Einleitung
Die Diskussion um soziale Ungleichheiten und Ausgrenzungen im Kindesalter markiert einen Wendepunkt. Mit dem "Ende der fordistischen Kindheit" (Ilona Ostner), die zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung als ein Moratorium, eine Phase des relativen Schutzes vor gesellschaftlichen Zumutungen erschien, sind die zunehmenden Gefahren einer frühen sozialen Ausgrenzung erneut - wenn auch zögerlich - in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Materielle, aber auch Bildungs- und Kompetenzarmut, ethnische und urbane Segregation sowie gesundheitliche Gefährdungen von Kindern umschreiben das Problem, dass die "postfordistische Kindheit" verknüpft ist mit dem Risiko, schon in frühen Lebensjahren von Mindeststandards der sozialen Teilhabe ausgegrenzt zu werden.
In der Zunahme der Armut von Kindern und Jugendlichen verschränken sich zwei parallele Entwicklungen: Erstens ist sie Ausdruck einer Polarisierung zwischen haushaltsspezifischen Lebensformen. Kinder zu haben, stellt in Deutschland ein zunehmendes Armutsrisiko dar, was nicht zuletzt angesichts der demographischen Entwicklung als politischer Skandal bezeichnet werden muss.
Zum einen schlagen sich die ungleichheitsverursachenden makrosozialen Trends - etwa die Entwicklungen am Arbeitsmarkt und des Sozialstaats - unmittelbar und schneller in Ungleichheiten zwischen jungen Familien nieder als etwa in Ungleichheiten zwischen "älteren" Haushalten oder auch jungen Singles. Im Lebensverlauf ist die Phase der Familiengründung am anfälligsten für aktuelle gesellschaftliche und politische Veränderungen, weil sie in hohem Maße sowohl markt- wie staatsabhängig ist und weil in den Entscheidungen der Familiengründung diese Rahmenbedingungen sehr sensibel wahrgenommen werden. Zum anderen prägt die Wahrnehmung und Verarbeitung sozialer Ungleichheiten die Sozialisation der Kinder. Sie erfahren und bewerten ihre eigene soziale Lage nicht im Vergleich zu Rentnerhaushalten oder kinderlosen Paaren, sondern zu jenen von Gleichaltrigen. Die Ungleichheiten zwischen Kindern und Jugendlichen bestimmen damit sowohl ihre objektiven Lebenschancen als auch ihre subjektiven Erwartungen und Einstellungen und stellen damit die Weichen für die Zukunft sozialer Ungleichheit.
Die Gefahr der Ausgrenzung der nachwachsenden Generationen fungiert aber nicht nur als Seismograph, sie reflektiert auch die Versäumnisse der Vergangenheit. Wie die lebensverlaufstheoretische Ungleichheitsforschung zeigen konnte, bauen sich soziale Ungleichheiten erst allmählich im Lebensverlauf auf. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich die sozialen Ungleichheiten in der Elterngeneration schon lange festgesetzt haben müssen, wenn sie sich in der Generation ihrer Kinder schon so frühzeitig Bahn brechen.
Armut von Kindern und Jugendlichen
Die Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen bildet seit den neunziger Jahren einen Schwerpunkt in der Armutsforschung. Der als "Infantilisierung der Armut" bezeichnete Prozess lässt sich besonders ausgeprägt anhand der Entwicklung der Sozialhilfe nachzeichnen. Während in den siebziger Jahren die Gruppe der alten Menschen, insbesondere der alten Frauen, zur dominanten Empfängergruppe der Sozialhilfe zählte, hat sich das Altersgefälle seither in einer kontinuierlichen Entwicklung umgekehrt.
Die Messung von Armut anhand wissenschaftlicher Armutskonzepte gestaltet sich insofern schwieriger, als in jedes Armutskonzept eine Reihe von Setzungen und Wertungen eingehen, die insbesondere für die haushaltsspezifischen Armutsrisiken zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Ohne hier in die Details gehen zu wollen, legen wir im Folgenden einen komplexen Armutsindikator zu Grunde, der neben dem Einkommen auf den vier Lebenslagendimensionen - Wohnungsversorgung, finanzielle Rücklagen, materielle Lebensstandards und Arbeitslosigkeit für einen Zeitraum von fünf Jahren - basiert.
Auf der anderen Seite lassen sich die Personen im gesicherten Wohlstand abgrenzen, die dauerhaft vor Einkommensprekarität und Lebenslagendeprivationen geschützt sind, wobei eine weitere Gruppe im unstabilen Wohlstand zumindest zeitweise in prekäre Lagen gerät. Durch die Kombination einer multidimensionalen und längsschnittigen Messung von Armut lässt sich die Validität des gebildeten Indikators deutlich erhöhen. Das ermöglicht nicht nur eine präzisere deskriptive Analyse vonArmut in Deutschland, sondern schafft auch eine bessere Grundlage für die Analyse der Auswirkungen von Armut bei Kindern.
Die Tabelle 1 der PDF-Version zeigt die Verteilung der Bevölkerung auf die gebildeten Armutsgruppen. Etwa acht Prozent der deutschen Bevölkerung leben in extremer, weitere acht Prozent in temporärer oder einseitiger Armut und etwa zehn Prozent in einer dauerhaften Lage der Prekarität. Diese drei Gruppen von zusammen etwa einem Viertel der Bevölkerung bilden das sozialpolitische Risikopotenzial der Armut, wie es auch im deutschen Armuts- und Reichtumsbericht ausgewiesen wird. Knapp zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sind dagegen vor Armut weitgehend geschützt. Für weitere neun Prozent der Bevölkerung ist der Wohlstand phasenweise oder in einzelnen Lebensbereichen brüchig.
Im Vergleich über die Altersgruppen hinweg zeigt sich der bekannte Befund, dass Kinder und Jugendliche die höchsten Armutsquoten aufweisen. Am stärksten betroffen sind Schulkinder im Alter von 7 bis 16 Jahren. Die Jugendlichen (17 bis 25 Jahre) weisen im Vergleich zu ihnen zwar eine etwas geringere Quote extremer Armut auf, aber es wird ebenfalls deutlich, dass in dieser schwierigen Statuspassage (Übergang in die Selbstständigkeit) Armut zumindest temporär sehr häufig auftritt und nur noch weniger als die Hälfte der Jugendlichen dauerhaft vor Armut und Prekarität geschützt sind. Eine allein altersbezogene Betrachtung von Kinderarmut verdeckt jedoch die Ungleichheiten zwischen Kindern und Jugendlichen, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren wollen. Wir legen dabei eine aggregierte Form des Armutsindikators zu Grunde, der zwischen den drei Gruppen des Wohlstands, der Prekarität (inklusive einseitiger und temporärer Armut) und der extremen Armut unterscheidet.
Ungleiche Kindheiten
Die Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen sind hochgradig durch die sozialen Merkmale der Herkunftsfamilien differenziert. Haushaltsspezifisch betrachtet ist das Armutsrisiko bei den Kindern am größten, die in Alleinerziehenden-Haushalten leben. Über ein Drittel aller Kinder in diesen Haushalten leben in extremer Armut. Bei Familien mit mehr als zwei Kindern unter 17 Jahren sind es rund ein Fünftel. Kinder in Paarhaushalten mit ein bis zwei Kindern sind dagegen "nur" zu etwa sechs Prozent von extremer Armut betroffen. Obwohl diese haushaltsspezifischen Differenzen bereits enorm sind, vermitteln sie ein verkürztes Bild. So zeigen sich innerhalb eines jeden Haushaltstyps extreme klassenspezifische Differenzen. Familien der höheren sozialen Klassen - in denen 46 Prozent aller Kinder leben - haben ein sehr geringes Armutsrisiko. Ist der Haushaltsvorstand dagegen einfacher Arbeiter, findet sich jedes sechste in kleineren und annähernd jedes zweite Kind in größeren Familien in extremer Armut. Auch bei den Alleinerziehenden zeigt sich eine klare Klassendifferenzierung, wobei etwa zwei Drittel aller armen Kinder in Alleinerziehenden-Haushalten eine Arbeiterin als Mutter haben (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version).
Insgesamt leben 56 Prozent aller armen Kinder in einfachen Arbeiterhaushalten und weitere 24 Prozent in Facharbeiterhaushalten. Es sind also vor allem die Kinder aus der Arbeiterklasse, die ein erhöhtes Armutsrisiko tragen und die auch die große Mehrheit unter den armen Kindern in Deutschland stellen. Das gilt nochmals verstärkt für die eingewanderten Arbeiterfamilien. Arbeiterfamilien mit Migrationshintergrund stellen die größte Armutsgruppe in Deutschland dar. Allein ein Viertel aller armen Kinder leben in diesen Haushalten.
Armut ist damit eingebettet in die klassen- und migrationsspezifische Strukturierung sozialer Ungleichheiten. Die Rede von der "Infantilisierung" der Armut ist insofern einseitig, als sie nur auf den Aspekt der Polarisierung zwischen Haushaltsformen mit und ohne Kinder(n) abhebt und die sozialstrukturellen und ethnischen Polarisierungen ausblendet. Kinderarmut steht im Schnittfeld mehrfacher gesellschaftlicher Spaltungsprozesse: zwischen kinderreichen und kinderlosen Lebensformen, zwischen Arbeiterklassen und höheren sozialen Klassen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten.
Bewältigungsstrategien
Der systematische Zusammenhang von Armut - im Sinne der Unterschreitung von Mindeststandards der Teilhabe - und sozialer Ungleichheit - im Sinne herkunftsspezifisch ungleicher Lebenschancen - hat bedeutsame Konsequenzen für die Frage der Auswirkungen und möglichen Bewältigungsstrategien von Armut bei Kindern und Jugendlichen. Die empirischen Forschungen dazu verweisen immer wieder darauf, dass kein mechanischer Zusammenhang zwischen materieller Armut und dem Entwicklungsverlauf von Kindern und Jugendlichen besteht. Zwar zeigen sich in globaler Betrachtung durchgängig negative Effekte, aber diese sind häufig nicht sehr stark, und es existieren große Unterschiede und Variationen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Armut häufig nur unzureichend erfasst wird. Dennoch ist festzuhalten, dass auch unter Armutsbedingungen unproblematische Verläufe von Kindheit möglich sind.
In diesen Forschungen wird insbesondere auf die Bedeutsamkeit der Familie und der sozialen und kulturellen Ressourcen verwiesen. Die Qualität der familialen Beziehungen und die Mobilisierbarkeit von sozialem und kulturellem Kapital haben ganz entscheidenden Einfluss darauf, wie Kinder die materiellen Problemlagen im elterlichen Haushalt erfahren. Ein sicheres Bindungsmuster zwischen Eltern und Kind, eine Ausbalancierung von disziplinierenden und unterstützenden Erziehungsmethoden, eine Einbindung in verwandtschaftliche und nachbarschaftliche soziale Netze und in Vereinsstrukturen oder eine gute Schule und Wohngegend können als "protektive Faktoren" wirken, die auch unter Armutsbedingungen eine hohe Selbstwirksamkeitserfahrung und einen unproblematischen Sozialisations- und Lebensverlauf der Kinder gewährleisten.
Solche Erkenntnisse können zwar durchaus positive Anhaltspunkte für sozialpädagogische Interventionen liefern. Aus einer ungleichheitssoziologischen Perspektive betrachtet bergen sie jedoch auch die Gefahr, einer "Individualisierung" von Armut Vorschub zu leisten, wenn soziale Kontexte ausgeblendet werden. Die Forschungsfragen nach den coping- bzw. Bewältigungsprozessen von Armut bei Kindern und nach den Bedingungen für Resilienz stammen aus der Stress- und Entwicklungspsychologie. Bei der Übertragung dieser Ansätze auf Armut stellt sich das zentrale Problem, was als Kriterium einer positiven Bewältigung von Armut gelten soll. Dies kann einerseits eine "Überwindung" der Armutssituation selbst sein. Hier besteht die Gefahr, die Logik von Sozial- und Arbeitsagenturen zu übernehmen, für die ein Problem dann beseitigt ist, wenn ihre Klienten aus dem Transferbezug entlassen sind. Ein dauerhaftes Verweilen in Armut erscheint in dieser Perspektive rasch als Ergebnis eines negativen coping. So unterscheidet die Bremer Armutsforschung die Bewältigungstypen des "Erleidens" und des "Handelns" nach dem Kriterium, inwieweit "biographische Probleme jenseits der bloßen Sicherung materiellen Überlebens" einer Lösung zugeführt werden oder eine "Verengung" des Lebenshorizonts auf die Situation der Armut und Transferabhängigkeit stattfindet.
Legt man andererseits einen Maßstab an, der enger an der psychologischen Herkunft der Konzepte orientiert bleibt, dann heißt positive Bewältigung von Armut lediglich, dass die betroffenen Kinder psychisch gesund bleiben. Es spricht jedoch viel dafür, dass sich die geringsten psychosozialen Dissonanzen gerade bei denjenigen Armutsgruppen finden, die sich in ihren Lebensführungsmustern und Erwartungen auf ein Leben in dauerhafter bzw. immer wiederkehrender Armut und Benachteiligung eingestellt haben. Das kann in der Form der Bescheidenheitsethik der respektablen Facharbeitermilieus geschehen, die trotz integrierter Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen nur geringe Bildungsaspirationen, eine hohe Risikoaversion und einen "Geschmack am Notwendigen" (Pierre Bourdieu) ausbilden. Oder es kann in Form der gering qualifizierten, hedonistisch orientierten einfachen Arbeitermilieus mit einer starken Gelegenheitsorientierung und improvisierenden Alltagsstrategien erfolgen: Indem sie ihre kulturellen Alltagspraktiken an die eingeschränkten Opportunitätsstrukturen anpassen, bewältigen sie Armut, Arbeitslosigkeit und Prekarität im psychosozialen Sinne durchaus passabel. Im Sinne einer Überwindung von Armut und ihrer benachteiligten Klassenlage handeln sie indessen kontraproduktiv. Umgekehrt jedoch gilt, dass gerade ein Festhalten an den Standards und Normen der Arbeits- und Konsumgesellschaft für diejenigen zu einem "doppelten", nämlich materiellen und psychosozialen Leiden wird, die sich - etwa nach Arbeitslosigkeit oder Scheidung - nicht von der Erwartung und Hoffnung trennen können, wieder in ein "bürgerliches" Leben zurückzukehren.
Der Zielkonflikt zwischen der möglichst schnellen Überwindung der Armutslage und einer Minimierung psychosozialer Spannungen und Konflikte durch eine Adaption an die begrenzten materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen beschreibt zugleich ein zentrales Spannungsfeld in den Erfahrungen und Orientierungen benachteiligter und ausgegrenzter Jugendlicher. Der lebens- und erfahrungsweltliche Grundkonflikt zwischen der Orientierung am Herkunftsmilieu, die - zumindest eine Weile - Handlungssicherheit und soziale Integration verbürgt, und der riskanten Orientierung am sozialen Aufstieg durch Bildung, der in seiner institutionellen Selektionslogik nur für eine kleine Minderheit ausgelegt ist, ist in der ethnographischen Tradition der Jugendforschung häufig beschrieben worden und gewinnt offenbar eine erneute Aktualität. Als "Hängen Bleiben" beschreibt etwa eine jüngere ethnographische Studie die Exklusionsdynamik ostdeutscher Jugendlicher, die den unvermeidlichen biographischen Bruch mit den Cliquen-, Familien- und Quartiersstrukturen benachteiligter Großsiedlungen und die Umorientierung auf geographische und soziale Mobilität zu spät oder gar nicht mehr vollziehen und als "Verlierer" zurückbleiben.
Die eher sozialpsychologisch orientierte quantitative Forschung zu den Bewältigungsformen von Armut erscheint, zumal in diesem Kontrast, befangen von einer klinischen bzw. administrativen Perspektive auf die "Bewältigung" von Armut. Sie kann den Lebenswelten und Sozialisationsverhältnissen der betroffenen Kinder allein darum nicht gerecht werden, weil Armut in der Regel weder als eine begrenzte "Episode" im Lebens- noch als isolierbarer "Stressor" im Entwicklungsverlauf auftritt, sondern als eine zusätzliche Belastung im Kontext klassenspezifischer, ethnischer und milieuspezifischer Benachteiligungen und Differenzierungen. Dies soll am zentralen Beispiel des Zusammenhangs von Armut und Bildungschancen erläutert werden.
Armut und Bildungschancen
Eigene empirische Analysen auf Basis der SOEP-Jugendbiographiedaten bestätigen massive Effekte der materiellen Armut auf den Bildungsverlauf. In Bezug auf die besuchte Schulform bzw. den bereits erreichten Schulabschluss wie ebenso in Bezug auf den angestrebten Schulabschluss und die in der Grundschule erhaltenen Übergangsempfehlungen zeigt sich, dass Kinder in Armut eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, nur die Hauptschule anstelle einer höheren Schulform zu erreichen. Bemerkenswert ist, dass diese Effekte unverändert hoch bleiben, auch wenn sozialstrukturelle Merkmale (u.a. Migrationshintergrund, soziale Klassenlage), die Bindungsqualität zu den Eltern, schulisches Unterstützungsverhalten der Eltern, Noten und fatalistische Lebenseinstellungen kontrolliert werden. Zwar weisen alle genannten Aspekte ebenfalls eine eigenständige Wirkung auf die schulformspezifische Bildungskarriere auf. Sie verstärken sich jedoch im Sinne einer kumulativen Logik.
Armut steht also weniger am Anfang einer Kausalkette, die über Stress und familiale Konflikte zu schulischem Versagen führt, sondern Armut erhöht in allen sozialen Herkunftsklassen und unabhängig vom Familienklima das Risiko, nicht über die Hauptschule hinaus zu gelangen. Entsprechend addieren sich die negativen Effekte, wenn Risikolagen kumulieren. Auch unter Einbezug der Noten verändern sich die negativen Effekte von Armut und Klassenherkunft kaum. Bei der Übergangsempfehlung zeigt sich im Übrigen auch nach Kontrolle aller verwendeten Indikatoren ein eigenständiger diskriminierender Effekt des Migrationshintergrunds, anders als bei der angestrebten und tatsächlichen Schulwahl, wo dieser Effekt verschwindet.
Die skizzierten Analysen unterstreichen die Bedeutung, die dem Zusammenhang von Armut und sozialer und ethnischer Herkunft zukommt. Materielle Armut stellt, ebenso wie problematische familiale Beziehungsmuster, einen zusätzlichen Risikofaktor dar, der den strukturellen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lebenschancen von Kindern nochmals verstärkt. Armut fungiert zwar in allen sozialen Klassenlagen als Risikofaktor, welcher die weitere Entwicklung der Kinder nachhaltig negativ beeinflusst. Es ist eine interessante Frage, inwieweit sich die vermehrte öffentliche Aufmerksamkeit für soziale Ausgrenzungen und Prekarisierungen gerade der Zunahme von Risiken bei den ehemals gut geschützten sozialen Klassen verdankt. Mit ganzer Wucht trifft die Zunahme der Armut bei Kindern und Jugendlichen jedoch vor allem die ohnehin benachteiligten sozialen Klassen der einfachen und der primär beruflich qualifizierten Arbeiterschaft, die heute zu einem guten Teil aus Migrantinnen und Migranten besteht. In diesen einfachen Arbeitermilieus dominieren häufig noch die traditionellen Orientierungen an der fordistischen Arbeiterexistenz, deren wirtschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Grundlagen jedoch immer weiter wegbrechen.
Wie die Bildungs- und Mobilitätsforschung zeigt, sind die klassenspezifischen Chancenungleichheiten auch über die Phase der wirtschaftlichen Prosperität und der Bildungsexpansion hinweg relativ stabil geblieben. Sie sind in kaum einem anderen entwickelten Land so groß wie in Deutschland, wo man nur schamhaft von sozialen Klassen redet.
Die Angehörigen der älteren Generationen, die sich häufig noch aus einer entbehrungsreichen Kindheit und Jugend heraus durch harte und beanspruchende Arbeit ein Stückchen Wohlstand und Sicherheit erkämpften, haben weder Verständnis noch einen guten Rat für die Probleme der Jüngeren, denen weder das alte Malocher-Leben noch die Chance des sozialen Aufstiegs durch Bildung offen steht und für die sich das schmale Fenster dazwischen, das Leben in Respektabilität und Würde, mit einer soliden Ausbildung, einer ehrlichen Arbeit und einer gesunden Familie, immer seltener öffnet.
Von Eliten und Ausgegrenzten
In der politischen Öffentlichkeit wird das Problem der sozialen Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter, das über viele Jahre verdrängt wurde, in der Form von sich häufenden "Schreckensmeldungen" thematisiert. Erfurt und Pisa stehen paradigmatisch dafür: Auf der einen Seite die irrationale Gewalt eines Einzelnen, die auf das pädagogische Versagen der Schule verweist, auf der anderen Seite das miserable Abschneiden der Vielen, das auf das didaktische Versagen der Schule verweist. Die politischen Eliten reagieren auf diese Schocks mit einer einfachen, nur allzu "erwachsenen" Haltung: Gegen Gewalt und Chancenlosigkeit helfe nur Erziehung und Leistung. Die neokonservative Pädagogik feiert nicht nur im konservativen Lager fröhliche Urständ. Der Ruf nach mehr Härte und Disziplin im Klassenzimmer, die Wiedereinführung von "Kopfnoten", die Forderung nach strengeren Auflagen für Eingewanderte, rasch Deutsch zu lernen und bei Auffälligkeiten unmittelbar Sanktionen einzusetzen, die kritischen Töne gegen die "Kuschelpädagogik" in der Schule und die populistischen Schuldzuweisungen an die "überforderten" Eltern sind politische Gemeinplätze einer reaktionären Pädagogisierung sozialer Struktureffekte.
Es ist nicht allein typisch, dass die sozialen Probleme, sofern sie Kinder und Jugendliche betreffen, zu Problemen einer "falschen Erziehung" umdefiniert werden. Bei den politischen Eliten hat sich in den vergangenen Jahren ein allgemeiner "Neo-Patrimonialismus" in der Haltung gegenüber sozialen Problemen der Armut und Ungleichheit breit gemacht. Von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bis hin zur Bildungs- und Gesundheitspolitik geriert sich der Wohlfahrtsstaat wie ein einziger "großer Erzieher", ein pädagogischer Leviathan. Mit seinen Konzepten und Institutionen einer "aktivierenden Sozialpolitik" greift er immer penetranter in die private Lebensführung und die biographischen Orientierungen der von Armut und Ausgrenzung betroffenen Milieus ein, als ob hier die Ursache des Übels zu finden wäre. Der Widerspruch zwischen der politischen Rhetorik von Teilhabegerechtigkeit, Aktivierung, Fallmanagement und Hilfe aus einer Hand und der tatsächlichen Politik fortgesetzter Leistungskürzungen und einer im historischen Vergleich ungeheuerlichen Beschneidung von sozialen Bürgerrechten ist zum Zerreißen groß. Er ist aber zu einem guten Teil auch Ausdruck für den Realitätsverlust der politischen und akademischen Eliten und für die strukturelle Arroganz einer Klassengesellschaft, die sich selbst nicht mehr in die Augen zu schauen wagt.