Spätestens seit 2016, mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, dem Brexit-Referendum sowie den Datenskandalen um Facebook und Cambridge Analytica, tobt eine globale Debatte über digitale Kommunikation und Demokratie. Die einst mit dem Internet verbundenen emanzipatorischen Hoffnungen sind in den Hintergrund getreten. Kaum ein Wahlkampf, bei dem nicht über die digitale Verbreitung von Falschmeldungen oder Hetze diskutiert oder gar versteckte Manipulation vermutet wird. Auch kommerzieller Datenmissbrauch und die Macht der Tech-Plattformen sind in den Fokus gerückt.
Parlamente in aller Welt haben Untersuchungen angestoßen. Ironischerweise war es ausgerechnet der Einsatz von Daten in politischen Kampagnen, der die Debatte über unsere digitale Infrastruktur erst ausgelöst hat. Es geht dabei unter anderem um datengetriebenes "Microtargeting" – also um Praktiken, bei denen kleine Gruppen auf Basis von Datenanalysen mit fein abgestimmter Kommunikation politisch beeinflusst werden sollen.
Cambridge Analytica und die Trump-Wahlkampagne
Es ist kein Wunder, dass die Beteiligung der Datenfirma Cambridge Analytica bei den Kampagnen für den Brexit und die Wahl Trumps Besorgnis erregt hat. Das Unternehmen hat umfassende Datenbanken über ganze Bevölkerungen zusammengestellt, mit Tausenden Merkmalen pro Person. Mit Hilfe eines Online-Quiz wurde auf Profildaten von 87 Millionen Facebook-NutzerInnen zugegriffen und diese mit Informationen aus Wahlregistern und von privaten Datenhandelskonzernen verknüpft.
Die Trump-Kampagne hat im letzten Monat vor der Präsidentschaftswahl fast eine Million US-Dollar täglich für Online-Werbung ausgegeben, mit einem Fokus auf wenige Bundesstaaten.
Welche Rolle die Daten- und Analysekapazitäten von Cambridge Analytica dabei genau gespielt haben, ist nach wie vor nicht geklärt. Die Firma hat sich aggressiv selbst vermarktet, die Effektivität ihrer "psychometrischen" Datenanalysen wird allerdings infrage gestellt.
Ist Microtargeting also für den Wahlsieg von Trump verantwortlich? Allein sicher nicht. Aber hat es eine Rolle gespielt? Welche Wirkung haben derartige Praktiken? Die Antwort ist: Wir wissen es nicht genau. Ein kürzlich veröffentlichter Überblick zum Forschungsstand diagnostiziert "fehlende Transparenz und viele offene Fragen".
Auch wenn Parteien in Europa betonen, Datenschutz zu respektieren, machen auch sie sich vielfach eine Infrastruktur zunutze, die letztlich auf permanenter Echtzeit-Überwachung großer Teile der Bevölkerung beruht. Digitales Marketing basiert auf komplexen Mechaniken, die sowohl aus der Makro- wie aus der Mikroperspektive betrachtet werden müssen. So kann Online-Targeting im Einzelfall ungenau sein und große Streuverluste in Kauf nehmen – aber in Summe trotzdem Verhalten verändern. Meist sind nicht Einzelne das Ziel, sondern Gruppen mit bestimmten Eigenschaften. Basis ist trotzdem die flächendeckende Erfassung und Verknüpfung von Daten auf individueller Ebene. Um zu verstehen, wie Online-Targeting eingesetzt werden kann, ist es notwendig, die Funktionsweise der digitalen Klick-Ökonomie genauer zu betrachten.
Beeinflussungsmaschine Klick-Ökonomie
Seit etwas mehr als zehn Jahren werden Daten zur individuellen Adressierung von Online-Werbung eingesetzt.
Unsere Kommunikationsinfrastruktur ist heute auf vielen Ebenen von dieser Logik geprägt. Nicht nur soziale Beziehungen, sondern auch mediale Inhalte und öffentliche Debatten werden immer mehr von digitalen Umgebungen geformt, die auf die Maximierung von Klicks und Interaktionen sowie auf die Verwertbarkeit von Verhalten hin optimiert sind. Dabei ist die Klick-Ökonomie stark von Betrug geprägt: Stimmen aus der Industrie schätzen, dass ein Viertel der Klicks nicht von realen Menschen stammen und Werbetreibenden dadurch ein Schaden von 20 bis 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr entsteht.
Im Unterschied zu früher kann heute aber nicht nur das Zielpublikum einer bestimmten Zeitung oder einer TV-Sendung angesprochen werden. Es können quer durch die Bevölkerung Menschen mit bestimmten Eigenschaften gefunden und adressiert werden – durch die flächendeckende Erfassung und Verknüpfung personenbezogener Daten über viele Firmen hinweg. In einer Studie des US-Forschungsinstituts Data & Society ist von einer "digitalen Beeinflussungsmaschine" die Rede, die sowohl kommerziell als auch politisch genutzt werden könne.
Rasterfahndung und Verhaltensmanagement mit Facebook
Facebook spielt mittlerweile eine wichtige Rolle in der Politik. Ausgangspunkt für den Einsatz sind die sogenannten Seiten von Parteien und PolitikerInnen auf der Plattform. Deutsche Parteien betreiben jeweils bis zu 1500 Facebook-Seiten, von Ortsgruppen bis zur Bundesebene.
Facebook bietet viele Funktionen an, um in diese Dynamiken einzugreifen. Dazu sortiert die Plattform ihre NutzerInnen in Hunderttausende Kategorien entlang demografischer Eigenschaften, Interessen und Verhaltensweisen – darunter viele sensible Attribute, aus denen etwa die politische Einstellung abgeleitet werden kann.
Eine zentrale Komponente der Targeting-Mechaniken auf Facebook sind die sogenannten Audiences.
Digitale Zwillinge und Daten abseits von Facebook
Genau genommen sind Audiences auf Facebook keine statischen Listen, sondern dynamische Bündel aus Regeln. Welche NutzerInnen enthalten sind, wird abhängig von deren Verhalten in Echtzeit aktualisiert. Es können viele unterschiedliche Audiences verwaltet und verknüpft werden. Schließlich kann Facebooks mächtige "Lookalike"-Mechanik dazu genutzt werden, um digitale Zwillinge zu finden – also Personen mit möglichst ähnlichen Verhaltensweisen. Politische Kampagnen können so zum Beispiel mit eigens erstellten – und nur für bestimmte Gruppen sichtbaren – Inhalten eine kleine Zahl von wütenden Menschen in einer Audience "einfangen". Facebook sucht dann über die Bevölkerung hinweg nach ähnlichen und besonders aktiven Personen, die als Hebel zur Reichweitensteigerung eingesetzt werden können. In Österreich waren im Wahlkampf 2017 zum Beispiel nur 8900 Personen für die Hälfte aller Facebook-Kommentare verantwortlich
Audiences können auch auf Basis von Daten erstellt werden, die außerhalb von Facebook erfasst wurden. Einerseits können politische Kampagnen den sogenannten Facebook-Pixel in ihre Websites und Apps einbauen – ein kleines Programm, das Nutzungsdaten an die Plattform überträgt. Wer die betroffenen Websites oder Apps nutzt, wird von Facebook identifiziert und in Echtzeit Teil einer Audience, die dann dort weiter eingesetzt werden kann. Andererseits können mit sogenannten Custom Audiences Listen mit Namen, Telefonnummern oder E-Mail-Adressen an Facebook geschickt werden.
Facebook verkauft eine Vielzahl an Funktionen, die es ermöglichen, NutzerInnen zu finden, die sich wahrscheinlich wie gewünscht verhalten – also auf bestimmte Inhalte klicken, sie kommentieren oder teilen – und hilft dabei nach, dass sie sich so verhalten. Denn die Anregung möglichst vieler Interaktionen liegt dem Geschäftsmodell der Plattform zugrunde. Je provokativer die Inhalte, desto günstiger wird es, sie bezahlt zu verstärken. Basis dafür sind die Datenbestände von Facebook. Mit dem Facebook-Pixel und Custom Audiences potenzieren sich die Möglichkeiten, denn damit können politische Kampagnen jegliches Verhalten außerhalb der Plattform zur Grundlage für ihre Aktivitäten auf Facebook machen. Letztlich kann so alles zur Audience werden – egal ob ein Auszug aus einer Wählerdatenbank, die BesucherInnen eines ganz bestimmten Artikels auf einer Website oder Listen von Personen, die von Datenhandelsfirmen oder Analysedienstleistern wie Cambridge Analytica zusammengestellt wurden.
Das manipulative Potenzial vervielfacht sich, sobald mit NutzerInnen so lange experimentiert wird, bis sie sich verhalten wie gewünscht – wenn sie also etwa einen Beitrag aufrufen oder teilen. Facebook bietet diesbezüglich an, automatisiert verschiedene Kombinationen von Texten, Bildern und Videos zu testen.
Trumps Team hat auch abseits von Wahlen Tausende Facebook-Werbeanzeigen im Einsatz, nach eigenen Angaben "um zu testen und zu lernen".
Google bietet ähnliche Funktionen, inklusive der Einbindung von extern erfassten Daten. Abseits der großen Plattformen können derartige Audiences – also regelbasierte Listen über Einzelpersonen und deren Verhalten – nahezu grenzenlos und in Echtzeit zwischen Hunderten Anbietern verschoben werden.
Wählerdaten in den USA und der EU
Online-Microtargeting ist im Grunde die konsequente Weiterentwicklung traditioneller Instrumente: Politische Kampagnen setzen schon seit Langem datenbasierte Methoden ein, um UnterstützerInnen zu mobilisieren, Unentschlossene zu überzeugen, Mitglieder zu rekrutieren, Freiwillige einzubinden oder Spenden zu akquirieren – und umgekehrt um andere Kampagnen zu sabotieren.
In Kombination mit Daten aus Wahlergebnissen, Geo- und Soziodemografie, Fokusgruppen und Umfragen werden statistische Modelle erstellt, mit denen die Wahlbevölkerung in größere bis sehr kleine Gruppen unterteilt wird. Darüber hinaus wird für jede Person eine Prognose über das Wahlverhalten berechnet.
In Großbritannien verwenden Parteien zentralisierte Wählerdatenbanken ähnlich wie in den USA.
Neben Eigenentwicklungen sticht hier Nationbuilder heraus, eine integrierte Kampagnen- und Datenplattform, die weltweit tausendfach eingesetzt wurde – sowohl von Trump und 3000 anderen politischen Kampagnen in den USA als auch von der Wahlkampagne des heutigen französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Chancen, Risiken, Handlungsoptionen
Wie wirkt sich datenbasiertes Microtargeting letztlich gesellschaftlich aus? Was die potenziell positiven Wirkungen angeht, gibt es die Hoffnung, dass diese Art der gezielten Ansprache politische Mobilisierung, Interesse und Partizipation stärken und damit gar die Wahlbeteiligung erhöhen könnte. Kampagnen könnten thematisch vielfältiger werden und BürgerInnen angesichts beschränkter Aufmerksamkeit besser informierte Wahlentscheidungen treffen. Zudem könnten sich Vorteile für kleinere politische AkteurInnen ergeben – solange nicht auch finanzstarke Kräfte entsprechend aufgerüstet haben.
Umgekehrt bedroht exzessive Datenerfassung durch politische Parteien Privatsphäre und Autonomie. Dies kann eine abschreckende Wirkung hinsichtlich freier Meinungsäußerung und politischer Beteiligung haben. An kleine Gruppen angepasste Kommunikation ermöglicht gezielte Irreführung bei minimaler Nachvollziehbarkeit. Selbst wenn keine plumpen Falschinformationen zum Einsatz kommen, können unterschiedliche Schwerpunkte hervorgehoben werden, was zu einer verzerrten Wahrnehmung politischer Prioritäten führen kann. Microtargeting macht es außerdem sehr viel ökonomischer, diejenigen Teile der Bevölkerung, die als nicht mobilisierbar eingestuft werden, auszuschließen. In Summe könnte datenbasiertes Microtargeting gesellschaftliche Debatten fragmentieren sowie das Vertrauen in Politik und demokratische Institutionen weiter unterminieren.
Können damit tief greifende politische Überzeugungen auf Knopfdruck manipuliert werden? Natürlich nicht. Wenn es Effekte gibt, sind sie sehr viel indirekter. Möglicherweise sind die geschilderten Praktiken nicht einmal sonderlich wirksam, erzeugen aber trotzdem Kollateralschäden für Öffentlichkeit und Demokratie – oder wir sehen erst die Anfänge dessen, was möglich ist.
Was also tun? Unbestritten ist, dass viel mehr Forschung nötig ist und Online-Targeting auf allen Ebenen transparent werden muss – nicht nur Inhalte, Kanäle und Zeiträume, sondern auch Budgets und genutzte Daten müssen nachvollziehbar sein. Datenschutzrecht muss auch bei politischen Parteien durchgesetzt werden, insbesondere im Online-Bereich, bei Kampagnenplattformen sowie bei der Verknüpfung unterschiedlicher Datenbanken. Darüber hinaus müssen EU-weit die Regeln für politische Werbung an das digitale Zeitalter angepasst werden. Wo für Chancengleichheit und Demokratie nötig, haben sich Parteien auch schon früher auf Beschränkungen bei Wahlwerbung geeinigt. Viele Problematiken stellen sich aber sowohl im kommerziellen als auch im politischen Bereich – von personalisierter Manipulation und Experimenten in digitalen Umgebungen bis zur Macht der Tech-Plattformen.