Wie verhalten sich Rechtspopulismus und Identitätspolitik zueinander? Um es gleich direkt und deutlich zu sagen: Es gibt keinen Populismus, der ohne eine bestimmte Form von Identitätspolitik auskommt – nämlich eine, die primär dem Ausschluss anderer dient.
Zentrale Frage: Zugehörigkeit
Es heißt häufig, Populisten zeichneten sich dadurch aus, dass sie Eliten oder auch "das Establishment" kritisierten. Auf den ersten Blick scheint diese Einschätzung völlig plausibel. Bei näherem Hinschauen erweist sie sich aber als ein recht merkwürdiger Gedanke: Die Bereitschaft, ein kritisches Auge auf die Mächtigen zu halten (ob nun in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder im Kulturbetrieb), gilt gemeinhin als ein Zeichen guten demokratischen Engagements und ist keine Eigenschaft, die Populisten wesentlich von anderen unterscheidet. Es stimmt zwar, dass Populisten, wenn sie in der Opposition sind, immer die Regierungen – in diesem Sinne: "das Establishment" – kritisieren. Sie tun aber auch noch etwas anderes, das weit darüber hinausgeht: Populisten behaupten stets, sie und nur sie verträten das, was bei Populisten in der Regel als das "wahre Volk" oder auch als die schweigende Mehrheit beschrieben wird.
Dieser Alleinvertretungsanspruch ist vor allem moralisch. Aus ihm folgt, dass die Konkurrenten um die Macht als grundsätzlich illegitim abqualifiziert werden müssen. Hier geht es nie nur um unterschiedliche Auffassungen in der Sache oder um unterschiedliche Ansichten über Werte. Vielmehr werden andere Politikerinnen und Politiker als korrupt dargestellt: Sie dienten nicht dem Volk, sondern bereicherten sich, sie verträten Sonderinteressen, seien im Dienste von "Globalisten" und wollten deshalb das Volk in einem Weltstaat auflösen etc. etc.
Weniger offensichtlich ist, dass Populisten dann auch behaupten, all diejenigen im Volke selbst, die ihre letztlich symbolische Konstruktion des vermeintlich "wahren Volkes" nicht teilen (und deswegen die Populisten in der Regel auch nicht politisch unterstützen), gehörten eigentlich gar nicht wirklich zum Volke. Man erinnere sich, wie Nigel Farage, der ehemalige Vorsitzende der United Kingdom Independence Party, noch in der Nacht des Brexit-Referendums erklärte, das Ergebnis sei ein Sieg "for real people". Diese Aussage impliziert nichts anderes, als dass die über 16 Millionen Briten (48 Prozent), die für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt haben, eigentlich nicht wirklich Briten sind. Auch Donald Trump erklärt oft ohne viel Federlesens (oder inhaltliche Argumente), seine politischen Gegner seien schlicht "unamerikanisch".
Es geht bei Populisten also immer um Antipluralismus, und es läuft immer auf einen moralischen Ausschluss anderer hinaus: Auf der Ebene der Politik gelten alle anderen als schlechte Charaktere; und unter den Bürgern werden diejenigen, welche die Populisten nicht unterstützen, im Zweifel des Landesverrats bezichtigt – wie man es derzeit in Europa vor allem in Ungarn und Polen erleben kann, wo sich Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), zu der Behauptung verstieg, gegen seine Partei demonstrierende Bürger hätten ein angeborenes "Gen des Verrats".
Der moralische Alleinvertretungsanspruch hat seine eigene Logik, die in eine autoritäre Richtung deutet. Dies heißt auch: Der Populismus ist nicht auf seine inhaltlichen Eigenschaften reduzierbar. Wenn jemand sagt, er sei gegen Einwanderung, für die Auflösung der Eurozone und gegen die Oligarchie der Banken, dann lässt sich aus solchen Aussagen nicht sofort schließen, dass es sich hier klar um einen Populisten handeln muss. Gleichzeitig gilt aber: Es gibt keinen Populismus ohne Eigenschaften. Alle Populisten müssen die Trennung zwischen homogenem Volk und homogenen (nämlich durchgängig korrupten) Eliten irgendwie plausibel machen. Und das geht nicht ohne eine Beschreibung des Volkes. Oder anders gesagt: Es geht nicht ohne Identität, die dem "wahren Volke" zugesprochen wird. Das "wahre Volk" und moralisch akzeptable Bürger müssen deutlich genug beschrieben werden, um Differenzen mit den Volksverrätern zu markieren.
Man kann noch weitergehen: Populisten reduzieren im Zweifelsfalle alle politischen Fragen auf Fragen nach Zugehörigkeit. Man versucht nicht, den politischen Gegner mit Argumenten zu widerlegen, sondern bezichtigt ihn der Korruption oder des Verrats. Man akzeptiert keine legitime Opposition (ob nun im Parlament oder bei Demonstrationen auf der Straße), sondern deklariert die Kritiker, in den Worten Donald Trumps, gleich zu "enemies of the people". Somit betreiben Rechtspopulisten immer auch eine Art Kulturkampf, in dem politische Rede vor allem darin besteht, Individuen und Gruppen Zugehörigkeit zu- beziehungsweise abzusprechen.
Insofern ist es auch keine gewagte Behauptung, dass bereits existierende kulturelle Spaltungen Rechtspopulisten helfen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán musste die Vorstellung nicht erst erfinden, dass es ein liberales, kosmopolitisches (in diesem Kontext ein antisemitisches Codewort) Budapest auf der einen Seite gebe und auf der anderen ein "tiefes" authentisches Ungarn auf dem Lande. Kaczyński konnte sich die Idee, das Land sei geteilt in Polska A und Polska B (ersteres westlicher und entwickelter) zunutze machen. Recep Tayyip Erdoğan machte sich zum Vertreter der sogenannten Schwarzen Türken, womit islamisch geprägte Bürger aus der anatolischen Provinz bezeichnet werden, die im Kontrast zu den "Weißen Türken" der republikanischen städtischen Eliten stünden. Und auch Trump konnte sich als Repräsentant des "Real America" ausgeben, das verkörpert werde von den red states (Farbe der Republikaner), im Gegensatz zu den letztlich "unamerikanischen" liberalen blue states (Farbe der Demokraten).
Spaltung in Gut in Böse
Populisten reden zwar ständig von der dringend notwendigen Einheit und "Vereinigung des Volkes", aber ihr politisches Geschäftsmodell besteht darin, die Gesellschaft zu teilen und, wo möglich, bestehende Spaltungen zu vertiefen. Das heißt nicht, dass Demokratien nur funktionieren können, wenn alle Bürger im Konsens vereint sind. Im Gegenteil: Keine Demokratie kommt ohne Konflikte aus, denn ohne Konflikte gibt es auch keine echten Alternativen und Wahlmöglichkeiten. Die Frage ist nur, wie man Konflikte versteht oder auch bewusst aufstellt. Populisten werden immer gleich persönlich und hochmoralisch. Es stehen immer gute Charaktere den schlechten gegenüber.
Alle Konflikte werden nach Vorgabe der Rechtspopulisten im Zweifelsfalle an kulturellen Vorgaben ausgerichtet: Idealerweise spaltet sich die Gesellschaft in eine Mehrheit des "wahren", "kulturell korrekten" Volkes und eine oppositionelle Minderheit, die eigentlich gar nicht wirklich dazugehört, deren Existenz es aber wiederum den Populisten erlaubt, die Distinktion zwischen wahrem Volk und den Anderen immer wieder zu verdeutlichen beziehungsweise Bedrohungsszenarien heraufzubeschwören: Der wahre Feind des Volkes lauere im Inneren und könne leicht verwechselt werden. Deswegen sind in Trumps symbolischer Welt Hispanics, die US-amerikanische Staatsbürger sind, aber angeblich auch "bad hombres" sein können, mindestens so wichtig, wenn nicht wichtiger, als das Feindbild Muslim.
Damit soll nicht behauptet sein, "Volksrede" gehöre am besten verboten, nach dem Motto, wer überhaupt irgendetwas inhaltlich über das eigene Volk sagt, ist schon Populist – und damit eine Gefahr für ein System, das doch eigentlich Volksherrschaft verspricht. Ganz im Gegenteil: Politik als Beruf fordert, dass man eine Vorstellung von der Zukunft des eigenen Landes hat – oder wenn man so will: von der Zukunft des Volkes. Eine Politikerin, die Lösungen für spezifische Probleme rauf- und runterbeten kann, aber nichts über das mögliche Selbstverständnis ihres Landes zu sagen hat, wäre eine exzellente Beamtin, aber wohl kaum eine Politikerin. Nur besteht ein großer Unterschied darin, ob man seine "Volkskonzeption" als ein mögliches Ideal unter anderen darstellt (und Widerspruch als legitim akzeptiert) oder sich als alleiniger Vertreter einer schweigenden Mehrheit präsentiert.
Das völlig homogene Volk, das Populisten anrufen, ist eine Fantasievorstellung. Sie wird aber von den Populisten als empirisch vorhanden angenommen. Das ist auch der Grund dafür, warum Populisten so häufig (allerdings zugegebenermaßen nicht immer) Niederlagen bei Wahlen zumindest moralisch, zum Teil aber auch mit Rechtsmitteln, anfechten. Denn in gewisser Weise haben sie aufgrund ihres eigenen Alleinvertretungsanspruches ein geradezu logisches Problem: Wie kann es sein, dass nur sie das Volk vertreten, aber noch nicht einmal eine absolute Mehrheit an den Urnen bekommen?
Ein typisches Manöver ist es dann zu behaupten: Hätte die schweigende Mehrheit sich ausdrücken können, wären wir jetzt an der Macht. Ergo: Irgendjemand muss die Mehrheit zum Schweigen gebracht haben. Und im Zweifelsfalle sind es dann "die alten Eliten", die ihre Pfründe schützen wollen. Man denke nur an die Bemerkung des unterlegenen österreichischen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer, der über den Sieger Alexander van der Bellen bei der Bundespräsidentenwahl 2016 bemerkte, dieser sei gezählt, aber nicht gewählt worden – ganz so, als gäbe es neben dem banalen Auszählen von Stimmzetteln noch eine höhere Form von Demokratie, in der das Volk eine Art mystische Einheit mit dem wahren Volksführer ausdrückt.
Kollektive Selbstverständigung
Demokratische Politiker behandeln ihre Vorstellung von Volk als so etwas wie eine widerlegbare Hypothese. Wenn Wählerinnen und Wähler der These nicht folgen, ist das kein Anzeichen dafür, dass die Eliten hinter den Kulissen mauscheln und es den Menschen nicht erlauben, ihre wahren Präferenzen zu artikulieren. Vielmehr kann die Schlussfolgerung nur lauten, dass man eben nicht genug Bürger überzeugen konnte. Und auch wenn man eine Mehrheit für sich gewinnen kann, bedeutet dies nie, dass die eigenen Identitätsvorstellungen nicht anfechtbar sind oder dass sich der Pluralismus moderner Gesellschaften im Namen des Volkswillens nun einfach einebnen lässt.
Moderne Demokratien versprechen ihren Bürgern möglichst gleiche Chancen, ihre Ideale eines gelungenen Lebens zu verwirklichen. Sie schreiben keine Visionen eines solchen Lebens vor, derart, dass alle, die davon abweichen, sich automatisch als Bürger zweiter Klasse fühlen müssen. So hat beispielsweise der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten es für unzulässig erklärt, staatliche Gebäude – ob innen oder außen – allein mit christlichen Symbolen zu verzieren. Nicht-Christen würde dadurch nämlich suggeriert, dass sie nicht wirklich dazugehören beziehungsweise, dass sie vielleicht überhaupt nicht hier hingehören.
Bekanntlich gibt es in Europa genug Staaten, die dies anders handhaben. Aber auch dort, wo es eine Staatskirche gibt, müssen liberale Demokratien es ihren Bürgern glaubhaft machen können, dass dies keine Spaltung der Bürger in verschiedene Klassen von Zugehörigkeit bedeutet. Man denke an den Unterschied zwischen einem Land, in dem es dann noch zusätzlich verboten ist, Minarette zu errichten, und einem, wo dies und alle anderen religiösen Freiheiten garantiert sind.
Die Rede vom "Volk" ist also keineswegs verboten, oder abstrakter gesagt: Sich an Symbolen festmachende kollektive Selbstverständigungsprozesse muss es auch geben. Die Frage ist, wie man dabei miteinander umgeht. "Unsere Art zu leben" (Alexander Gauland) ist nichts Statisches und nichts Einheitliches, was selbstverständlich nicht heißen soll, dass es keine nationalen Unterschiede gibt. Aber Lebensformen – oder auch wirklich lebendige Traditionen – entwickeln sich, stecken voller Konflikte, sind verhandelbar. Die Stärke eines wohlverstandenen Liberalismus ist gerade, dass er verschiedenen Selbstverständnissen – individuellen und kollektiven – Raum geben will. Die Vorstellung, Liberale seien vor allem an kultureller Homogenisierung ("alle müssen so leben wie progressive städtische Milieus") interessiert, ist ein Missverständnis oder eine bewusst eingesetzte Waffe im Kulturkampf.
Das heißt auch: Man kann demokratisch über Fragen diskutieren wie: Wie viele Einwanderer wollen wir? Und man sollte auf Populisten nicht symmetrisch reagieren, nach dem Motto: Weil Ihr ausschließt, schließen wir Euch jetzt aus. Hier würde man genau in die Falle tappen, einer populistischen Identitätspolitik eine liberale entgegenzusetzen, das moralisch gute Kollektiv gegen die anderen, schlechten Charaktere. Nur: Mit Populisten reden heißt nicht wie Populisten reden. Man darf beispielsweise darauf hinweisen, dass Verallgemeinerungen über "den Islam" größtenteils Unsinn sind. Man darf darauf hinweisen, dass die Vorstellung, Eliten wollten den Nationalstaat in einem Weltstaat auflösen, schlichtweg falsch sind.
Suche nach der Ursache
Mancher Leser mag sich wundern: Bisher ist noch nichts über die viel diskutierte Frage nach den Ursachen von Populismus gesagt worden. Die Feststellung, primär exkludierende Identitätspolitik sei Bestandteil des Populismus, sagt erst einmal nichts über die möglichen Gründe, wann, wo und warum populistische Phänomene auftauchen. Die relativ formale (manche würden sagen inhaltsleere) Charakterisierung von Populismus ist mitunter dahingehend kritisiert worden, dass man die Populisten nun kurzerhand als antipluralistische Störenfriede abtun kann, die irgendwie die Demokratie nicht richtig verstanden haben.
Bekanntlich wird häufig behauptet, die Populisten seien diejenigen, die einfache Antworten auf komplexe Sachverhalte geben. Es fällt jedoch auf, dass viele Beobachter des Phänomens wohl auch ganz froh wären, wenn es auf die Frage nach den Ursachen von Populismus eine simple Antwort gäbe. Da wird dann kurzerhand "die Globalisierung" dingfest gemacht oder, wie es jüngst zwei britische Sozialwissenschaftler getan haben, die Angst der Bürger vor der "Zerstörung ihrer Kultur" durch Einwanderung.
So pedantisch es klingen mag: Die Ursachen für den Erfolg populistischer Führer und Parteien hängen immer stark von nationalen Gegebenheiten ab. Die Gründe für den Aufstieg eines Jörg Haider sind keineswegs identisch mit denen für den Erfolg von Marine Le Pen oder gar denjenigen für die Siege von Trump und Jair Bolsonaro. Zwar kann es Rechtspopulisten helfen, wenn sie einen latenten Kulturkampf in der Politik mit allen Kräften verschärfen. Aber das "Material" für die Kulturschlacht und die Möglichkeiten, wie sich die Trennlinien zwischen vermeintlich wahrem Volk und homogener Elite (beziehungsweise Minderheiten und irgendwie Fremden) ziehen lassen, unterscheiden sich von Kontext zu Kontext.
Diskursverschiebung
Fatal ist nun, dass viele Beobachter – vielleicht getrieben von der Sehnsucht nach möglichst schnellen "Lösungen" für das Populismusproblem – den Populisten ihre eigene Darstellung der Gründe, warum sie Erfolg haben, unbesehen abkaufen. Wenn die populistischen Parteien behaupten, ihre Siege erklärten sich aus Angst vor "Überfremdung" (oder gar "Umvolkung"), wird das für bare Münze genommen. Von einer Position, der zufolge alle Populisten Demagogen sind, denen man eigentlich kein Wort glauben sollte, schlägt man ins andere Extrem um. Plötzlich wird angenommen, die Populisten wüssten irgendwie doch am besten, was im Innersten der Gesellschaft vorgehe. Allein sie verstünden die bislang vermeintlich ignorierten "wahren Sorgen und Nöte" der Bürger. Statt Totalablehnung erfahren die Populisten auf diese Weise totale Akzeptanz – zumindest in dem Sinne, dass man ihnen eine Art Monopol auf quasi-soziologisches Wissen zuspricht.
Dies kann als der größte Erfolg der Populisten gelten: Die Parameter ganzer Debatten verschieben sich. Das, was bei politischen Herausforderungen als gesichertes Wissen oder gar als gesunder Menschenverstand gilt, verändert sich im Sinne der Populisten. Dabei basiert die Vorstellung, allein die Populisten hätten die "wahren Sorgen und Nöte" im Blick, auf einem grundlegenden Missverständnis dessen, wie demokratische Repräsentation funktioniert. Man versteht sie als eine Art Reproduktion immer bereits vorhandener Interessen oder auch Identitäten. Die findigen politischen Unternehmer mit dem Geschäftsmodell Populismus hätten die bisher vom "Mainstream" ignorierten Präferenzen der Bürger entdeckt und sie dann im politischen System abgebildet. Ergebnis: Die Populisten erweisen der Demokratie einen Dienst, weil sie das füllen, was manche Politikwissenschaftler als "Repräsentationslücke" bezeichnen.
Dieses mechanistische Bild von demokratischer Repräsentation verkennt, dass Volksvertretung ein dynamischer Prozess ist. Interessen und sogar Identitäten sind nicht einfach objektiv gegeben. Vielmehr bilden sie sich nicht zuletzt durch die Repräsentationsangebote seitens der Politik, der Medien, aber auch durch Zivilgesellschaft, Freunde und Familie. Das heißt: Sie sind nicht in Stein gemeißelt. Das soll nicht heißen, dass alles beliebig änderbar ist oder dass die Populisten doch alles frei erfunden haben – wobei man wieder beim anderen Extrem wäre, wo Populismus mit purer Demagogie gleichgesetzt wird.
Es ist ein Fehler zu meinen, Trumps Sieg hätte die ultimative Wahrheit über die US-amerikanische Gesellschaft oder zumindest die ständig beschworene "abgehängte weiße Arbeiterklasse" enthüllt. Denn er gewann nicht als Anführer einer spontanen Graswurzelbewegung von Globalisierungsverlierern, sondern als Kandidat einer etablierten Partei. So banal es klingen mag, der Wahlausgang am 8. November 2016 erklärt sich immer noch am besten damit, dass die überwältigende Mehrheit der Bürger, die sich mit der Republikanischen Partei identifizieren, das tat, was eigentlich ganz normal ist: Sie wählte ihre Partei – auch wenn diese einen abnormalen Kandidaten auf den Wahlzettel gesetzt hatte. Damit soll nicht die Tatsache ignoriert werden, dass Trump entscheidend bei einer Reihe von Arbeitern punkte. Aber es soll noch einmal unterstrichen werden, dass hier, wie so häufig, ein Populist nicht wirklich für die schweigende Mehrheit sprach, sondern bestenfalls für eine (ziemlich laute) Minderheit.
Blinde Flecken
Fatal ist auch hier, dass allerlei professionelle Populismusversteher die Erzählungen der Populisten über kulturelle Spaltungen als mehr oder weniger objektiv gegeben akzeptieren. Oft hat man lesen und hören können, die Leute in "Flyover Country" – also den Staaten zwischen den vermeintlich kosmopolitischen, liberalen Küsten – fühlten sich abgehängt, von den Eliten mit disrespect behandelt und zutiefst in ihrer Würde verletzt. Ist solche Missachtung wirklich Teil der gelebten Erfahrung dieser Bürger? Oder wird ihnen buchstäblich Tag und Nacht von konservativen Radiosendern, Fox News und Websites wie "Breitbart" suggeriert, man schaue auf ihre Lebensformen mit Arroganz herab?
In den USA gilt: Polarisierung und kulturelle Spaltung sind ebenso big business. Viele Medien haben ein Interesse daran, ihren Konsumenten Gefühle von Missachtung zu vermitteln beziehungsweise ihren Opferstatus zu bestätigen als die eigentliche Mehrheit, die aber nichts mehr zu sagen habe.
Konflikte werden also bewusst "kulturalisiert" und auch moralisiert. Was in der öffentlichen Auseinandersetzung kaum eine Rolle mehr spielt, sind die politischen Entscheidungen, die zu den Spaltungen beigetragen haben, aber mit vermeintlich verschiedenen Kulturen innerhalb des Landes (konservatives heartland vs. kosmopolitische Küste) kaum etwas zu tun haben: in den Vereinigten Staaten etwa die umfassende Deregulierung der Luftfahrtindustrie, aufgrund derer Flugscheine in entlegene Regionen der USA heute exorbitant teuer sind; das Ende der lokalen community banks, das zum Abstieg ländlicher Gegenden beigetragen hat; die steigenden Mietpreise in den großen Städten, die womöglich im Zusammenhang mit dem totalen Stopp des sozialen Wohnungsbaus stehen.
Damit soll nicht behauptet werden, alle Konflikte ließen sich immer auf etwas Materielles oder auf Fragen nach Verteilung beziehungsweise Umverteilung reduzieren. Aber die Tendenz, "Tribalismus" und Identitäten als nicht hintergehbare Konfliktgründe auszumachen, überwiegt heute – und führt in die Irre. Es ist empirisch bei Weitem nicht bewiesen, dass die Bevölkerungen demokratischer Staaten heute nationalistischer denken als etwa vor zwanzig Jahren, so wie es die Rede von einem umfassenden "nationalistischen Revival" suggeriert. Es ist auch nicht bewiesen, dass sich Konflikte innerhalb der Staaten immer am ehesten als kulturelle verstehen lassen.
Von linker zu rechter Identitätspolitik?
Häufig heißt es, Hillary Clintons Idee einer Regenbogenkoalition habe sie den Sieg in der Präsidentschaftswahl 2016 gekostet, und auf die Politik der Minderheiten seitens der Demokraten habe Trump erfolgreich mit seiner eigenen Politik einer vermeintlich bedrohten weißen Mehrheit geantwortet.
Erstens stimmt dieses Bild empirisch nicht: Die immer wieder als Beispiel für zu viel identity politics angeführten Unisex-Toiletten waren im Wahlkampf 2016 überhaupt kein Thema. Die Wahlkampfthemen, die am ehesten mit Clinton in den Medien assoziiert wurden, waren skandalträchtige Geschichten, die direkt oder indirekt den Verdacht stärkten, Clinton sei auf irgendeine Weise korrupt: etwa die Affäre um die Nutzung ihres privaten E-Mail-Accounts während ihrer Zeit als US-Außenministerin oder Mutmaßungen über die Verwendung von Spendengeldern der Clinton Foundation. Ihre sozial- und wirtschaftspolitischen Ideen für everyday americans, so der bevorzugte Ausdruck der Clinton-Wahlkämpfer, drangen in der Öffentlichkeit überhaupt nicht durch. Trump wurde wiederum fast nur mit einem Thema verbunden: Einwanderung. Aber Clintons vermeintlicher Appell allein an "Spezialinteressen" von Minderheiten, zu denen skurrilerweise auch immer Frauen gerechnet werden, war nicht die dominante Wahrnehmung des Wahlvolkes.
Zweitens darf daran erinnert werden, dass Bewegungen wie "Black Lives Matter" oder "MeToo" nicht so sehr auf die absolute Festschreibung bestimmter Identitäten zielen, sondern Bürger mobilisieren wollen, um elementare Rechte einzufordern: etwa das Recht, nicht von der Polizei erschossen zu werden, oder das Recht, nicht sexuell belästigt oder gar vergewaltigt zu werden. Auch vermeintliche Spezialinteressen wie die von Transgender haben, anders als von konservativen Kritikern immer wieder behauptet, nichts mit der Vorstellung zu tun, das Leben solle möglichst bunt und divers sein. Vielmehr geht es auch hier darum, den liberal-demokratischen Staat an sein Versprechen zu erinnern, möglichst allen ungefähr gleiche Chancen zu bieten. Dabei wird natürlich auch an gemeinsame Leidenserfahrungen appelliert, um zu mobilisieren. Aber es geht wohl kaum darum, eine Art Gruppen-Narzissmus zu generieren und die Gesellschaft möglichst kleinteilig in sich selbst bespiegelnde Kollektive zu zerlegen.
Von den selbstdeklarierten Feinden der Identitätspolitik ist eingefordert worden, man solle sich doch bitte auf das Verbindende und nicht das Trennende konzentrieren beziehungsweise zu besser verhandelbaren materiellen Konflikten zurückkehren. Das übersieht, dass die Bereitschaft, Rechte und Solidarität immer wieder neu auszuhandeln, an sich das Verbindende sein kann – im Kontrast zur Praxis von Rechtspopulisten, die das Verbindende ein für alle Mal an bestimmten Lebensformen ("unsere Art zu leben") festmachen wollen. Und es übersieht, dass erfolgreiche Kämpfe für Gerechtigkeit immer auch "identitätspolitisch" angelegt waren. Die Arbeiterbewegung – um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen – verstand sich eben nicht nur als eine materielle Interessenvertretung, sondern auch als gemeinsames Kulturprojekt, in dem es um die Herausbildung einer bestimmten Lebensform ging.
Vieles von dem, was heute als spalterische Identitätspolitik gebrandmarkt wird, ist also nur ein Versuch, die Versprechen der liberalen Demokratie zu verwirklichen. Pluralisierung ist kein Wert an sich. Pluralismus kann aber als Chiffre verstanden werden für die gemeinsame Bereitschaft, in vielfältigen Gesellschaften Wege zu finden, auf faire Weise zusammenzuleben. Der Versuch, soziale Fairness gegen das liberale Versprechen auf Selbstverwirklichung auszuspielen, ist insofern problematisch, als es sich hier um kein Nullsummenspiel handelt. Konservative, Traditionalisten etc. haben selbstredend auch das Recht, ihre Vorstellungen des guten Lebens zu verwirklichen. Doch die Idee, nur ein homogenes Volk, vereint in einer vermeintlich offensichtlichen "Art zu leben", garantiere ein gutes Leben, kann nur in einer Intoleranz münden, die mit der liberalen Demokratie unvereinbar ist. Das Volk, wie es Jürgen Habermas formulierte, kann nur im Plural auftreten.