Das Oberlandesgericht Nürnberg hatte 2016 einen Fall zu entscheiden, der auf den ersten Blick wenig aufregend scheint.
Der Rechtsstreit ist symptomatisch für die Verschiebungen im Wettbewerbsgefüge einer datengetriebenen Ökonomie. Daten sind zu einem entscheidenden Wettbewerbsparameter geworden. Neue Angebote drängen in den Markt und treten in Konkurrenz zu etablierten Geschäftsmodellen, was zu Verteilungskämpfen führt, die auch mit rechtlichen Waffen gefochten werden. So willkommen der Wettbewerb ist, so wenig sollte übersehen werden, was eigentlich das Neue ist. Die App-Anbieter vermitteln Aufträge. Sie senken die Suchkosten und führen auf bequeme Weise Anbieter und Nachfrager zusammen. Die eigentlich relevante Leistung bleibt aber die Beförderung eines Fahrgastes. Das erledigt kein Silicon-Valley-Unternehmen, sondern ein selbstständiger Taxler mit überschaubarem Verdienst.
Entwicklung des Kartellrechts: Zähmung der Titanen
Das Beispiel aus Nürnberg zeigt auch, wie sehr sich in kurzer Zeit die Erwartungen an die Ordnung des Wettbewerbs – und diese leistet das Kartellrecht – gewandelt haben. Denn inzwischen wird nach den Regeln zum Schutz des Wettbewerbs nicht mehr primär gerufen, um Schneisen für datenbasierte Geschäftsmodelle zu schlagen. Vielmehr sollen mit rechtlichen Regeln nun die Auswüchse eines Wildwest-Kapitalismus eingefangen werden. Selbst der des Sozialismus unverdächtige "Economist" rief 2018 nach einer Zähmung der Technologie-Giganten.
Kartellrecht hat die Aufgabe, den wirtschaftlichen Wettbewerb zu schützen: Unternehmen sollen in Rivalität miteinander in das Ringen um Angebot und Nachfrage eintreten. Sie dürfen sich nicht zu Lasten ihrer Abnehmer absprechen; wenn sie wirtschaftlich mächtig sind, dürfen sie ihre Macht nicht missbrauchen. Adam Smith, der vom Moralphilosophen zum ersten modernen Wirtschaftswissenschaftler wurde, hatte solche Grundbedingungen des Funktionierens von Märkten in einer freien Wirtschaft schon in seinem epochemachenden Werk "Der Wohlstand der Nationen" 1776 erkannt. In rechtliche Regelungen wurden die Erkenntnisse zuerst Ende des 19. Jahrhunderts in Kanada und den USA übersetzt. In den USA waren einzelne Unternehmensgruppen (Trusts), etwa die von John Rockefeller oder J.P. Morgan, so mächtig geworden, dass sie ökonomisch kaum mehr kontrolliert werden konnten. Niedrige Preise für Verbraucherinnen und Verbraucher oder technische Fortentwicklungen sind aber nicht zu erwarten, wenn Unternehmen zu mächtig werden und ihnen die Kontrolle durch den Wettbewerb fehlt. Darum wurden die ersten Wettbewerbsgesetze geschaffen.
Doch der Impuls war nicht nur das Streben nach Effizienz. Von Beginn an war das Kartellrecht auch politisch gedacht. Dem Senator John Sherman, nach dem das amerikanische Antitrustgesetz von 1890 bis heute benannt ist, war auch der Einfluss der Trusts auf das politische Geschäft ein Graus. Ganz ähnlich ist auch die deutsche und europäische Kartellrechtsgeschichte von einem doppelten Impuls geprägt: In Deutschland wurde das GWB auf Drängen der US-amerikanischen Befreier 1958 eingeführt. Parallel wurde im europäischen Recht das Kartellrecht verankert. Einflussreich waren damals die Vorstellungen der ordoliberalen Denker der Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm, die in Wirtschaftsminister Ludwig Erhard einen Partner fanden. Der Freiburger Schule galt Kartellrecht als notwendiger Rechtsrahmen für eine effiziente Wirtschaft, in der sich Unternehmen immer aufs Neue beweisen müssen. Böhm sah den Wettbewerb aber auch als "genialstes Entmachtungsinstrument der Geschichte"
Von dieser ideengeschichtlichen Grundierung löste sich das Kartellrecht im Laufe seiner Anwendungspraxis, es wurde regelrecht entpolitisiert. Insbesondere die in den USA erfolgreiche Chicago School verrückte die Ziele des Kartellrechts und auch die Interventionsschärfe; ab den 1980er Jahren wurde das Kartellrecht einseitig auf die Sicherung niedriger Verbraucherpreise ausgerichtet. Von echten Kartellen, also Preisabsprachen von Wettbewerbern, abgesehen fand eine Durchsetzung in den USA kaum mehr statt. Die Nachweisanforderungen für eine behördliche Intervention in den Wettbewerb stiegen erheblich. Zwar wurde dieser Laisser-faire-Ansatz in Deutschland und Europa nicht in gleicher Weise nachvollzogen. Doch ökonomische Berechnungen (statt rechtlicher Wertungen) und Schutz des Verbrauchers (statt Schutz des Wettbewerbsprozesses) wurden auch hier bedeutsamer. Dieser "more economic approach" wird erst seit Kurzem wieder kritischer gesehen.
Während das Kartellrecht derzeit in diesem nervösen Selbstfindungsprozess steckt, kommt es zu Disruptionen in der Wirtschaft. Inzwischen gibt es keine Branche mehr, die nicht komplett digitalisiert und damit umgewälzt wird. Darauf war und ist das Kartellrecht nicht vorbereitet, obwohl es seine Aufgabe ist, das Funktionieren der Marktwirtschaft abzusichern.
Veränderungen des Wettbewerbs: Neue Planwirtschaft?
Die Digitalisierung hat die Marktwirtschaft nicht nur durch neue Produkte oder Dienstleistungen bereichert, sondern ihre Strukturen grundlegend verändert. Das Kartellrecht steht damit vor ungekannten Phänomenen. Charakteristisch ist die Veränderung des Wettbewerbs durch datengetriebene Plattformen, die in kurzer Zeit in verschiedenen Märkten so gewaltige Macht entfalten, dass traditionelle Strukturen erschüttert und teilweise ersetzt werden.
Die bedeutendsten Unternehmen der Welt, gemessen an ihrem Börsenwert, sind Plattformunternehmen. Online-Plattformen führen verschiedene Nutzerinnen und Nutzer zusammen, sei es zur Kommunikation oder zum Matching von Angebot und Nachfrage.
Diese "Plattformisierung" hat die Wirtschaft massiv verändert und den GAFA-Unternehmen volle Kassen beschert. Sie verfügen nun über schier unbegrenzte finanzielle Mittel, nicht zuletzt dank dramatisch hoher Skalenerträge.
Mit diesen Veränderungen geht auch ein anderes Selbstverständnis der Unternehmen einher. Der Investor Peter Thiel hat als Philosophie des Silicon Valley ausgegeben: "Competition is for losers."
Die Verteilung knapper Ressourcen (und das leistet die Wirtschaft) wird so neu organisiert: Im Zentrum des neuen Mechanismus stehen datenhungrige Orchestratoren, die nach Datenlage Angebot und Nachfrage zusammenführen. Aus der "unsichtbaren Hand" (Adam Smith) wird eine Big-Data-Anwendung, aus einem spontanen "Entdeckungsverfahren" (Friedrich von Hayek)
Richtungweisende Fälle
Dem steht das freiheitsverpflichtete Konzept des Wettbewerbs entgegen. Es manifestiert sich in einzelnen kartellrechtlichen Fällen. Das Bundeskartellamt und die Europäische Kommission haben im Umgang mit digitalen Unternehmen weltweit Maßstäbe gesetzt. Dabei haben sie im Wesentlichen nur drei Instrumente zur Verfügung: Sie können ihre Anordnungen auf das Verbot wettbewerbsbeschränkender Absprachen, auf das Verbot des Missbrauchs von Marktmacht und die präventive Kontrolle von Unternehmensübernahmen und -fusionen stützen.
Die Geschichte des digitalen Kartellrechts begann zunächst im Einzelhandel, als es zwischen Online-Handel und klassischen Ladengeschäften zu Verteilungskämpfen kam. Hersteller, insbesondere von Markenprodukten, sahen hier die Möglichkeit, den Vertrieb zu steuern und teilweise selbst zu übernehmen. Das Bundeskartellamt öffnete den Wettbewerb durch einen starken Schutz des ungehinderten Online-Vertriebs.
Assoziiert wird digitales Kartellrecht aber vor allem mit den großen Missbrauchsfällen: Die Europäische Kommission leitete 2010 ein Verfahren gegen Google ein. Der Vorwurf: Google habe seine Marktmacht bei Online-Suchanfragen – das Unternehmen hält hier in fast allen europäischen Ländern beständig einen Marktanteil von über 90 Prozent – ausgenutzt, um auf anderen Märkten ebenfalls mächtig zu werden, beispielsweise als Preisvergleichsanbieter.
So plausibel die Argumentation scheinen mag, so schwierig ist der Fall bei genauer juristischer Prüfung. Das Verfahren kam daher nicht vom Fleck. Die EU-Kommission benötigte sieben Jahre bis zu einem Verfahrensabschluss – im Internetzeitalter eine halbe Ewigkeit. Doch die Beendigung des Verfahrens durch die resolute Margrethe Vestager, die den Fall von ihrem Vorgänger übernahm, wurde zu einem Paukenschlag: Die Kommission verhängte eine Rekordgeldbuße von 2,42 Milliarden Euro und untersagte die Bevorzugung eigener Dienste. Ein halbes Jahr später legte sie mit einem Bußgeld von 4,34 Milliarden Euro wegen der Abschottung des Google-Betriebssystems Android nach.
Das Bundeskartellamt erarbeitete sich seinen Ruf als Digitalbehörde vor allem 2019 mit der Untersagung der Datenzusammenführung ohne angemessene Einwilligung bei Facebook.
Rechtlich ist dieses Verfahren richtungweisend, weil es das Kartellrecht mit dem Datenschutzrecht kombiniert. Damit bringt das Amt zwei Schlüsselthemen der digitalen Welt zusammen: Datenschutz und Wettbewerb. Der Hebel des durchsetzungsstarken Kartellrechts wird eingesetzt, um den in der Durchsetzung traditionell schwachen Datenschutzregeln zum Durchbruch zu verhelfen. Die dreiköpfige Beschlussabteilung des Bundeskartellamts, die die Entscheidung getroffen hat, stützt sich auf selten angewendete Normen des Kartellrechts und eine ungewöhnliche Linie in der deutschen Rechtsprechung.
Die wenigsten Vereinbarkeitsprobleme von digitaler Realität und klassischem Recht sind in der formalisierten Fusionskontrolle zu erwarten: Hier haben Unternehmen ihre Übernahmen anzumelden, sobald sie bestimmte Umsatzschwellen überschreiten. Die Behörden prüfen dann – vor Vollzug – ob eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs nach dem Zusammenschluss zu erwarten ist.
Wettbewerbsordnung 4.0
Die Bemühungen der Wettbewerbsbehörden legen so die Stärken und Schwächen des Kartellrechts offen. Eine "Wettbewerbsordnung 4.0" ist mit den derzeitigen Regeln nicht zu schaffen. Das verwundert nicht. Eine völlig veränderte Wirtschaft bedarf auch eines neu gestalteten Ordnungsrahmens.
Das gilt zunächst für das Kartellrecht selbst. Der deutsche Gesetzgeber hat dabei bereits eine Pionierrolle eingenommen und etwa eine 400-Millionen-Euro-Kaufpreisschwelle für Fusionsanmeldungen eingeführt: Die Whatsapp-Übernahme wäre nun beim Bundeskartellamt anmeldepflichtig. 2017 wurden zudem Regeln eingeführt, mit denen gezielt auf Schwierigkeiten der Kartellrechtsanwendung auf digitalen Märkten reagiert wird: Märkte ohne finanzielle Gegenleistungen werden nun als Märkte im Sinne des Gesetzes angesehen (§18 Abs. 2a GWB). Zudem wurden für mehrseitige Märkte und soziale Netzwerke Kriterien zur Klärung der Frage aufgenommen, wann ein Unternehmen als marktmächtig zu gelten hat, etwa bei Netzwerkeffekten und sehr gutem Datenzugang (§18 Abs. 3a GWB).
Mit der in Planung befindlichen zehnten GWB-Novelle werden weitere Schritte erwartet.
Die vielleicht schwierigste Frage ist, erstens, ob bei einer sich abzeichnenden Monopolisierung frühzeitiger eingegriffen werden kann. Dazu wären neue Aufgreiffilter und neue Missbrauchstatbestände erforderlich. Dann ließe sich das Kippen einzelner Märkte möglicherweise verhindern.
Ein weiteres Problem stellt sich, zweitens, in der Fusionskontrolle: Wie kann es Unternehmen untersagt werden, potenzielle Wettbewerber aufzukaufen (sogenannte killer acquisition)? Während das Ziel klar erscheint, ist die rechtliche Umsetzung in Ermangelung harter, rechtssicher anzuwendender Kriterien unklar.
Eine zusätzliche Thematik hängt, drittens, an der Bedeutung der Daten für den Wettbewerb. Zum einen wird nach Möglichkeiten gesucht, Unternehmen Zugang zu Daten zu vermitteln, die sie für den Markteintritt benötigen. Kann Google verpflichtet werden, Daten mit anderen Unternehmen zu teilen, wie etwa in einem "Daten-für-Alle-Gesetz" gefordert?
Viertens wird – angesichts des "siebenjährigen Krieges" der EU-Kommission gegen Google – geprüft, wie die Kartellrechtsanwendung beschleunigt und vereinfacht werden kann.
Fünftens hat das deutsche Facebook-Verfahren die Diskussion eröffnet, wie das Kartellrecht im Zusammenspiel mit anderen Rechtsgebieten anzusehen ist. Überschneidungen mit Verbraucher- und Datenschutzrecht liegen auf der Hand. Das führt zu Abstimmungsbedarf. Eine Schlüsselfrage in der Gesetzgebung ist, ob das Bundeskartellamt künftig auch Befugnisse zur Durchsetzung im Verbraucherrecht erhält. Anders als in fast allen anderen EU-Ländern gibt es in Deutschland bislang kaum behördlichen Verbraucherschutz.
Werte und Wettbewerb
Die Kartellbehörden führen Leuchtturmverfahren, nicht mehr und nicht weniger. Neue Normen werden dies erleichtern, aber die Grundfrage – "Welche Wirtschaftsordnung wollen wir?" – werden sie nicht lösen.
Das Kartellrecht bietet zur Klärung dieser Frage großartiges Anschauungsmaterial: In den Verfahren werden Geschäftsmodelle analysiert, Marktkräfte eingeschätzt, wettbewerbliche Wirkungen aufgezeigt, rechtliche Lösungen durchgeprüft. Damit hat das Kartellrecht oft eine Schrittmacherfunktion: Aus einzelnen Fällen, in denen Missstände durchleuchtet werden, erwachsen Regulierungen, die für ganze Branchen gelten. Die jüngst verabschiedete P2B-Verordnung der Europäischen Kommission
Das sind aber nur Mosaiksteine, die es zu einem Gesamtbild zusammenzufügen gilt. Dafür sind die Fragen entscheidend, wie eine Wettbewerbsordnung 4.0 aussehen soll und welche Werte in der Wirtschaft gelten sollen.