der Unschuld des jüdischen Hauptmann überzeugt waren, sowie das der Anti-Dreyfusards, deren Wortführer aus dem konservativen Lager, dem Militär, dem Klerus und der Antisemitenliga stammten: "Die Ideologie der Anti-Drefusards bewegte sich schnell in Richtung Nationalismus, der oftmals mit Antisemitismus einhergeht. Diesem autoritären Nationalismus, der intellektuellenfeindlich, anti-individualistisch, antiprotestantisch, antiparlamentarisch, xenophob und militaristisch war, ging es darum, den Niedergang der Nation aufzuhalten, indem er sie an die Institutionen der Armee und der Kirche in einem starken Staat aufrichtete, die sich auf traditionelle Werte stützte. Ordnung, Autorität und Vaterland waren zentrale Begriffe dieses Wertesystems, das seine Verfechter wiederherstellen wollten. Die Protestanten, Juden, Freimaurer und Fremden gefährdeten die nationale Gemeinschaft der rechtschaffenden Leute, dieser Verlierer des Fortschritts, aus denen die Mehrheit des Fußvolkes der Anti-Dreyfus-Bewegung bestand."
In den Archivalien des Auswärtigen Amtes findet sich eine Stellungnahme zu Zolas J'Accuse!, die seinen Adressaten jedoch nie erreichte. Es handelt sich um eine Notiz des deutschen Kaisers Wilhelm II., die er nach der Lektüre des Offenen Briefes verfasst hatte. Sie lautete: "Bravo Zola!" In der zeitgenössischen Presse des In- und Auslands finden sich zahlreiche Kommentare und auch Karikaturen, die Zola sowohl als Helden der Vernunft und der Gerechtigkeit als auch despektierlich als Nestbeschmutzer der Grande Nation darstellen. Wie von Zola erwartet, wurde kurz nach Erscheinen seines Offenen Briefes gegen ihn eine Verleumdungsklage erhoben, die mit der Höchststrafe (ein Jahr Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe) geahndet wurde. Obwohl das Gericht zu verhindern suchte, den Fall Dreyfus zum Gegenstand der Verhandlung zu machen, missglückt dies. Auf der Anklagebank wiederholt Zola seine Überzeugung: "Dreyfus ist unschuldig, das schwöre ich. Ich schwöre es bei meinem Leben, bei meiner Ehre (...)."
Dank Zolas Solidaritätserklärung und der sich wenige Wochen danach aus dem Lager der Dreyfusards gegründeten Liga für Menschenrechte (Ligue française pour la défense des droits de l'homme et du citoyen), die entschlossen für Dreyfus eintrat, wurde der Fall nun zu einer nationalen Affäre, die weltweit verfolgt wurde. Nach langjährigen Versuchen Lucie Dreyfus', ein Revisionsverfahren für ihren Mann zu erwirken, wurde diesem nun stattgegeben. Ende des gleichen Jahres gründete sich seitens der Anti-Dreyfusards die Ligue de la patrie française
Am 9. Juni 1899 verlies Dreyfus die Teufelsinsel an Bord der "Sfax" in Richtung Frankreich, wo er am 30. Juni 1899 in der Bretagne an Land ging und von dort ins Militärgefängnis in Rennes gebracht wurde. Eine Woche später begann der Revisionsprozess, der am 9. September mit der Urteilsverkündung endete. Es war das erste Mal, dass Journalisten aus allen Kontinenten nach Rennes reisten, um dort der Verhandlung beizuwohnen. Gespannt erwarteten alle das Urteil, das - so die einhellige Meinung - nur in einem Freispruch enden konnte. Die Fassungslosigkeit der Prozessbeobachter war grenzenlos, als sich von sieben Voten fünf für eine erneute Verurteilung aussprachen. Theodor Herzl, der dem Prozess in Rennes beiwohnte, schrieb: "Samstag, dem neunten September 1899, in den Abendstunden, wurde eine merkwürdige Entdeckung gemacht, die auch wirklich nicht verfehlt hat, allgemeines Aufsehen in sämtlichem mit Telegraphendrähten versehenen Weltteilen hervorgerufen. Es wurde nämlich entdeckt, dass einem Juden die Gerechtigkeit verweigert werden kann, aus keinem anderen Grunde, als weil er Jude ist. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden quälen kann, als ob er kein Mensch wäre. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden zu infamer Strafe verurteilen kann, obwohl er unschuldig ist."
Die internationale Presse reagierte entsetzt auf die erneute Verurteilung zu "10 Jahren Festungshaft unter Zubilligung mildernder Umstände". Viele Künstler und international bekannte Persönlichkeiten bekundeten ihre Solidarität gegenüber dem zu Unrecht Verurteilten. Edvard Grieg sagte sämtliche Konzertreisen nach Frankreich ab. Zahlreiche Staaten drohten mit dem Boykott der Weltausstellung 1900 in Paris. Der neue Staatspräsident Émile Loubet sah sich genötigt, Dreyfus am 19. September 1899, wenige Tage nach der Urteilsverkündung, zu begnadigen. Dieser akzeptierte die Begnadigung jedoch nur unter der Bedingung, weiter für den Beweis seiner Unschuld zu kämpfen, denn mit der Begnadigung wurde auch ein Amnestiegesetz für alle Beteiligten in der Affäre beschlossen.
Es dauerte noch sieben Jahre, bis Dreyfus' Ehre wiederhergestellt wurde. Seine Rehabilitation erfolgte am 12. Juli 1906, genau dort, wo er knapp zwölf Jahre zuvor vor den Augen tausender Schaulustiger degradiert worden war, auf dem Hof der École Militaire in Paris. Der bekennende Dreyfusard und spätere französische Ministerpräsident Léon Blum beschrieb das Ende der Affäre 1935 rückblickend: "So war also unsere eigentliche Aufgabe vollbracht, und der Dreyfusard wurde wieder ein gewöhnlicher Mensch. Wir begannen wieder wie alle Welt zu leben, so, wie wir früher gelebt hatten, stets für die Sache begeistert, wohl wahr, stets voller Überzeugung, aber nicht mehr völlig versunken, verwunschen - wir fanden in uns wieder Raum für die eigenen Interessen, die Sorgen, die Gewohnheitsgefühle der Alltagsexistenz."
Das Ende des Falls Dreyfus war fast ein Märchen. Die Guten wurden belohnt: Clemenceau wurde Premierminister, Picquart Kriegsminister, Dreyfus wurde zum Major befördert und als Ritter der Ehrenlegion geehrt. 1914, da war er bereits 55 Jahre alt, zog er als Patriot in den Krieg gegen Deutschland. Lediglich Zola erlebte die Rehabilitation Dreyfus' als vollständigen Sieg der Gerechtigkeit nicht mehr, er starb 1902 unter mysteriösen Umständen.
Die Moral von der Geschichte
Eine derartige Affäre war bis dahin beispiellos. Sie ist bis heute ein politisches Lehrstück in Sachen Zivilcourage und bürgerlicher Mitbestimmung an gesellschaftlichen Prozessen, wie beispielsweise das Gesetz von 1905 beweist, das die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich festlegte. Es ist aber auch ein Lehrstück gegen militärischen Kadavergehorsam, das zeigt, dass es auch im Militär charakterstarke Persönlichkeiten wie Georges Picquart gegeben hat, der trotz der Gewissheit der eigenen Gefahr für einen Kameraden Partei ergriff, obwohl er weder persönlichen Kontakt pflegte noch dessen Überzeugungen teilte.
Die Macht der Medien zeigte sich während der Affäre auf erschreckende Weise. Ohne die zeitgenössische Berichterstattung wäre der Fall Dreyfus wohl nicht zur nationalen Affäre geworden, ebenso wenig, wenn nicht Intellektuelle wie Zola öffentlich Stellung bezogen hätten. Die Affäre gilt vielen daher als Geburtsstunde des "Intellektuellen", ein Begriff, der in jener Zeit durch nationale, rechtsradikale und klerikale Kreise geprägt und abfällig für jene Journalisten, Schriftsteller, Künstler und linke Politiker benutzt wurde, die sich für Dreyfus einsetzten. Aus diesem Kreis der Intellektuellen heraus hatte sich 1898 die Liga für Menschenrechte gegründet, die 1922 den ersten internationalen Dachverband der Menschenrechtsbewegung initiierte.
Die Dreyfus-Affäre war, um mit Heinrich Heine zu sprechen, nur ein Vorspiel. Zeitgenossen, die von Deutschland aus das Geschehen in Frankreich beobachteten, hätten es nicht für möglich gehalten, dass blindwütender Antisemitismus auch im eigenen Land auf breite Teile der Gesellschaft übergreifen könnte. Die Geschichte hat sie eines Besseren belehrt.