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Rüstung, Bündnissolidarität und Kampf um Frieden | Neues Wettrüsten? | bpb.de

Neues Wettrüsten? Editorial Einstein und die neun Zwerge. Historisches zum INF-Vertrag Rüstung, Bündnissolidarität und Kampf um Frieden. Lernen aus dem Nato-Doppelbeschluss von 1979? Internationale Atomwaffenkontrolle: Stand und Perspektiven Europa und der INF-Vertrag: Verdammt zur Zuschauerrolle? China als Rüstungsakteur. Von Maos Papiertigern zu robusten Regenbögen Zwischen Comeback und Zerrissenheit – hat die Nato Bestand?

Rüstung, Bündnissolidarität und Kampf um Frieden Lernen aus dem Nato-Doppelbeschluss von 1979?

Philipp Gassert

/ 15 Minuten zu lesen

In den 1980er Jahren demonstrierten Tausende für Frieden und gegen Rüstung. Der "Raketenstreit" war zugleich ein Katalysator der Selbstverständigung über gesellschaftliche Grundfragen. Hat das Thema "Frieden" heute noch Potenzial zur massenhaften Mobilisierung?

Wenn Gefahr für den Frieden drohte, ließen sich in der alten Bundesrepublik häufig viele Tausende für Protest mobilisieren: Das galt sowohl für die Kundgebungen gegen "Wiederbewaffnung" und "Atomtod" in den 1950er Jahren als auch für die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die westliche "Nachrüstung" in den 1980er Jahren. Allein im Herbst 1983 kamen im Bundesgebiet mehr als eine Million Menschen zusammen, um gegen die drohende Stationierung von Marschflugkörpern (cruise missiles) und Pershing-II-Mittelstreckenraketen zu demonstrieren. Menschenketten, Sitzblockaden und Friedensmärsche bestimmten die Bilder jener Tage. Der Protest gipfelte in zentralen Großveranstaltungen mit Hunderttausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern wie der abschließenden Kundgebung der "Aktionswoche Herbst ’83" im Bonner Hofgarten und der Menschenkette von Ulm nach Stuttgart am 22. Oktober 1983.

Was lässt sich aus dieser Geschichte lernen? Hätte das Thema "Frieden" auch heute Potenzial zur massenhaften Mobilisierung? Ja, sofern die Bedingungen stimmen – obwohl das bizarre Wettrüsten in der bipolaren Welt des Kalten Krieges Dimensionen erreichte, die heute schwer vorstellbar erscheinen. In der multipolaren Gegenwart stehen sich nicht mehr zwei bis an die Zähne bewaffnete Militärblöcke mit Millionen Soldaten und Zehntausenden Panzern, Flugzeugen, Schiffen und Raketen gegenüber. Das Kriegsbild hat sich gewandelt. Russland verfolgt in der Ostukraine oder Georgien niederschwellige Aggressionen ohne reguläre Truppen und nukleare Drohgebärden. Im Irak, in Syrien und Afghanistan spielen sich "neue Kriege" ab. Trotz der Modernisierung des russischen Nukleararsenals und der Aufkündigung des INF-Vertrages durch US-Präsident Donald Trump Anfang 2019 droht vorerst kein vergleichbarer Rüstungswettlauf.

Wie rasch sich eine vermeintlich sichere Lage aber ändern kann, zeigte etwa der plötzliche Umschwung zur erneuten Ost-West-Konfrontation Ende der 1970er Jahre, kurz nach der hoffnungsvollen Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975 als Höhepunkt der Entspannungsära. Dennoch steht zu vermuten, dass eine neue Nachrüstungsinitiative auch heute sofort mit einer Gegenbewegung konfrontiert wäre: Die routiniert aufflackernden Antikriegsproteste aus Anlass des ersten Irak-Krieges 1991, der Nato-Intervention im Kosovo 1999 oder nach 9/11 haben vor Augen geführt, dass es noch immer ein mobilisierbares "friedensbewegtes" Potenzial gibt.

Um "Lehren" aus der Geschichte der Kontroverse um den Nato-Doppelbeschluss von 1979 zu ziehen, müssen wir zunächst nach den Ursachen des "Raketenstreits" fragen. Die Frage ist leicht gestellt, doch die Antwort historisch umstritten. Das konventionelle Narrativ lautet, dass die UdSSR die Entspannungsphase ausnutzte, um durch die Stationierung von SS-20-Mittelstreckenraketen die militärische Balance zu ihrem Vorteil zu wenden. Doch dass die Nato allein auf eine sowjetische Rüstungsoffensive geantwortet hätte, ist nur die halbe Wahrheit. Neben der Logik von Entspannung und Abschreckung spielten die autonome Logik der Rüstung, die des Bündnisses sowie der gesellschaftliche Debattenkontext eine gehörige Rolle bei der Genese der Streits.

Paradoxe Folgen der Entspannung

Aus Sicht der Befürworter des Nato-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 – in dem einerseits Abschreckung durch nukleare Aufrüstung, andererseits Dialogbereitschaft mit der Sowjetunion zur Rüstungskontrolle signalisiert wurde – waren Ursachen und Wirkungen glasklar: Für den Außenminister sowohl der sozialliberalen wie auch der christlich-liberalen Koalition, Hans-Dietrich Genscher, war Auslöser der westlichen Nachrüstung – ein Begriff, den er bewusst so prägte – die "sowjetische Herausforderung". Die "Indienststellung der SS-20-Mittelstreckenraketen" habe eine neue Bedrohung insbesondere Westeuropas mit sich gebracht. Auch für Bundeskanzler Helmut Kohl war der Fall offenkundig: Moskau hatte durch die SS-20 "ein erhebliches Rüstungsübergewicht in Europa erlangt".

Dass der Doppelbeschluss auf einen einseitigen atomaren Rüstungsschub der östlichen Seite antwortete, trifft es jedoch nicht ganz. Seine Ursprünge liegen tiefer. Wie der Diplomatiehistoriker Tim Geiger herausgearbeitet hat, war er eine paradoxe Folge der Entspannungspolitik. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte in einer Rede vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies im Oktober 1977, die als Geburtsstunde des Doppelbeschlusses gilt, gemahnt, dass im Supermächte-Deal über "strategische" Interkontinentalwaffen (SALT, Strategic Arms Limitation Talks) weitreichende Mittelstreckenraketen "vergessen" worden seien. Die SS-20 falle somit in eine "Grauzone". Mit ihrer Reichweite von 5000 Kilometern bedrohe sie allein Europa und Ostasien, nicht jedoch die USA.

Die von Schmidt in die Welt gesetzte "Grauzonenproblematik" wurde für die Nato aufgrund ihrer spezifischen Abschreckungsdoktrin zum Stolperstein. Das Bündnis hatte sich 1967/68 darauf verständigt, mittels einer gestuften Antwort (flexible response) auf militärische Aggressionen zu reagieren. Da sie keine der SS-20 vergleichbaren Waffen besitze, entstünde eine Lücke im westlichen Eskalationskontinuum. Der US-Präsident werde im Ernstfall entscheiden müssen, ob er den Verbündeten mit Interkontinentalraketen zur Seite springen oder aber eine Abkopplung Europas akzeptieren würde, um sein Land vor einem sowjetischen Gegenschlag zu bewahren.

Schon damals gab es, gerade auch innerhalb der westlichen strategischen Community, Zweifel an Schmidts These, die westliche Abschreckung würde durch die SS-20 "geteilt" und somit "unglaubwürdig". Nicht nur, dass Briten und Franzosen über eigene Nuklearkapazitäten verfügten – Schmidt, Kohl und Genscher hatten ein mechanisches, quasi erbsenzählerisches Gleichgewichtsverständnis von Abschreckung. Britische Planer wie der Chefstratege der Londoner Regierung, Michael Quinlan, glaubten nicht an die potenzielle Regionalisierung eines Nuklearkriegs. Nuklearwaffen, so der Einwand gegen die Regionalisierungsthese, wären militärisch wertlos. Sie hätten politische Signalfunktion oder dienten im Eventualfall zur raschen Beendigung eines Konfliktes. Dazu würde, wie es das Nato-Grundsatzpapier "MC 14/3" von 1967/68 als Option auch vorsieht, eine gezielte ("demonstrative") Zündung einer einzigen Atombombe genügen oder wenige präzise Atomschläge gegen strategische Ziele. Das würde den Gegner sofort einhalten lassen. Und in der Tat: Ungleichgewichtige nukleare Abschreckung klappt, wie Nordkorea uns tagtäglich beweist.

Faktor technologischer Fortschritt

Der Doppelbeschluss war auch eine Folge technologischer Entwicklungssprünge, der revolution in military affairs seit Ende der 1960er Jahre, auf die beide Seiten reagierten. Die Nato setzte gemäß dem sogenannten Harmel-Bericht zur Lage des Bündnisses von 1967 auf Entspannung und Verteidigung durch Abschreckung. Man wollte durch Entspannung mehr Sicherheit erreichen, gleichzeitig die Verteidigung modernisieren. Traditionell vertraute die Nato auf Nuklearwaffen, weil diese kostengünstiger und daher für Demokratien und Steuerzahler politisch akzeptabler seien ("more bang for the buck"). Der Preis war die konventionelle Unterlegenheit gegenüber der UdSSR. Doch im Westen hatte sich unter anderem aufgrund der Antiatomkraftbewegung der kulturelle Debattenkontext gewandelt. Nuklearängste waren auch in der Populärkultur zunehmend virulent.

Um 1970 hatten sowohl die Nato als auch der Warschauer Pakt neue konventionelle und atomare Waffensysteme in Planung. Im Westen wurde seit 1969/70 an Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles gearbeitet; 1972 wurde der Bau der Neutronenbombe wieder aufgenommen. Beide Bündnisse entwickelten neue, revolutionäre Waffen, die Nato etwa den Mehrzweckkampfflieger "Tornado", der dank leistungsfähiger Elektronik atomare und konventionelle Waffen im Tiefflug hinter die sowjetischen Linien hätte befördern können. Umgekehrt beunruhigten die sowjetischen Tupolew-22M-Bomber (Nato-Codename "Backfire") das westliche Bündnis. Im Osten geriet derweil durch die neuen waffentechnologischen Entwicklungen das aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Kriegsbild "der großen und entscheidenden Panzerschlachten" ins Wanken.

Die damaligen wechselseitigen Bedrohungswahrnehmungen sind für das heutige Verständnis des Kalten Krieges zentral. Einblicke in das Kalkül der östlichen Seite sind inzwischen möglich. So ist mittlerweile bekannt, dass die UdSSR über die Planungen der Nato stets gut informiert war. Dem Militärhistoriker Oliver Bange zufolge kam die Sowjetunion der erwarteten militärischen Modernisierung der Nato teilweise zuvor. Ideologisch überzeugt, dass der Westen inhärent expansionistische Ziele hege, habe sie die Einführung der geplanten Cruise Missiles und Pershing II antizipiert und dem eigene neue Waffen wie die SS-20 prophylaktisch entgegengesetzt. Andere Autorinnen und Autoren vertreten hingegen die Meinung, dass der sowjetische "militärisch-industrielle Komplex" in der Spätphase der Regierungszeit Leonid Breschnews verstärkt unabhängig von politischen Vorgaben handelte.

Kampf um die Seele des Bündnisses

Der Doppelbeschluss sollte nicht zuletzt auch Brüche innerhalb der Nato kitten: Er kam auch als Ergebnis einer Kette transatlantischer Krisen zustande. Auch das erinnert an heute. Einerseits waren die politischen Eliten der alten Bundesrepublik den "Kinderschuhen" entwachsen. Allen voran Helmut Schmidt traute sich, US-Präsident Jimmy Carter als vermeintlichen weltpolitischen Laienspieler für dessen Missachtung der Verbündeten zu kritisieren. Andererseits bedeutete die Wahl von Ronald Reagan 1980 eine Zäsur, da dieser die Entspannungspolitik in Zweifel zog. Im Vergleich zu US-Neokonservativen vollzogen deutsche Unionspolitiker die Wende zurück zu scharfer antikommunistischer Rhetorik weniger prononciert. Die an der ost-westlichen Demarkationslinie lebenden Europäer hielten sich rhetorisch bedeckt, wie auch die Gespräche zwischen Kohl und seinem ostdeutschen Gegenüber Erich Honecker zeigten.

Schmidts selbstbewusste Ermahnungen an Carters Adresse sowie divergierende Sichtweisen der Entspannung ebneten den westlichen Weg zum Doppelbeschluss als Kompromiss. Wie die Politologin Helga Haftendorn schon zeitgenössisch argumentiert hat, beruhte der Beschluss partiell auf einem transatlantischen Missverständnis. So suchte Schmidt der alte Albtraum der Supermächte-Komplizenschaft auf Kosten Deutschlands heim: In den SALT-Verträgen von 1972 hatten die USA und die Sowjetunion isolierte Abrüstungsschritte vereinbart, die ohne flankierende Verträge in Europa die Sicherheit der Bundesrepublik zu gefährden schienen. Schmidts Auslassungen in London 1977 sollten die USA aufrütteln, weil SALT potenziell Ungleichgewichte schaffe. Seitens der Carter-Administration wurde dies als Ruf nach mehr Waffen missverstanden.

Mit seiner Kritik an den SALT-Vereinbarungen sowie der Betonung der Notwendigkeit eines abgestuften militärischen Gleichgewichts in Europa schuf Schmidt das Dilemma, aus dem der Doppelbeschluss den Ausweg bot. Eine Nachrüstungsandrohung im Mittelstreckenbereich wurde mit dem Angebot zu Abrüstungsverhandlungen gekoppelt. Das wurde allen gerecht: Die zerstrittene Nato zeigte sich handlungsfähig; dem Anschein einer deutschen Isolierung beugte vor, dass die atomar bestückten Cruise Missiles nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Italien platziert werden sollten. Nur die Pershing-II-Raketen sollten aufgrund ihrer kurzen Reichweite allein in Westdeutschland stationiert werden.

Sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik war der Beschluss auch innenpolitisch von Nutzen: Eine robustere Gangart gegenüber Moskau stellte die US-"Falken" vorerst still, denn in den USA hatten die inneren Verwerfungen aufgrund des Vietnamkrieges zu wachsender Kritik an der Entspannung geführt. Carter konnte sich, zumal kurz nach der Iranischen Revolution, außenpolitisch falkenhaft inszenieren. Da jedoch erst im Misserfolgsfall der Genfer Abrüstungsverhandlungen über Mittelstreckensysteme eine westliche Stationierung folgen würde, hatte Schmidt seinerseits seine innerparteiliche Flanke gegen die SPD-Entspannungspolitiker abgesichert.

Noch stärker war für den 1982 angetretenen Bundeskanzler Helmut Kohl der Raketenstreit ein Kampf um die Seele der Nato. Für ihn hatte die Stationierung überragende bündnispolitische Bedeutung. In seinen Beiträgen tritt das erklärte Ziel, die Abschreckung des Ostens, in den Hintergrund. Wie andere Unionspolitiker ging er mit den Gegnern der Nachrüstung scharf ins Gericht, weil deren "Antiamerikanismus" eine Abwendung der USA von Europa befördere und somit Moskau nutze. Kohl und seine Mitstreiter zeichneten das Schreckensbild transatlantischer Entfremdung aufgrund amerikanischer Enttäuschung über undankbare Deutsche. Dabei wurde auch gezielt geschichtspolitisch argumentiert, etwa wenn an die Folgen des "Appeasement" der 1930er Jahre erinnert und vor Blauäugigkeit von Demokraten gegenüber Diktaturen gewarnt wurde. Dies habe nicht zu mehr Frieden und Gerechtigkeit, sondern zu mehr Krieg und Ungerechtigkeit geführt.

Nuklearkrise als innergesellschaftliche Selbstverständigung

Vielfache Verweise auf Hitler, das "Dritte Reich" und auch Auschwitz zeigen, dass der Streit über den Doppelbeschluss mehr war als eine sicherheitspolitische Expertendebatte. Sie war Resonanzkörper zentraler politischer und gesellschaftlicher Konflikte über den "Machtwechsel" von 1982 hinweg. Sie war Plattform sinnstiftender Debatten über das westdeutsche Gemeinwesen. In ihr wurden die Umbrüche der 1970er und 1980er Jahre mental verarbeitet, sie war Reflexionsraum des zeitgenössisch viel diskutierten Wandels elementarer Wertvorstellungen, wie der zum "friedensbewegten" SPD-Flügel zählende Erhard Eppler meinte.

Der Raketenstreit hatte eine stellvertretende Funktion als Medium sozialer Selbstverständigung. In Gesellschaften mit demokratischen Rückkopplungsprozessen sind außenpolitische Debatten in innergesellschaftliche Konfliktlinien integriert. Die Rückkehr zum verschärften Ost-West-Konflikt Ende der 1970er Jahre warf die Frage nach der Stellung der geteilten Nation in Europa vehement auf. Hierfür war die Westorientierung zentral. Beide Seiten sprachen sich mit dem Vorwurf beziehungsweise der Zurückweisung des Antiamerikanismus prowestliche Haltungen ab oder attestierten sich diese. Und es wurden, auch dies dürfte kaum überraschen, diametral entgegengesetzte "Lehren aus der Vergangenheit" gezogen.

Das Verhältnis zum Kommunismus war Teil dieser Identitätsdebatten. Zeitgenössisch wurde der Friedensbewegung vorgeworfen, sie betreibe "das Geschäft Moskaus". Richtig ist, dass UdSSR und DDR sie gezielt zu unterwandern suchten. Von Ost-Berlin abhängige Kader und Gruppierungen waren in die Bündnisstrukturen der Friedensbewegung integriert. Sie konnten vor allem mit dem "Krefelder Appell" von 1981 einen spektakulären Erfolg erzielen – denn dieses Dokument, in dem die Bundesregierung aufgerufen wurde, ihre Zustimmung zur Stationierung atomarer Raketen in Europa zurückzuziehen, verschwieg die östliche Nuklearrüstung. Andererseits mussten sich die Nato-Kritiker im Wettstreit der Argumente im offenen Mediensystem bewähren und wurde der westliche "Kampf um den Frieden" auch in der DDR wahrgenommen, wo eine ganz eigene Friedensbewegung entstand. Den "Friedensstaat" DDR beim Worte nehmend, legten dortige Dissidenten wie Rainer Eppelmann und Robert Havemann nun Ost-Berliner Unaufrichtigkeiten bloß.

Moskauer und Ost-Berliner Beeinflussungsversuche gingen auch deshalb "nach hinten" los, weil sie die Stationierungsbefürworter in ihrer Entschlossenheit bestärkten. In der Summe spielte der "Streit um den Frieden" in der Bundesrepublik eine sozial integrierende Rolle, während er in der DDR oppositionelle Haltungen förderte. So erbittert in Bonn über die Stationierung auch debattiert wurde, so sehr legitimierten beide Seiten ihre Argumente aus Positionen heraus, die teils erst in den 1980er Jahren konsensual wurden, wie kulturelle Verwestlichung, Abgrenzung von DDR und Moskau, erinnerungskulturelle Akzeptanz der NS-Vergangenheit und damit verknüpft die Idee eines "deutschen Friedensauftrages". Dass die Bundesrepublik sich nun als Teil der politischen Kultur des Westens verstand, zeigte sich auch an den vielfachen Verweisen auf die engen Beziehungen beider Seiten des bundesdeutschen Debattenspektrums zu ihren jeweiligen "amerikanischen Freunden".

Frieden als künftiger deutscher Integrationsmechanismus?

Welche Chancen hätte eine künftige neue Friedensbewegung im Eventualfall einer neuen Nachrüstungsdebatte in Europa als Antwort auf eine neuerliche russische oder gar chinesische Bedrohung? Ein Faktor wäre, dass "Frieden" seit den 1970er Jahren ein gesamtdeutsches Thema ist. Zwar verhinderten die politischen Bedingungen in der DDR eine vergleichbare Protestmobilisierung wie in der Bundesrepublik. Doch das Friedensthema vereinte damals wie heute Deutsche in Ost und West. Es könnte auch künftig eine integrative Rolle spielen. Wegen der historisch erklärbaren friedenspolitischen Sensibilitäten vieler Deutscher gehört wenig Phantasie dazu, sich die mobilisierenden Folgen einer Debatte über eine Modernisierung des Nato-Arsenals, die Errichtung eines großen Raketenabwehrschildes oder die Rückkehr nuklearer Mittelstreckenraketen nach Westeuropa auszumalen. Die wenigen verbliebenen Atomsprengköpfe in der Eifel sind schon jetzt Ziele von Blockaden.

Deutschland versteht sich knapp 30 Jahre nach dem Ende der DDR als gespaltenes Land, obwohl in der ökonomischen Realität die Unterschiede zwischen Leipzig und Hannover geringer sein dürften als die zwischen Stadt und Land oder deindustrialisierten Zonen und Boomtowns in "alten" und "neuen" Ländern. Ein neuer sicherheitspolitischer Disput könnte ähnlich integrierende, alles andere an den Rand drängende Wirkung haben wie der Doppelbeschluss. Dafür spricht, wie gesagt, dass es seit 1990 bei drohenden kriegerischen Verstrickungen stets zu neuen Friedensbewegungen kam ("Kein Blut für Öl"). Wie bei den aktuellen "Fridays-for-Future"-Schulstreiks für eine effektivere Klimapolitik beteiligten sich schon in den 1980er und 1990er Jahren auffällig viele junge Menschen, Schüler, Kinder und Familien an Friedensprotesten.

Sieht man Geschichte als Orientierungsressource, dann lassen sich neben der hier betonten innergesellschaftlichen Selbstverständigungsfunktion außen- und sicherheitspolitischer Debatten aus der (Vor-)Geschichte des Doppelbeschlusses folgende Analogien zur augenblicklichen Lage in Europa erkennen und so gewisse "Lehren" ziehen:

Erstens war die Nachrüstungsdebatte eine paradoxe Folge der Entspannung. Die SALT-Verträge hatten eine vermeintliche "Grauzone" geschaffen, die indes erst aufgrund der Flexible-response-Verteidigungsdoktrin der Nato zum politischen Problem ersten Ranges wurde. Schmidt dachte in mechanischen Gleichgewichtskategorien. Schon damals existierten alternative Abschreckungsmodelle auch innerhalb der Nato. Diese wirkten angesichts der unkalkulierbaren Zerstörungsgewalt von Atomwaffen genauso plausibel. Der Raketenstreit war hausgemacht – auch wenn es die UdSSR gezielt darauf anlegte, den Westen zu spalten. Auch heute nutzt Moskau soziale Spannungen und gesellschaftliche Hoffnungen auf "Frieden" aus – riskiert jedoch, das Rad zu überdrehen und gemeinsame Reaktionen Europas zu provozieren.

Zweitens hat technologischer Fortschritt destabilisierende Wirkungen. Er rief das Wettrüsten der 1970er Jahre mit hervor. Die revolution in military affairs durchkreuzte das defensive Kalkül der UdSSR. Sowjetische Militärs verstanden die SS-20 als vorgezogene Reaktion auf anstehende Nato-Modernisierungen. Beide Seiten hatten neue Waffen entwickelt, die das "Gleichgewicht des Schreckens" zu unterminieren drohten. Darauf suchten Strategen und Militärs beiderseits des "Eisernen Vorhangs" Antworten, die vorhandene Dilemmata verschärften. Ähnliches erleben wir jetzt mit "Cyber-Kriegführung" und der antizipierten Einführung autonomer Waffen, aber auch mit der technischen Machbarkeit einer Raketenabwehr, die zur Zeit von Reagan noch als Science-Fiction galt.

Hinzu kam drittens die westliche Bündnislogik. Der Doppelbeschluss war auch Folge der gefühlten Entfremdung der Nato-Partner. Schmidt artikulierte in seiner berühmten Londoner Rede die Befürchtung, die USA könnten nicht mehr zu ihren Verpflichtungen stehen. Zwar ist die Bundesrepublik heute kein "Frontstaat" eines neuen Kalten Krieges. Doch ob der gegenwärtige Präsident der USA die Nato-Vertragsverpflichtungen honorieren würde, ist schwer kalkulierbar. Speziell Schmidt zweifelte an Carters Zuverlässigkeit. Die Furcht vor der "Abkopplung" beschäftigte jedoch alle Kanzler der alten Bundesrepublik. Es ging 1979 nicht zuletzt darum, die Nato-Glaubwürdigkeit zu rekonstruieren. Ein derartiges Szenario ist heute auch vorstellbar.

Viertens setzten UdSSR und DDR auf Desinformation der westlichen Öffentlichkeit und eine Unterwanderung der Friedensbewegung. Diese Versuche blieben keineswegs unentdeckt. Spektakuläre Erfolge des Ostens wie beim "Krefelder Appell" waren möglich, weil die Friedensthematik verfing, es dafür gesellschaftliche Resonanz gab. Allerdings unterschätzte Ost-Berlin den Bumerangeffekt, weil die DDR selbst wenig friedlich agierte, wenn sie den Wehrkundeunterricht verpflichtend machte und das "Schwerter zu Pflugscharen"-Logo verbot. Diese Inkonsequenz delegitimierte das DDR-Regime. Für die Verteidiger von Doppelbeschluss und deutsch-amerikanischer Freundschaft waren "östliche Unterwanderungsversuche" ein gefundenes Fressen. Ähnlich haben heutige Desinformationskampagnen des Kreml die Spaltungen im Westen nicht geschaffen – aber sie erzwingen eine Klärung der Verhältnisse.

Daher war fünftens der Raketenstreit ein Katalysator der bundesdeutschen Selbstverständigung über gesellschaftliche Grundfragen von der "Westbindung" über die Haltung zu Amerika bis hin zum Umgang mit der NS-Vergangenheit. Der Streit war ein Streit um ost- und westdeutsche Identitäten. Prinzipiell könnte eine neuerliche Debatte über Krieg und Frieden, stärker als es Proteste gegen Erderwärmung vermögen, in unserem gespaltenen Land identitätsstiftende und integrierende Funktion haben. Es ist vorstellbar, dass eine Diskussion über Fragen der äußeren Sicherheit in einen Lagerstreit mündet, mittels dessen sich "rechts" und "links" antagonistisch positionieren. Denn ein "Lager" stellt sich über außenpolitische Fragen nun einmal leichter her als über komplexe sozialpolitische Abwägungen wie das Ausmaß der nächsten Rentenreform. Auch in diesem Sinne hält der Doppelbeschluss interessante "Lehren" für die Gegenwart bereit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Philipp Gassert, Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart 2018, S. 158ff.

  2. Details nach Christoph Becker-Schaum et al. (Hrsg.), "Entrüstet Euch!" Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012, S. 7–37.

  3. Vgl. Wilfried Loth, Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im Kalten Krieg 1950–1991, Frankfurt/M. 2016, S. 9–20.

  4. Historikerinnen und Historiker ziehen grundsätzlich keine "Lehren" aus der Vergangenheit; eher lässt sich mittels Vergleich und historischer Analogie Orientierungswissen für heute gewinnen.

  5. Zur historischen Debatte vgl. die Beiträge in Becker-Schaum et al. (Anm. 2); Philipp Gassert/Tim Geiger/Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011; Leopoldo Nuti et al. (Hrsg.), The Euromissile Crisis and the End of the Cold War, Stanford 2015.

  6. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, München 1997, S. 414.

  7. Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 140.

  8. Vgl. Tim Geiger, Der NATO-Doppelbeschluss. Vorgeschichte und Implementierung, in Becker-Schaum et al. (Anm. 2), S. 54–70. Siehe auch Christina Spohr, Helmut Schmidt. Der Weltkanzler, Darmstadt 2016, S. 187–242.

  9. Helmut Schmidt, Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit, 28.10.1977, in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 112, 8.11.1977, S. 1013–1020.

  10. Die Idee der flexible response geht auf die späten 1950er Jahre zurück, das Dokument MC 14/3 machte sie im Dezember 1967 zur offiziellen Nato-Politik. Vgl. Bericht des Military Committee der Nato, 16.1.1968, Externer Link: http://www.nato.int/docu/stratdoc/eng/a680116a.pdf.

  11. Vgl. Beatrice Heuser/Kristan Stoddart, Großbritannien zwischen Doppelbeschluss und Anti-Kernwaffen-Protestbewegungen in: Gassert/Geiger/Wentker (Anm. 5), S. 305–324, hier S. 316f.

  12. So die Ratio des "New Look" der Regierung Eisenhower. Vgl. Klaus Schwabe, Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart, Paderborn 2006, S. 296.

  13. Vgl. Oliver Bange, SS-20 und Pershing II. Waffensysteme und die Dynamisierung der Ost-West-Beziehungen, in: Becker-Schaum et al. (Anm. 2), S. 71–87.

  14. Vgl. ebd.

  15. Vgl. Gerhard Wettig, Sowjetische Euroraketenrüstung und Auseinandersetzung mit den Reaktionen des Westens. Motivationen und Entscheidungen, in: Gassert/Geiger/Wentker (Anm. 5), S. 49–64.

  16. Vgl. Jonathan Haslam, Moscow’s Misjudgment in Deploying SS-20 Missiles, in: Nuti et al. (Anm. 5), S. 31–48, hier S. 40f.

  17. Vgl. Klaus Wiegrefe, Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen, Berlin 2005; Spohr (Anm. 8), S. 187ff.

  18. Vgl. Heinrich Potthoff, Die "Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 1980er Jahren, München 1995; Hermann Wentker, NATO-Doppelbeschluss und die deutsch-deutschen Beziehungen, in: Becker-Schaum et al. (Anm. 2), S. 88–102.

  19. Vgl. Helga Haftendorn, Das doppelte Missverständnis. Zur Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25/1985, S. 244–287.

  20. Vgl. Jan Hansen, Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977–1987), Berlin 2016, S. 119ff.; zum globalen Kontext vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.

  21. Vgl. Andreas Rödder, Bündnissolidarität und Rüstungskontrollpolitik. Die Regierung Kohl-Genscher, der NATO-Doppelbeschluss und die Innenseite der Außenpolitik, in: Gassert/Geiger/Wentker (Anm. 5), S. 123–136.

  22. Vgl. Erhard Eppler, Friedensbewegung, in: Walter Jens (Hrsg.), In letzter Stunde. Aufruf zum Frieden, München 1982, S. 143–166, hier S. 152.

  23. Daher spreche ich von "Nuklearkrise". Vgl. Philipp Gassert, Arbeit am Konsens im Streit um den Frieden: Die Nuklearkrise der 1980er Jahre als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung, in: Archiv für Sozialgeschichte 52/2012, S. 491–516.

  24. Vgl. Eckart Conze, Missile Bases as Concentration Camps. The Role of National Socialism, the Second World War and the Holocaust in the West German Discourse on Nuclear Armament, in: ders./Martin Klimke/Jeremy Varon (Hrsg.), Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s, Cambridge 2017 S. 79–97.

  25. Vgl. Helge Heidemeyer, NATO-Doppelbeschluss, westdeutsche Friedensbewegung und der Einfluss der DDR, in: Gassert/Geiger/Wentker (Anm. 5), S. 247–267, hier S. 248.

  26. Vgl. Gassert (Anm. 1), S. 201f.

  27. Vgl. ebd., S. 228.

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ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien. E-Mail Link: gassert@uni-mannheim.de