Einleitung
Es ist erst wenige Jahre her, dass die zukünftigen Aufgaben der Landwirte und der Landwirtschaft als ganzer im Bereich derLandschaftspflege angesiedelt wurden, die Bauern somit als gigantischer Landschaftspflegeverband organisiert werden sollten. Nach den verschiedenen Tierseuchen und Lebensmittelskandalen und wegen des offenbar unaufhaltsamen Anstiegs der Energiepreise kehrt der ländliche Raum von der Peripherie des wirtschaftlichen Interesses wieder in dessen Zentrum zurück. Während die Lebensmittelbranche in Zeiten der Konsumentenzurückhaltung unter schwachen, gar rückläufigen Verdienstaussichten stöhnte, entstanden Bio-Ecken beiden großen Discountern und schossen ganze Bio-Supermärkte aus dem Nichts. Zuwachsraten im zweistelligen Bereich gehören im Branchensegment ökologisch produzierter Lebensmittel zur neuen Normalität. Und es gab und gibt einen Boom der Energieproduktion aus nachwachsenden Rohstoffen: Dieser reicht von der privaten Holzheizung über Windkraftanlagen bis hin zu hochmodernen Bioethanol-Anlagen; von den Biogasanlagen, die jeder Landwirt, der den Zug nicht verpassen möchte, eilig installiert, bis hin zu den mit Rapsöl betriebenen Großtraktoren und Dieselloks des regionalen Eisenbahngüterverkehrs.
Da mag es - ob dieser rosigen Zukunftsaussichten - paradox erscheinen, gleichzeitig von einer Auflösung der ländlichen Gesellschaft in Ostdeutschland zu sprechen, wo doch gerade die agrarischen Großbetriebe des Ostens - die Erben der Schwarzen Junker und Roten Barone - es ausgezeichnet verstanden haben, ihr Größenpotenzial in die globalen Handels- und Produktionsströme einzubringen. Doch dieser Teil Deutschlands steht tatsächlich vor dem größten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbruch seiner jüngeren Geschichte. Im Kern geht es dabei um die Abkoppelung der ökonomischen Dynamik von der sozialen Entwicklung bzw. um deren Entbettung - wie sie die letzten 200 Jahre Bestand gehabt hat. Da mag es vorerst nur als Fingerzeig zu werten sein, dass innerhalb weniger Jahre der Großteil der Bevölkerung, der bisher Arbeit, Einkommen und Orientierung in der Landwirtschaft gefunden hatte, heute nahezu jeglichen Bezug zu dieser noch vor kurzem dominanten gesellschaftlichen Verfasstheit verloren hat. War noch Anfang der neunziger Jahre mehr als die Hälfte der Einwohner der meisten Dörfer in der Agrarwirtschaft tätig, so findet hier heute nur noch ein verschwindend kleiner Teil Arbeit.
Doch nicht nur das sich neu organisierende Agrobusiness mitsamt seinem Umbau der industrialisierten Massenproduktion bei gleichzeitiger schnell voranschreitender Deindustrialisierung des ländlichen Raums
Die kapitalistische Modernisierung der ostelbischen Regionen
Die ländliche Gesellschaft der nordostdeutschen Regionen ist ein Produkt der kapitalistischen Modernisierungsschübe der letzten 200 Jahre entlang des Paradigmas einer sich industrialisierenden (landwirtschaftlichen) Massenproduktion. Kernstrukturen der ländlichen Gesellschaft waren und sind drei aufeinander bezogene Teilsysteme:
Erstens handelt es sich um die lokal und regional organisierten agrarwirtschaftlichen Cluster bzw. Netzwerke, zu denen üblicherweise Guts- und Bauernwirtschaften, funktional integrierte Verarbeitungsbetriebe (Molkereien, Schlachtereien, Zucker- und Stärkefabriken, Brennereien usw.) und funktional integrierte Vor- und Dienstleistungszweige (Saat- und Viehzucht, Schlosser, Schmiede, Stellmacher, Bauhandwerker usw.) gehörten. Sie bildeten Komplexe, die durch ihren wechselseitigen Funktionsbezug nach innen als Komplex eine effiziente Funktion nach außen (Exportbilanz) wahrnehmen konnten. Entscheidend dabei sind die Schnittstellen dieser Cluster nach innen, die vor allem durch die darin integrierten Großbetriebe - kapitalistische Güter, in der DDR volkseigene Güter, große Agrargenossenschaften und Kooperationsbetriebe - innovative Zentren besaßen, die den Transfer externen Know-hows beispielsweise aus den Universitäten und Forschungsanstalten in die Praxis und die lokalen Agrarcluster vermittelten. Die Guts- und Großbetriebe waren nicht nur die ökonomischen Zentren der lokalen Cluster, sondern auch die Machtzentren der ländlichen Gesellschaft. Mit dieser Organisationsform der Wirtschaft ging ein stetiger Produktivitätsfortschritt auf der Basis einer sich durch wissenschaftsgetriebene Innovationen vollziehenden Industrialisierung der Landwirtschaft über viele Jahrzehnte einher.
Das zweite darauf bezogene Teilsystem der ländlichen Gesellschaft bilden die Dörfer und Kleinstädte, die rural-urbane oder auch räumliche Siedlungs- und Infrastruktur des ländlichen Raums. Dörfer und Landstädte waren nicht nur die Standorte der dazu gehörigen Betriebe und Betriebsteile, sie fungierten zugleich als Schnittstellen der ländlichen Gesellschaft: Schnittstellen zwischen den einzelnen Betrieben der Agrarcluster, Schnittstellen nach "außen", zu überregionalen Märkten und Wissen, Schnittstellen zwischen den Betrieben und der Landbevölkerung. Ebenso wichtig aber sind Städte und Dörfer als Ort der Reproduktion der kulturellen und politischen Kommunikation) und der Verbindung der ländlichen Gesellschaft mit der "Welt" und dem Staat.
Das dritte funktional auf die ersten beiden bezogene Teilsystem stellt die ländliche Bevölkerung in ihrer Sozialstruktur, ihrer Lebensführung und ihren Interaktionsformen dar, die funktional durch Korrespondenzen (nicht Kausalitäten!) mit den Wirtschaftsclustern und dem rural-urbanen System bestimmt sind. Sozialstruktur, Lebensführung und Interaktionsformen sind vor allem durch die Erwerbsarbeit an die Betriebe der Agrarcluster und das Leben in den Städten und Dörfern gekoppelt. Die ostelbische Landgesellschaft war eine Arbeitsgesellschaft, eine dominant an Erwerbsarbeit in betrieblicher Organisation orientierte Gesellschaft.
Der Zusammenhang zwischen diesen drei Komponenten - Agrarclustern, Raum-, Siedlungs- und Infrastruktur und Lebenskonstruktionen der Landbevölkerung - war nicht statisch und darf auch nicht im Sinne ländlicher Idylle missverstanden werden. Er befand sich in ständiger Bewegung, entstand und wandelte sich in einem Prozess der "Modernisierungs-Koevolution" von Wirtschaft, Infrastruktur und Sozialstruktur, der schubweise Friktionen und Prekaritäten hervorbrachte, die mit Strukturwandel, Berufswandel, politischen Auseinandersetzungen, Bevölkerungsmigration und Ähnlichem einhergingen und die im Prinzip durch Modernisierungsschübe in Form einer "Transformation", einer veränderten Reproduktion der Kernelemente der ländlichen Gesellschaft (verbunden mit Reformen) immer wieder gelöst wurden.
Entkoppelung von fordistischer Sozialökonomie und ländlicher Gesellschaft
Welches sind die Kernprozesse des Modernisierungsschubs der letzten zwei Jahrzehnte? Offensichtlich überlagern sich hier zwei Prozesse: erstens ein Umbruch im System der agrarischen Massenproduktion, der zur Erosion der Erwerbsarbeit und zur Auflösung der Bindungen fast der gesamten Landbevölkerung an die Agrarcluster führt; zweitens ein kultureller Umbruch in den Lebensführungsmodellen der Individuen und Familien, den wir zunächst skizzieren wollen.
In der bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein noch funktionierenden modernen ländlichen Gesellschaft fungierten Dörfer und Kleinstädte als Schnittstellen, die nicht nur die wirtschaftlichen Prozesse, sondern auch die wichtigsten kulturellen Kommunikationen vermittelten. Insofern waren auch ländliche Gesellschaften an die vor allem von den Großstädten und Ballungsgebieten ausgehenden kulturellen Veränderungen der Moderne gekoppelt. Aber diese Kopplung war vermittelt durch die eigenen kulturellen Konstruktionen der ländlichen Gesellschaft. Veränderungen wurden selektiv und eigensinnig verarbeitet, solange es die eigenen Instanzen waren - Kirche, Vereine, Dorfgemeinschaften, später Kulturhäuser, politische Organisationen und auch die großen Agrarunternehmen selbst (LPG, VEG samt ihrer kulturellen Funktionen und Infrastrukturen). Die "Moderne" auf dem Lande, auch die Lebenskonstruktionen der Landbevölkerung, hatte ein anderes Gesicht als jene der Großstädte: Der Bezug auf die beiden anderen Teile der ländlichen Gesellschaft, die spezifischen Wirtschaftscluster der agrarischen Massenproduktion und die bauliche und infrastrukturelle Konstruktion der Landschaft, blieben erhalten.
Inzwischen hat sich das geändert. Die Mobilität der Landbevölkerung ist enorm gestiegen, ist sie doch heute existenziell für die Lebensführung der Landbevölkerung. Die modernen Kommunikationsmedien - Telefon, Rundfunk, Fernsehen, Printmedien, Internet - verbinden die Landbevölkerung ohne Vermittlung über die eigene Dorfkultur mit den Zentren einer sich globalisierenden Moderne. Dies hatte schon im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder zu bemerkenswerten kulturellen Konflikten zwischen den Generationen und verschiedenen sozialen Gruppen auf dem Lande geführt, auch zu einer systematischen Abwanderung jüngerer Bevölkerung einerseits und einer Gruppe von auf dem Land lebenden Städtern andererseits.
Der Umbruch in der agrarischen Massenproduktion führte in Kombination mit dem Verlust der Bindungen an erwerbsmäßig und berufsförmig an die Landwirtschaft gekoppelten Lebensführungsmodellen zur Zerstörung der Grundlagen der "dörflich-ländlichen Moderne" - ein Prozess, der sich seit den achtziger Jahren vehement durchsetzte. Die ursprünglich funktional auf die ländliche Gesellschaft bezogene Kultur wurde entwurzelt, verkam zur Folklore, wie wir sie in Erntedankfesten, Osterfeuern und Vereinsveranstaltungen antreffen, die nicht wirklich in die Lebenskonstruktion der Landbevölkerung hineinreicht. Die Orientierungen und Lebensperspektiven vor allem der jüngeren Generationen auf dem Lande unterscheiden sich heute kaum noch von denen der in Ballungsgebieten und Großstädten Lebenden, auch wenn sie in der praktischen Umsetzungsform aus "technologischen" Gründen Unterschiede aufweisen.
Der andere oben genannte Kernprozess der gegenwärtig ablaufenden Modernisierung ist der Übergang eines zuvor regional verankerten Modells der landwirtschaftlichen Massenproduktion in lokalen und regionalen Clustern zu einer überregional bzw. global organisierten Agrarwirtschaft, die mit der Auflösung der lokalen Agrarcluster verbunden ist. Die Schnittstellen der landwirtschaftlichen Großbetriebe zu den vor- und nachgelagerten Prozessen weisen heute meist in überregionale Netzwerke und Kreisläufe: Das sind global agierende Lebensmittelkonzerne, große Zulieferbetriebe des Landmaschinenbaus, der Agrochemie, der Saatzucht usw. Lokale Zuliefer- und Verarbeitungsnetzwerke sind überflüssig und ineffizient. Aus den lokalen Agrarclustern wurden binnen acht Jahren überregional organisierte Produktionsverbünde. Alle wichtigen Innovationskompetenzen und -ressourcen dieses Systems sind in der Hand global organisierter oder zumindest global agierender Unternehmen. Sie sind die Motoren der technologischen und organisatorischen Modernisierung der Agrarwirtschaft. Die Standorte der großen Agrarbetriebe befinden sich natürlich noch im ländlichen Raum, aber sie sind kaum noch Teil der ländlichen Gesellschaft. Die Dörfer und Kleinstädte haben ihre Funktion als Schnittstellen in den Agrarclustern verloren. Die Zahl der benötigten Arbeitskräfte ist auf weniger als ein Fünftel zurückgegangen, weil die Produktivität angestiegen ist, noch mehr wegen des Verlustes fast aller Arbeitsplätze in den vor- und nachgelagerten Bereichen. Die Mehrheit der Landbevölkerung lebt inzwischen weder direkt noch indirekt von Erwerbsarbeit in der Landwirtschaft. Und schließlich ist die Synchronität der landwirtschaftlichen Erwerbsarbeit mit dem Leben auf dem Lande kaum noch gegeben.
Mit der Auflösung der für die agrarische Massenproduktion typischen lokalen Cluster geht aber nicht nur die über Erwerbsarbeit vermittelte Bindung an die Landbevölkerung verloren, sondern auch die Beziehung zur räumlichen Organisation, zu den Dörfern und Landstädten. Während die Agrarcluster früher auch die Reproduktion der rural-urbanen Strukturen direkt oder indirekt durchführten - sie hatten die Finanzen, die Baukapazitäten, das Know-how, aber auch das Interesse daran-, ist die Entwicklung der Infrastruktur und die Gestaltung der Kleinstädte und Dörfer heute Aufgabe der Kommunen - aber eben von Kommunen, die aus der Abhängigkeit und Fürsorge der großen Agrarbetriebe und ihrer Netzwerke doppelt "befreit" sind.
Neue soziale Problemlagen
Kulturelle und wirtschaftliche Modernisierung heben die Geschäftsgrundlage der ländlichen Gesellschaft auf. Das Ergebnis ist ein Szenario, das Fragmentierung, Neuorientierung und Gettoisierung in eigentümlicher Weise mischt und bislang keine dominante Linie der Reorganisation erkennen lässt. Unter den dabei zu beobachtenden Prozessen sind vor allem die Folgenden hervorzuheben:
Überflüssige Erwerbsbevölkerung: Erosion der Erwerbsarbeit und Rückgang oder Verlust der Erwerbseinkommen für größere Teile der Bevölkerung. Der Verlust der Erwerbsarbeit und damit der autonomen Existenzgrundlage, Abhängigkeit von Transfereinkommen wächst;
Verlust der bisherigen Funktionen von Dörfern und Landstädten, damit auch Aufhebung der bisher strukturbestimmenden Entwicklungsgrundlage;
Abwanderung und demographischer Strukturwandel: Bevölkerungsrückgang, Alterung, Qualifikationsverlust, Veränderung der Geschlechterproportionen;
Funktionsverlust alter, an den Zusammenhang zur Wirtschaftsstruktur gebundener sozialer Netzwerke; Rückgang der sozialen Bindungen und Ausdünnung sozialer Netzwerke speziell für "Überflüssige"; Gettoisierung sozialer Problemlagen;
Ausdünnung der Infrastruktur: Zunahme der Entfernungen zu wichtigen öffentlichen Dienstleistungen und Infrastrukturangeboten (Schulen, Bildung, Versorgung, Gesundheit) bei gleichzeitig differenzierter Entwicklung der Qualität der verschiedenen Infrastrukturen.
Steigende Lebenshaltungskosten in einigen Bereichen (Strom, Lebensmittel), abnehmende Differenzierung des Versorgungsangebots.
Von 1990 bis 2003 hat beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern fast neun Prozent seiner Bevölkerung verloren. Entsprechend gehen soziale und infrastrukturelle Dienstleistungen aller Art zurück. Schulen werden - oft gegen heftigen Widerstand - geschlossen, Ärzte händeringend gesucht, der öffentliche Nahverkehr wird auf Tagesrandverbindungen ausgedünnt, Ämter werden in entfernte Kreisstädte verlagert, kulturelle Einrichtungen geschlossen, Weiterbildungsmöglichkeiten entfallen. Für die Bevölkerung wird Mobilitätsfähigkeit zur zentralen Ressource des Alltags. Junge Männer, die ihren Führerschein verloren haben, verlieren oft genug gleichzeitig ihre Arbeitsstelle - und haben kaum die Chance, eine neue zu finden. Dieses Mobilitätsproblem hat nicht nur eine Kostendimension und belastet das tägliche Zeitbudget. Man geht nicht mehr aus dem Haus, Jugendliche kommen nur noch bis zur Tankstelle oder dem Buswartehäuschen - an dem kein Bus mehr hält.
Mit ihren individuellen Bewältigungsressourcen treffen die Menschen im ländlichen Raum Ostdeutschlands auf die skizzierten Rahmenbedingungen zur Bewältigung ihres Alltags und zur Realisierung ihrer Lebensentwürfe. Ihre individuellen Voraussetzungen (oder Bewältigungsressourcen) sind nicht schlechter oder besser ausgeprägt als in anderen Gegenden Deutschlands auch. Zum Defizit bzw. gefährdend für die Bewältigung des Alltags wird die Ausprägung der individuellen Bewältigungsressourcen erst an den Schnittstellen zu den äußeren Rahmenbedingungen, die kaum noch gesellschaftliche/öffentliche Bewältigungsmöglichkeiten vorhalten. Wenn kein Bus mehr fährt und kein Auto zur Verfügung steht, muss dass Kind zu Hause bleiben und die Betreuungsperson kann nicht zur Arbeit gehen - sofern sie überhaupt eine hat.
Eine Untersuchung - finanziert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung - zu neuen sozialen Problemlagen in ländlichen Krisenregionen erbrachte erste, zum Teil nicht-repräsentative Ergebnisse über die Lebenssituation von Menschen im ländlichen Raum Nordostdeutschlands.Das Neue an den dabei analysierten sozialen Problemen ist, dass es sich häufig um multiple Problemlagen handelt, die als Kombination mehrerer Probleme darzustellen sind.
Es ist die dichte Koppelung von individuellen Gefährdungsbereichen und (zurückgebauten) "öffentlichen" Bewältigungsmöglichkeiten, die auf individueller Ebene zu prekären Lebenslagen führt. Dies soll im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden.
Die individuellen Bewältigungsvoraussetzungen lassen sich wie in Abbildung 1 dargestellt quantifizieren (vgl. PDF-Version). Ein Gefährdungsbereich liegt bei einer Person dann vor, wenn wenigstens eines der oben aufgeführten Gefährdungselemente (rechte Seite) vorliegt. Einzelne Gefährdungsbereiche kombinieren sich zu Risikolagen. Es kann eine Erwerbsgefährdung vorliegen (zum Beispiel bei niedrigem Schulabschluss), aber zugleich eine hohe Mobilitätsbereitschaft bzw. -fähigkeit gegeben sein (noch 20 Prozent der Männer sind bereit, täglich mehr als 100 Kilometer zu pendeln). Dann führt die individuelle Erwerbsgefährdung nicht zwangsläufig zu Erwerbslosigkeit; die Arbeitskraft kann in weiter entfernt liegenden Regionen angeboten werden. Ist aber die Mobilität eingeschränkt und der Bildungsstand niedrig (bei einer kleinen Gruppe von jungen Männern bis 25 Jahre ist dies der Fall), dann steht es schlecht um die Aufnahme einer Erwerbsarbeit, auch wenn es in weiter entfernt liegenden Regionen Arbeitsplätze geben würde. Tatsächlich ist in unserem Sample die Gefahr, arbeitslos zu werden, bei vorliegender Erwerbsgefährdung und vorliegender Mobilitätseinschränkung mehr als doppelt so hoch wie ohne eingeschränkte Mobilität (allerdings nur wenige Fälle).
Risikolagen selbst unterscheiden sich durch eine vielfältige Kombination ihrer Gefährdungsbereiche, wie Abbildung 2 zeigt (vgl. PDF-Version). Deutlich wird die herausragende Stellung der Erwerbsgefährdung. Ist keine Erwerbsgefährdung vorhanden (linke Seite), dann führen nur noch fehlende materielle Ressourcen und fehlende Mobilität zu einer Risikolage. Demgegenüber führt eine vorhandene Erwerbsgefährdung stets zu Risikolagen (aufgenommen sind nur Kombinationen mit einer größeren Fallzahl als 20).
Die personenbezogene Anlage der Untersuchung erlaubt es nun, die unterschiedlichen Kombinationen von Gefährdungsbereichen (Risikolagen) unter anderem nach sozialdemographischen Aspekten auszuwerten. Dies soll hier für die Situation der Frauen geschehen: Frauen sind etwas häufiger von familialen und Mobilitätseinschränkungen betroffen als Männer. Wenn sie Mobilitätseinschränkungen aufweisen und familiale Verpflichtungen übernehmen (also weniger "verfügbar" sind), geht dies öfter als bei Männern mit dem Risiko einher, "arm" zu sein oder zu werden. Aber: Erwerbsgefährdung als einziger Gefährdungsbereich kommt bei Frauen nur etwa halb so häufig vor wie bei Männern. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass Erwerbsgefährdung zusammen mit anderen Gefährdungsbereichen auftritt und sich eine Risikolage herausbildet, bei Frauen um 40 Prozent höher als bei Männern. Die Mobilitätsgefährdung ist fast dreimal, Einkommensgefährdung und Mobilitätsgefährdung sind doppelt so hoch. Letztlich bestätigt sich damit die oft beschriebene Situation von Frauen, die zwar "gute" Voraussetzungen für eine Platzierung auf dem Arbeitsmarkt mitbringen, weil sie im Schnitt bessere Bildungsvoraussetzungen vorweisen können, aber durch gesellschaftsspezifische Rollen- bzw. Situationszuweisungen offensichtlich gehindert werden, von diesen "guten" Voraussetzungen Gebrauch machen zu können.
Aus den Daten der Untersuchung kann in Bezug auf die soziale Lage der ländlichen Bevölkerung der Schluss gezogen werden, dass Risikolagen zeitlich umso stabiler sind - die Personen also lange in diesen Risikolagen verharren -, desto dichter die Verschränkung der einzelnen Gefährdungsbereiche der individuellen Risikolage ist. Innerhalb der Risikolage bewirken Änderungen (nur) eines Gefährdungsbereichs (zum Beispiel durch gezielte Interventionen einer Sozialleistungsbehörde) oder der Verlust einer Bewältigungsressource (zum Beispiel das Versagen des Autos am Morgen) oft unabschätzbare oder unerwartete Folgen für alle anderen Gefährdungsbereiche der jeweiligen Risikolage. Meist findet dann innerhalb der Risikolage eine neue Kombination von Gefährdungsbereichen statt, ohne dass sich die Risikolage auflösen würde.
Als Beispiel dafür, wie eng die verschiedenen Gefährdungsbereiche miteinander verschlungen sind und wie weit der Weg ist, eine davon determinierte Risikolage zu verlassen, kann eine "aufstockende", alleinerziehende ALG-II-Empfängerin dienen. "Aufstockend"bedeutet, dass sie neben ihrem Einkommen noch "HartzIV"-Empfängerin ist. In diese Situation ist sie gekommen, weil sie mit ihrem mittlerweile 18jährigen Sohn eine Bedarfsgemeinschaft bildet. Dem Sohn wurde wegen fortgesetzten unentschuldigten Fehlens sein berufsvorbereitendes Jahr gekündigt. Daraufhin meldete sie ihn beim Träger der Grundsicherung (Arge) an. Der bewilligte ihr, weil sie in ihrem befristeten Job gerade einmal 5,70 EUR brutto verdient, einen Wohnkostenzuschuss. Sie wiederum erwartete vom Fallmanagement der Arge, dass ihrem Sohn geholfen würde, endlich eine ordentliche Ausbildung zu beginnen und die dafür notwendigen sozialisatorischen Fähigkeiten zu entwickeln (z. B. Konzentrationsfähigkeit, morgens aufzustehen oder verbindliche Absprachen zu treffen). Er "brauche mehr Druck vom Arbeitsamt". Sie "allein komme mit dem Problem nicht zurecht", zumal sie ja jeden Tag von morgens 6 Uhr bis abends 17 Uhr im "Kühlraum am Band" stehe. Da sie kein eigenes Auto hat, bilde sie mit einem ebenfalls nur befristet beschäftigten Kollegen eine Fahrgemeinschaft in die 30km entfernt liegende Kreisstadt. Verdiente sie nun eines Tages etwas mehr für ihre Arbeit am Fließband, gelänge ihr zwar der Ausstieg aus HartzIV, jedoch bliebe sie extrem abhängig vom Fahrarrangement mit dem Kollegen und vom Arbeitgeber wegen der halbjährlichen Befristung. Dagegen verlöre sie die Unterstützung des Fallmanagements für ihren Sohn. Würde dagegen dem Kollegen der Vertrag nicht verlängert, stünde auch ihr Job auf dem Spiel. Sollte der Sohn - wie viele andere in seiner Lage - die Region verlassen, hätte sich damit noch nichts an der Einkommens-, Erwerbs- und Mobilitätsverwundbarkeit geändert. Um die Stabilität der Risikolage aufzubrechen, müsste es ihr gelingen, in einem entfristeten Arbeitsverhältnis so viel mehr Geld zu verdienen, dass es für ein eigenes Auto reichte. Gleichzeitig müsste ihr Sohn eine Lehre beginnen - und möglichst beenden, damit von dem Mehrverdienst nicht alles für das notwendige Auto und den nichtbeschäftigten Sohn aufgezehrt würde. Schon allein der Verdienstzugewinn scheint in weiter Ferne, vielmehr noch der Berufseinstieg des Sohnes, den der Fallmanager für einen "hoffnungslosen" Fall hält.
Ungefähr 30 Prozent der Befragten weisen solche dicht verkoppelten Gefährdungsbereiche auf, zeichnen sich in ihrer Bewältigungsfunktion durch einen ständigen Wechsel der Bedeutung einzelner Gefährdungsbereiche aus und verharren trotzdem in ihrer schwierigen Lebenslage. Vielmehr bilden sich durch die Kombination von Gefährdungslagen und durch die Auflösung der gesellschaftlichen Bewältigungsbedingungen spezifische Kohorten - also Jahrsgangsgruppen - heraus, für die auch für die Zukunft eher ein Verweilen in der Prekarität prognostiziert werden kann. Dies sind vor allem: - Die jetzt unter 30-Jährigen, die zurzeit auf Suche nach Arbeit oder arbeitslos gemeldet sind (15,4 Prozent) und die nur einen kleinen Bewerbungsradius aufweisen (25 Prozent) bzw. bei denen beide Risiken vorliegen (26,3 Prozent der Arbeitslosen bzw. Arbeitssuchenden haben einen Bewerbungsradius von unter 20 Kilometern): Von den Mitgliedern dieser Altersgruppe waren 45 Prozent in den letzten fünf Jahren arbeitslos, 5 Prozent von ihnen beziehen Sozialhilfe (Stand 2003), und immerhin fast 10 Prozent waren zum Zeitpunkt der Befragung langzeitarbeitslos. In Ostdeutschland ist der Anteil der instabilen bzw. unterbrochenen Beschäftigungen in der Kohorte der bis 30-Jährigen etwa doppelt so hoch wie in Westdeutschland. - Die jetzt über 50-Jährigen, für die für einen beträchtlichen Teil ihrer Mitglieder die Gefahr von Altersarmut vorausgesagt werden kann: Dies ist vor allem dem großen Anteil instabiler oder unterbrochener Erwerbsverläufe in dieser Gruppe geschuldet. In dieser Haushaltsbefragung gaben fast 20 Prozent der über 50-Jährigen an, in den letzten fünf Jahren (durchschnittlich zweimal) arbeitslos gewesen zu sein, 4,3 Prozent bezogen Sozialhilfe (Stand 2003), 6,9 Prozent waren teilzeitbeschäftigt, 20 Prozent waren zum Zeitpunkt der Befragung arbeitslos, von diesen wiederum fast jeder Dritte langzeitarbeitslos. Unstete Erwerbsbeteiligung, unzureichende Bezahlung und "Maßnahmekarrieren" führen jedoch zu geringeren Ansprüchen auf Altersrente, die durch private Zuzahlungen nicht aufgestockt werden kann. Das Risiko der Altersarmut besteht für schätzungsweise 20 bis 25 Prozent der jetzt 50-Jährigen.
Diese und andere Einzelbefunde lassen sich begrifflich als neue soziale Problemlagen fassen: Es handelt sich dabei nicht um einzelne oder wenige spezielle, sondern um mehrere Probleme in Kombination; nicht selten treten fast alle möglichen Probleme in verschiedenen Varianten und Verbindungen auf.Zwischen Umbruch und Auflösung
Diese multiplen Problemlagen deuten gerade auf das Besondere einer in Auflösung befindlichen ländlichen Gesellschaft hin. Zwar beginnt die Entwicklung einer sozialen Problemlage meist mit einem einzelnen und spezifischen Problem: Jemand wird arbeitslos, eine Familie löst sich wegen einer Scheidung auf, durch Fehler kommt es zu einer Verschuldung, durch Krankheit wird ein Familienernährer erwerbsunfähig. Solche spezifischen Problemlagen blieben dann temporärer Art, wenn es den Individuen gelänge, aus eigener Kraft oder mit Unterstützung von außen das Problem zu überwinden.
Im gegenwärtigen Umbruchs- und Auflösungsszenario aber verstärken sich die genannten einzelnen sozialen Probleme regelmäßig, ziehen weitere Probleme nach sich, werden zu Dauerproblemen, wachsen sich also zu einer multiplen Problemlage aus. Dies hat zwei Gründe:
Erstens verfügen die Individuen und Haushalte selbst über nur sehr geringe Möglichkeiten, entstandene Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Hier haben wir es mit einem eigenen Gefährdungsbereich zu tun. Die Fähigkeit, die Lebensführung neu zu arrangieren, ein entstandenes Problem durch Restrukturierung des eigenen Lebensmodells zu lösen, eine veränderte Lebensperspektive zu gewinnen, hängt von eigenen Ressourcen ab - und die sind in den Umbruchskonstellationen oft am Limit: Man kommt gerade so zurecht, aber passieren darf nichts. Zweitens hängt die Möglichkeit zur Überwindung entstandener Probleme vom Umfeld, also von den Möglichkeiten ab, die der wirtschaftliche und soziale Kontext und die sozialstaatlichen Hilfsangebote liefern. Die trivialste, aber wichtigste Komponente ist das Angebot an Arbeitsstellen, das in dem Krisen- und Umbruchsszenario fast nicht vorhanden ist. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist dann schon beinahe eine Katastrophe, ein neuer Arbeitsplatz ist kaum zu finden. Diese Situation reduziert auch die Möglichkeit, andere Probleme durch den Wechsel eines Arbeitsplatzes zu lösen. Die hohe Arbeitslosigkeit und der fortschreitende Verlust gut bezahlter Vollzeitarbeitsplätze betreffen also nicht nur die Problemlösungskapazitäten der Arbeitslosen, sondern schränken auch die der Beschäftigten enorm ein.
Die Erosion der Fähigkeit der Menschen, ihre sozialen Probleme selbst zu lösen - ob nun mit oder ohne Unterstützung von außen-, erklärt sich zentral aus dem Umbruch der Erwerbsarbeit und der hohen Arbeitslosigkeit, aber sie reduziert sich nicht darauf. Der Verlust sozialer Netze und der gewohnten Art öffentlicher Dienstleistungen sind weitere Komponenten. Der Rückgriff auf die alten Netzwerke, vor allem die der Betriebsbelegschaften oder der Schule, ist nicht mehr möglich. Die neu entstehenden Netzwerke - wie zum Beispiel die Träger und Vereine arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen - leiden zum Teil an ähnlichen Problemen wie die Menschen, denen sie bei der Lösung ihrer Probleme Hilfe leisten sollen. Das gesellschaftliche Netz, das Unterstützung und Halt bieten könnte, ist besonders da sehr dünn, wo neben der wirtschaftlichen Entbettung im Zuge des infrastrukturellen Rückbaus die Knotenpunkte dessen, was gesellschaftliches Leben ausmacht, aufgeben werden (Gemeindeverwaltungen, öffentlicher Nahverkehr, Schulen, Ärzte, Sportvereine, Jugendclubs). Auch der Zugriff auf gesetzlich geregelte Sozialleistungen hängt von Kompetenzen, Mobilität und Unterstützung ab, das heißt, er ist für manche Personen einfach, für andere schwer.
Spezifisch entstandene Problemlagen kumulieren also im Umbruchs- und Auflösungsszenario zu multiplen Problemlagen, erstens weil die Betroffenen selbst keine oder zu geringe Reserven und Kapazitäten zur Lösung des entstandenen Problems haben, zweitens weil das Umfeld zu wenige Möglichkeiten und Ansätze zu einer dem Problem angemessenen Reorganisation der eigenen Lebensführung bietet und drittens weil die im Umfeld vorhandenen Unterstützungsangebote entweder nicht passen, das Problem nicht lösen können, ganz fehlen oder schwer zugänglich sind.