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Der Islam in der Moderne

Wolfgang Günter Lerch

/ 16 Minuten zu lesen

Einleitung

Steinigungen von Ehebrechern in Pakistan, Enthauptungen von zum Tode Verurteilten in Saudi-Arabien, Morde an Anhängern der Bahai-Religion im Iran, Drohungen und Verfolgungen bis hin zur Ermordung kritischer Schriftsteller oder Intellektueller in etlichen Ländern der islamischen Hemisphäre, "Ehrenmorde" und Zwangsheiraten unter türkischen Muslimen in Deutschland, Feme-Verbrechen nach den Regeln der Blutrache in der Türkei, tödlicher Streit über Mohammed-Karikaturen - dies sind nur wenige Stichworte aus jüngster Zeit, welche die Frage aufkommen lassen, ob Islam und Moderne überhaupt zusammen gehen. Dazu gehört auch die immer wieder gestellte Frage, ob Islam und Demokratie miteinander vereinbar seien.



Unter dem Eindruck des 11. September 2001 und dem Einfluss von Islamisten und Dschihadisten innerhalb und außerhalb des dar-al-islam ("Haus des Islam"; die muslimische Welt) mag mancher in den westlichen Ländern glauben, die Moderne - eine im Wesentlichen in Europa und Amerika entstandene, auf Säkularisierung, Technisierung und rationalem Diskurs beruhende Lebensweise in einer pluralistisch-liberalen, zunehmend auch individualistischen "Bürgergesellschaft", die mittlerweile sogar Japan, Südkorea und andere Länder erfasst hat - habe den islamischen Orient noch gar nicht erreicht. Diese Auffassung ist falsch, doch gibt sie durchaus einen richtigen Eindruck wieder: In der islamischen Welt findet seit einigen Jahrzehnten ein erbitterter Kampf zwischen Erneuerern und Traditionalisten statt, der seinen geistigen Schauplatz auch in der Konfrontation mit dem Westen findet.

Das Phänomen des Islamismus oder des ideologisierten Islams, dessen militante Form sich im Terror des Dschihadismus Bahn bricht, ist von westlichen Analytikern gelegentlich als "revolt against the west" (Hedley Bull) - und damit gegen die Moderne - charakterisiert worden. Der von Samuel Huntington schon vor mehr als einem Jahrzehnt diagnostizierte "clash of civilizations" findet jedoch ganz entschieden zunächst im Islam selbst statt. Berechtigte Versuche, das vorherrschende Bild eines monolithischen Islams aufzubrechen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Protagonisten einer Versöhnung von Moderne und Islam, die gar nicht so kleine Zahl von islamischen Reformdenkern, im Augenblick keinen leichten Stand haben. Viele von ihnen leben im westlichen Exil, andere sind in ihren Ländern dem Druck der Islamisten oder der Regime selbst ausgesetzt. Einige wurden sogar ermordet.

Was in vielen islamischen Ländern auffällt, ist der herbe Kontrast zwischen dem äußeren zivilisatorischen Erscheinungsbild und teilweise äußerst traditionsverhafteten Denk- und Verhaltensweisen, die das öffentliche Bewusstsein und häufig auch die Politik dieser Länder prägen. Dies gilt auch dort, wo scheinbar Welten der historischen Entwicklung einen breiten Graben aufgerissen haben - etwa zwischen der "verwestlichten" Türkei und dem Jemen oder Pakistan. Das hat manche davon sprechen lassen, der Islam habe im Großen und Ganzen nur eine "halbe Moderne" (Bassam Tibi) hervorgebracht: Man habe zwar westliche zivilisatorische Errungenschaften übernommen, was man dem Bild der Städte ansehe, auch manche Institutionen im Bildungswesen und in der Wirtschaft, vor allem auch im Militär; dies alles aber spiegele nicht den tatsächlichen kulturellen und zivilisatorischen Entwicklungsstand wider. Als Musterbeispiel dafür mag Saudi-Arabien gelten, das sich mit Hilfe enormer Öleinnahmen binnen zweier Generationen ungeheuer modernisiert hat, bis hin zu einer futuristischen Architektur, das aber dennoch der strikten, unveränderten wahhabitischen Lehre des Islams folgt, die selbst viele Muslime in ihrer freudlosen Strenge archaisch anmutet.

Zuletzt hatte der dritte Bericht der Vereinten Nationen über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt (Arab Human Development Report 2004) auf vielen Gebieten eklatante Rückstände und Fortschrittshindernisse im Nahen Osten festgemacht, vom Erziehungswesen bis hin zum Feld der technischen Innovationen. Vor allem beklagte der Report die noch immer große Benachteiligung der muslimischen Frau in der Gesellschaft. Man muss der Tatsache ins Auge sehen: Die islamische Zivilisation, die einmal, vor etwa tausend Jahren, die am höchsten entwickelte der Welt gewesen ist, hat in der Folgezeit lange Epochen der geistigen Erstarrung erlebt, die dazu führten, dass die Muslime im taqlid, der geistig und politisch ziemlich unfruchtbaren Nachahmung der Altvorderen, ihr Ideal sahen und religiöse wie geistige Innovationen als "unerlaubte Neuerung" (bid'a) bekämpften. Diese theologische Maxime, die man im sunnitischen Islam als "Schließung des Tors der freien Koranauslegung" (bab al-idschtihad) bezeichnete, schlug auch zivilisatorisch zu Buche. Trotz mancher Höhepunkte, die diese Kultur noch im Osmanischen Reich oder im Reich der indischen Moguln erreichte, wurde der islamische Orient vom christlichen, sich aber reformierenden und immer stärker säkularisierenden Europa mehr und mehr an den Rand gedrängt.

Es war ein unsanfter Schock, der den Orient aus seiner Lethargie herausriss: die militärische Invasion Bonapartes in Ägypten. Der Überfall Napoleons brachte den Ägyptern 1798 zwar weder die Demokratie noch die Menschenrechte, doch wurde das Land am Nil durch ihn zum Einfallstor der Moderne im Orient. Unter der darauf folgenden Herrschaft Mehmet Alis, der viele Jahrzehnte regierte, und seiner bis 1952 herrschenden Nachfahren erfuhr Ägypten einen Modernisierungsschub, den die Machthaber vor allem auswärtigen Fachleuten der verschiedensten Gebiete, die sie engagierten, verdankten. Westliche Techniken und Methoden gelangten in die Region. Ein weiterer Schwerpunkt der Modernisierung (was immer auch Verwestlichung hieß) wurde etwa zur selben Zeit Konstantinopel/Istanbul, der Sitz des osmanischen Sultans und Kalifen, dem Ägypten zu jener Zeit nominell noch unterstand. Seit Sultan Selim III. (1789 - 1807) bemühten sich die türkischen Herrscher nicht nur um eine Modernisierung der Armee, sondern auch des Staates und seiner veralteten Institutionen. Befördert wurde dies durch die beiden Reformerlasse der so genannten Tanzimat-Ära, die 1839 und 1856 unter Sultan Abdulmedschid veröffentlicht wurden. Sowohl im Ägypten Mehmet Alis als auch im Reich des Sultans regte sich der Widerstand der Ulema, der Schriftgelehrten, und der softalar, der Studenten in den theologischen Schulen, gegen jenen Teil der Modernisierungsbestrebungen, die ihnen geeignet schienen, den islamischen Charakter der Gesellschaft anzutasten.

Hinzu kam, dass die Modernisierung parallel zu den Bestrebungen der wichtigsten westlichen Mächte lief, den islamischen Orient direkt oder indirekt zu dominieren. Zwischen Algerien, wo die Franzosen 1830/31 landeten, und Indien, wo die Briten schon seit dem 18. Jahrhundert herrschten, entstand ein System von europäisch beherrschten abhängigen Dynastien, Kolonien oder später, im 20. Jahrhundert, Völkerbund-Protektoraten, dessen negative Wirkung auf die einheimischen Bevölkerungen bis heute ein Problem bei der Wahrnehmung des Westens, seiner Politik und seiner Ziele und Werte darstellt. Modernisierung des Islams wird nicht zuletzt deshalb vor allem als "Verwestlichung" verstanden, was ein Teil der islamischen Reformer und Modernisierer durchaus bejaht, ein anderer Teil hingegen - vor allem, sofern er dem Islamismus nahe steht - entschieden ablehnt.

Das Eindringen der Moderne in die islamische Welt sowie die imperialistische Fremdbestimmung durch äußere Mächte zeitigten mehrere ideologische Reaktionen in der Region, die ich mit den Begriffen "Panislamismus", "Nationalismus" und "Islamismus" bezeichne. Sie alle sind Resultat des Zusammenpralls der islamischen Zivilisation mit der europäischen Moderne, inhaltlich aber Versuche einer indigenen Selbstbestimmung in gewandelter Zeit, obschon es auch dabei ohne äußere Anleihen nicht abging.

Panislamismus und Nationalismus

Geistiger Schöpfer des Panislamismus, einer Ideologie, die bis heute nachwirkt, ist Dschamal al-Din al-Afghani (1838 - 1897). Er kann als der panislamische Revolutionär kat' exochen angesehen werden, der in Fragen der Religion weniger festgelegt war als in denen der Politik. Zwar wollte seine Bewegung durchaus auch der Wiederbelebung des Islams dienen, dies aber vor allem im politischen und auch kulturellen Sinne. Er ist der Stammvater aller Bestrebungen, die aus der Weltreligion Islam eine "dem Westen" gleichberechtigte kämpferische Ideologie machen wollen. Es ging ihm um Machtpolitik. Afghani warb, nachdem er schon 1868 seine Heimat verlassen musste, sowohl in Ägypten als auch am Sultanshof zu Istanbul für seine Ideen, die sich gegen den Imperialismus wandten und den Islam durch eine Übernahme moderner Errungenschaften erneuern wollten. Er tat dies nicht zuletzt in der Zeitschrift "Das feste Band" (al-urwa al-wuthqa), die er zusammen mit seinem bekanntesten Schüler, dem ägyptischen Theologen Muhammad Abduh (1849 - 1905), herausgab. Den sichtbarsten Einfluss hatte Afghanis Panislamismus auf den türkischen Sultan Abdulhamid II. (1876 - 1909), dem diese Ideologie dazu diente, das zerbröckelnde Osmanische Reich, den "kranken Mann am Bosporus", gegen die nicht-muslimischen Minderheiten und die europäischen Mächte zusammenzuhalten.

Auch der arabische und osmanisch-türkische, danach rein türkische Nationalismus strebte den Kampf gegen den Imperialismus und die Unabhängigkeit von den europäischen Mächten an. Ziele waren die Entwicklung und Modernisierung der vom Islam geprägten Regionen, allerdings mit dem Schwerpunkt "völkischer" Entwürfe. Der arabische und türkische Nationalismus drängte den Islam zugunsten eines Nationenbegriffs zurück, den man dem europäischen Denken entnahm. Die türkischen Revolutionäre um Ziya Gökalp (1876 - 1924), deren Bestrebungen im Werk von Mustafa Kemal Atatürk (1881 - 1938) gipfelten, nahmen sich mehrheitlich die französische Verfassung zum Vorbild, eine weltliche Republik, welche die Religion weitgehend zur Privatsache machen sollte. Der Schöpfer der positivistischen Philosophie, Auguste Comte, wurde ihr Vorbild.

Nicht ganz so weit gingen die Theoretiker des arabischen Nationalismus, etwa Sati al-Husri (1882 - 1968) oder Michel Aflaq (1910 - 1989), die sich mehr am "organischen" Nationenbegriff des deutschen Idealismus, an Herder, Fichte, Arndt und Hegel, orientierten. Für sie gehörte der Islam zum ewigen Wesen des Arabertums, war insofern nicht nur Privatsache. Es sollte freilich ein laizistischer Islam sein. Der arabische Nationalismus wurde zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Jahre 1967 die Ideologie, die unter den Intellektuellen, aber auch bei den Volksmassen den meisten Anklang fand, zumal er - im Maghreb, in Ägypten, in Syrien und im Irak, aber auch anderswo - Erfolge bei der Befreiung von kolonialer Bevormundung und der Entstehung von modernen Nationalstaaten in der Region verzeichnen konnte. Der Nasserismus und der syrische wie irakische Baathismus stellten die historisch einflussreichsten Formen dieses Nationalismus dar. Die Modernisierungsprozesse, die der Nationalismus einleitete, trugen freilich den Charakter einer autokratischen Aufklärung von oben.

Abwehr der Moderne: Islamismus

Die Politisierung und Ideologisierung der Weltreligion Islam, mit der wir heute als sichtbarster, teilweise auch militantester Strömung zu tun haben, entwickelte sich parallel zu den nationalistischen Strömungen; seine Wurzeln reichen jedoch teilweise weiter in die Vergangenheit zurück. Dies gilt vor allem für den Wahhabismus, eine besonders strikte Auslegung des islamischen Scharia-Rechts, die im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel entstand. Ihr Schöpfer war Muhammad Ibn Abdal Wahhab (1703 - 1791), ein Theologe, der sich vor allem gegen die Dynastie der Osmanen wandte. Diese herrschten damals über die heiligen Stätten in Mekka und al-Medina, hatten für den Ablauf der Pilgerfahrt zu sorgen und profitierten vom Pilgerwesen. Abdal Wahhab warf den Osmanen, die der als liberal geltenden Rechtsschule der Hanafiten folgten, vor, sie hätten den Islam verbogen und entstellt sowie durch einen überflüssigen Heiligenkult und viele andere Praktiken dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Die Muslime müssten zurückkehren zum reinen, unverstellten Islam des Propheten.

Der Puritanismus Abdal Wahhabs fand ein geneigtes Ohr beim Clan der Al Saud, die sich auch familiär an den Prediger banden. Im 19. Jahrhundert gelang es den Al Saud, zweimal die Herrschaft über große Teile der Arabischen Halbinsel zu erringen; ihre dritte Reichsgründung gelang ihnen, als ihr fähigster Führer, König Abdal Rahman Ibn Saud, seit Beginn des 20. Jahrhunderts das alte Herrschaftsgebiet aus den Händen der Al Raschid und der Banu Haschim (Haschemiten) zurückeroberte und das moderne Königreich Saudi-Arabien begründete. Dank des beginnenden Erdölexportes wurde dieser Staat zu einem der einflussreichsten nicht nur in der islamischen Welt. Bis heute hält die Symbiose zwischen dem Herrscherhaus der Al Saud mit seinen vielen tausend Prinzen und der Familie des Begründers der Wahhabiten-Sekte, den Al Sheikh. Außer dem Öl und der bloßen Macht ist es der auch religiös begründete Anspruch, über die heiligen Stätten des Islams zu herrschen und sie zu verwalten, der die Al Saud legitimiert. Deshalb waren und sind sie versucht, überall auf der Welt islamische Bewegungen strengster Observanz finanziell und ideell zu fördern.

Saudi-Arabien ist bis heute der Hauptsponsor von Fundamentalismus, ja Islamismus. Vor allem unter den Muslimen des indischen Subkontinents, insbesondere im modernen Pakistan, hat das Königreich mit seiner radikalislamischen Lehre jenen Einfluss gehabt, der schließlich mit zur Schaffung militant-islamistischer Gruppen bis hin zu den Terrororganisationen im Umkreis von Al Qaida ("Basis") beigetragen und sich am Ende gegen den Sponsor selbst gewendet hat. Saudi-Arabien ist heute ebenso sehr Ziel von Terroristen wie der Westen, mit dessen Führungsmacht es verbunden ist. In Pakistan waren es vor allem die Theologen der Deobandi-Gemeinschaft, die den saudischen Islam weitertrugen, aus dem sich die radikalislamischen, vormodernen Taliban in Afghanistan speisten. Die Herrschaft der Taliban, die bis 2001 währte, bestärkte große Teile der Welt in ihrer Auffassung, der Islam und die Moderne seien nicht zu versöhnen.

Ein weiteres Zentrum des Widerstandes gegen die Moderne wurde Ägypten, just zu jener Zeit, da dort eine bürgerliche Emanzipationsbewegung erste Erfolge verzeichnete: unter den Frauen, in der Literatur, in der neu entstandenen Filmindustrie, ja sogar in der Theologie, wo ein "Dissident" wie Ali Abdal Raziq (1888 - 1966) nach einer Historisierung der Quellen strebte, um sie der Moderne anzupassen. Dagegen wandten sich die 1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna in Ismailia gegründete Organisation der Muslimbrüder (Ikhwan al-muslimin). "Den Ideologien des Westens muss widerstanden werden", schrieb al-Banna und gab damit die Richtung des Kampfes vor. Ziel war es, die aus Europa und Amerika herandrängende Moderne und ihre Werte, insbesondere die Laizität des Staates (Trennung von Religion und Politik), sowie den Individualismus abzuweisen.

Der dritte Führer der Muslimbruderschaft, der 1966 unter Präsident Gamal Abdel Nasser hingerichtete Sajjid Qutb, wurde zum bis heute wichtigsten antimodernen Theoretiker des Islamismus. Die Muslimbruderschaft, die sich in viele islamische Länder ausdehnte, wurde zur Keimzelle zahlreicher islamistischer Zirkel und Gruppierungen, keineswegs nur in Ägypten. Bis heute kommt den Muslimbrüdern und anderen Organisationen dieser Prägung zugute, dass sie innerhalb politisch autokratischer, korrupter und ineffizienter politischer Regime oft die einzige für das Volk glaubwürdige Alternative darstellen. Dies gilt selbst dann, wenn man sieht, dass die Islamisten dort, wo sie die Macht errungen haben, keine durchgreifende Besserung der Lebensverhältnisse bewirken: Man denke an den Iran, den Sudan oder an die Taliban in Afghanistan, deren Herrschaft durch den Angriff der USA Ende 2001 beendet wurde.

Das vorige Jahrhundert islamischer Geschichte stellt sich als komplexes Mit- und Gegeneinander reformerischer, panislamischer, nationalistischer und islamistischer Strömungen dar, wobei bis 1967 der arabische Nationalismus mit seiner auch weltlichen Tendenz vorherrschte. Die islamistischen Ideen erhielten nach der vernichtenden Niederlage der Araber gegen Israel im Sechstagekrieg wieder Oberwasser. Heute gibt es kaum ein Land in der arabischen Welt, in dem nicht starke fundamentalistische bis islamistische Strömungen auf dem Vormarsch wären oder zumindest den öffentlichen Diskurs in maßgeblicher Weise mitbestimmten.

Islam, Scharia und Moderne

Beim Zusammenprall mit der Moderne zeigen sich die Antagonismen zwischen einer über weite Strecken noch funktionierenden Sakralkultur und einer stark verweltlichten Zivilisation, die alles und jedes der Kritik preisgibt, einschließlich ihrer eigenen Prinzipien. Zwar gibt es viele Formen des Islams, von denen der mystische Islam der Sufis die offenste, liberalste ist. Vorherrschend ist jedoch noch immer - und sogar wieder mehr - die Auffassung, der Islam sei eine Gesellschafts- und Werteordnung unveränderlichen Charakters, deren Grund und Form die Scharia sei, das islamische Recht, wie es in den ersten beiden Jahrhunderten nach dem Tode Mohammeds von den Überlieferern und den Sakraljuristen (fuqaha') entwickelt worden ist. Dieses Regelwerk von Verhaltensweisen, welches das Leben des Gläubigen von der Wiege bis zur Bahre zu prägen beansprucht, gründet auf dem Prinzip der Souveränität Gottes, zudem auf einer theokratischen Kosmologie, die sich mit der Anthropozentrik der Moderne auf das Herbste stößt.

Bis heute sind die Quellen der islamischen Lebenswelt zwar auslegbar, aber nicht im Sinne einer Quellenkritik hinterfragbar. Der Koran, so könnte man formulieren, enthält nicht Gottes Wort, sondern er ist es. Unter dem Einfluss des Islamismus findet diese vormoderne Auffassung der heiligen Schrift des Islams heute mehr Verfechter als noch vor zwei Generationen. Die Vertreter sowohl des Traditionalismus als auch des Islamismus beschränken sich im Wesentlichen auf jene Methoden der Auslegung, die sich mit den Stichworten "Analogieschluss" (qiyas) und "consensus omnium" (idschma´) beschreiben lassen. Sie sind weit davon entfernt, einen mutigen Zugriff auf eine sich verändernde Gegenwart oder gar Zukunft zu ermöglichen.

Das heißt nicht, dass eine Reformtheologie und ein kritisches, sich zur Moderne öffnendes Reformdenken im Islam nicht existiert. In allen Ländern gibt es mutige Geister, die versuchen, mit Hilfe hermeneutischer Mittel den Quellen der Religion einen neuen, modernen Sinn abzugewinnen. Am weitesten dürfte dabei die Ankaraner Schule in der Türkei gehen. Deren Theologen sind von der 1954 gegründeten Theologischen Fakultät der Universität Ankara geprägt, der ersten ihrer Art in einem muslimischen Land überhaupt, die sich mit Mitteln der modernen Religionswissenschaft und der vergleichenden Religionskunde, die auch andere Religionen und Glaubensvorstellungen studiert und vermittelt, der Überlieferung stellt. Inzwischen gibt es in der Türkei 24 solcher Fakultäten. Der wichtigste Interpret dieser Schule ist Mehmet Aydin, der mutige Schritte hin zu einer aufgeklärten Religiosität befürwortet. Deutlich erkennbar im türkischen Islam sind auch Versuche, jenen "Staatsislam" aufzubrechen, der seit Kemal Atatürk im Dienst des türkischen Nationalismus stehen soll und lange ein lebendiges religiöses Leben verhinderte oder in den Untergrund drängte. Seine hartnäckigsten Verteidiger sind bis heute die Militärs. In ihrem begrüßenswerten Eifer, das Wiedererstarken eines islamischen Staates zu verhindern, stützen sie einen von oben, durch das Amt für religiöse Angelegenheiten verordneten Islam, der sich bisher schwer tat mit dem Pluralismus religiöser Meinungen. Seitdem mit Recep Tayyip Erdogan ein moderater Islamist Regierungschef ist und seine Partei geöffnet hat, ist manches entkrampft worden, ist die Türkei, mehr als andere Länder, auf dem Weg zu einem islamischen Pluralismus.

In anderen Ländern der Region kann man die Reformdenker im Großen und Ganzen in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe umfasst Theoretiker, die für eine Öffnung und Veränderung aus der Tradition selbst votieren. Sie füllen gewissermaßen den alten Wein in neue Schläuche, indem sie die Texte vor dem Hintergrund der Moderne neu lesen. Sie wollen eine "islamische Moderne" schaffen, die weitgehend auf Anleihen aus der westlichen Moderne verzichtet. Prominentester Kopf dieser Strömung ist Tariq Ramadan, der seine familiären und geistigen Wurzeln in der ägyptischen Muslimbruderschaft hat, aber in der Schweiz sozialisiert wurde und heute in London lehrt. Ramadan ist nicht unumstritten; Kritiker werfen ihm vor, er rede fortschrittlicher, als er denke und schreibe.

In Iran sind es vor allem zwei Theologen und Philosophen, die man als echte Reformdenker bezeichnen kann: Abdolkarim Sorusch und Mohammad Shabestari. Sorusch ist der Bekanntere von beiden. Er ist ursprünglich Naturwissenschaftler, hat sich jedoch auch dem Studium der Philosophie gewidmet, vor allem dem Werk Hegels und Heideggers. Er plädiert, um den - in seinem Fall schiitischen - Islam für die Moderne kompatibel zu machen, für eine radikale Historisierung der Quellen. Es müsse unterschieden werden zwischen Glaubenslehren und Inhalten, die unaufgebbar sind, wie der Monotheismus (tauhid), die Prophetenschaft Mohammeds (nubuwwat), ferner essenziellen Forderungen der Ethik (achlaq), die jede Gesellschaft braucht, um zu überleben, und jenen Inhalten, die allein zeitgebunden sind und daher aufgegeben werden können, ja müssen. Shabestari verknüpft theologische Erwägungen mit philosophischen Prinzipien, die er auch dem europäischen Denken verdankt. Die eigene Tradition wird bei Shabestari insofern schöpferisch, als er zurückkehren möchte zu jenem "dialektischen Prozess", als den er die Scharia, so wie sie vor tausend Jahren entstand, begreift; die Scharia ist für ihn kein abgeschlossenes System von Dogmen und Regeln, sondern interpretatorisch immer in Bewegung, wie die Gesellschaft auch. Ergänzt wird Shabestaris kritischer Umgang mit den Quellen durch die Techniken der Hermeneutik, wie er sie in den Schriften von Hans-Georg Gadamer (1900 - 2002) gefunden hat.

Hermeneutik und Semiotik, die Lehre von den Wörtern als Zeichen, sind die Mittel der Koranexegese, die der bekannteste ägyptische Koranforscher anwendet, um die Lehren seiner Religion mit der Moderne zu versöhnen: Nasr Hamid Abu Zaid. In seinen Werken "Der Begriff des Textes" und "Kritik des religiösen Diskurses" strebt Abu Zaid eine Unterscheidung und Ausdifferenzierung des Verständnisses der Koran-Suren und -Verse an, die Ähnlichkeiten mit den Auffassungen Soruschs aufweist. Allerdings geht Abu Zaid stärker von Kommunikationstheorien aus als der Iraner. Die Schwierigkeiten, die Abu Zaid mit seiner Regierung bekam - er wurde auf Betreiben von Fundamentalisten zwangsweise geschieden und lebt heute im niederländischen Exil -, machen deutlich, wie weit der Islam insgesamt von einer Adaption moderner Methoden seiner Auslegung und Neuinterpretation noch entfernt ist. Mit ihnen aber steht und fällt die allmähliche, als positiv - und nicht mehr nur als Bedrohung von außen - aufgefasste Aneignung von politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne. Diese müsste dann auch keine unbefragte Übernahme sein, sondern ließe Raum für eine eigenständige Gestaltung.

In diesen Zusammenhang gehört die Frage nach der Demokratie. Reduziert man den Islam auf seine "Fünf Pfeiler", so steht einer Demokratisierung wenig im Wege; denn weder der monotheistische Glaube an den einen und einzigen Gott oder die Verpflichtung zum gemeinschaftlichen Gebet, weder das Zahlen einer Armensteuer noch das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt nach Mekka sind Hindernisse für einen demokratischen Aufbau der Gesellschaft. Es ist jedoch der Ballast einer nicht kritisch befragten Sakralordnung, die seit mehr als tausend Jahren um die alleinige und unumschränkte Souveränität Gottes (hakimijat Allah) kreist, wie sie sich in der Offenbarung des Korans gezeigt hat, der die Adaption der wichtigsten intellektuellen und rechtlichen Prinzipien der Moderne für die Muslime so schwer macht: Wenn Gott der Souverän ist, kann es das Volk nicht sein.

So kommt es nicht von ungefähr, dass das fundamentalistische Königreich Saudi-Arabien bis heute keine rechte Verfassung hat, sondern der Koran und die Lehrentscheidungen der wahhabitischen Ulema das Gerüst des Staates bilden. Entweder Verfassung oder Koran - so ist man versucht zu fragen. In letzter Zeit hat es den Eindruck, als habe sich, was Modernisierungsprozesse angeht, das Zentrum des Nahen Ostens aus seinem ehemaligen Kernraum zwischen Ägypten und Syrien weiter nach Osten verschoben. Während die traditionellen Zentren zu stagnieren scheinen, sind die kleineren arabischen Golfstaaten - zwischen Kuwait und Oman - in rascher Modernisierung begriffen. Dazu gehört auch eine Öffnung zum politischen Pluralismus. Gewiss wird keine der dort herrschenden Dynastien ihre Macht grundsätzlich in Frage stellen lassen, doch haben der Emir von Kuwait, die Herrscher der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), der Herrscher von Qatar oder der Sultan von Oman eine bescheidene Demokratisierung angestoßen, die ausbaufähig ist. Die Parlamente arbeiten (wieder), und Frauen erhielten das Wahlrecht. Qatar wurde Sitz des Senders al Dschazira, der in ungewohnter Offenheit teilweise provozierend pluralistische Programme in der islamischen Welt anbietet. Auch im Erziehungswesen, etwa bei der Ausbildung von Frauen, haben die Golfstaaten große Fortschritte gemacht, zu deren antreibenden Kräften etwa in Qatar die Frau des Herrschers, Scheicha Mouza, gehört.

Überhaupt spricht vieles dafür, dass der islamische Orient eines Tages den Anschluss an die Moderne erst dann finden wird, wenn er die Frauenfrage im Sinne der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Emanzipation der Frau in einer Zivilgesellschaft gelöst haben wird.

Geb. 1946; studierte Philosophie, Islamkunde und Religionswissenschaft in Tübingen; Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). FAZ, 60267 Frankfurt/M.
E-Mail: E-Mail Link: w.lerch@faz.de