Linke Identitätspolitik ist in der Regel eine Reaktion auf Diskriminierung. Sie reagiert darauf, dass einem vermeintlichen Kollektiv bestimmte – nicht unweigerlich ausschließlich negative – Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei werden Menschen zu einer Gruppe zusammengefasst, die eine eigene Einheit bilden soll: Identität kommt vom lateinischen "idem": derselbe, dasselbe. Diese Einheit ist eine soziale Setzung. Die Menschen, die sich in ihr wiederfinden, sind nicht wirklich "dieselben". So hat der Rassismus erst das Konstrukt "Rasse" hervorgebracht – nicht umgekehrt, wie der Journalist Ta-Nehisi Coates es auf den Punkt bringt.
Wenn also Diskriminierung und Unterdrückung immer und ausschließlich kollektiv funktionieren, liegt es nahe, sich auch kollektiv dagegen zur Wehr zu setzen. Doch als Kollektiv auf die gemeinsam erlebte Unterdrückung zu reagieren, setzt zunächst die Akzeptanz dieser fremdbestimmten Zuordnung und Zugehörigkeit voraus. Dieses notgedrungene Akzeptieren wird von einer Eigen- und Neudefinition der zugewiesenen kollektiven Identität begleitet. Die erfahrene Unterordnung samt der abwertenden Attribute sollen zu einer nun selbstgewählten und selbstermächtigenden, positiv konnotierten Kollektividentität werden: Frauen sind nun nicht mehr das "schwache Geschlecht", sondern stark und selbstbestimmt, Schwarz
Identitätspolitik ist also von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität gekennzeichnet. Mit der Affirmation geht eine große Gefahr von Identitätspolitik einher: Essenzialisierung. Denn auch die beispielsweise sexistischen und rassistischen Zuschreibungen sind oft ambivalent und nicht ausnahmslos abwertend. Frauen gelten etwa als empathisch und fürsorglich, Schwarze Männer als stark und potent. Deshalb ist die Versuchung groß, solche Fremdzuschreibungen in den identitären Eigenentwurf aufzunehmen und sie zu essenzialisieren, also zu notwendigen Wesensmerkmalen zu erklären. Der selbstbewusst getragene Afro gehört dann ebenso unauflöslich zu blackness wie die gefeierte Gebärmutter zum Frausein. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer nicht über die nötige Haarstruktur verfügt oder wie Trans-Frauen nicht über das geforderte Organ, bleibt ausgeschlossen. Die angenommene kollektive Identität ist dann auch kein letztlich aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt mehr, sondern sie postuliert und manifestiert erneut Wesensunterschiede, wo eigentlich keine sind.
Es ist allerdings keineswegs selbstverständlich, dass die Herausbildung solch einer positiv gewendeten kollektiven Identität überhaupt gelingt, dafür sind einige Voraussetzungen nötig. Sie muss erzeugt werden, und zwar unter und von Leuten, denen bestimmte gemeinsame Merkmale zugeschrieben werden, die spezifische Interessen teilen und die konkrete Situationen ähnlich erleben. Die Geschichte der Linken ist voll von solchen Versuchen, kollektive Identitäten herzustellen. Einige wesentliche werden im Folgenden beschrieben.
"Als Klasse für sich selbst". ArbeiterInnenbewegung
Identitätspolitiken sind nicht allein Angelegenheit ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Minderheiten. Als während der Industrialisierung ehemalige Bauern und Bäuerinnen und vormalige HandwerkerInnen in die Fabriken strömten, resultierte das in einer massenhaften Angleichung von Arbeitsverhältnissen. Diese mehr oder weniger identischen Produktionsbedingungen führten aber nicht dazu, dass die Menschen sich selbst kollektiv über sie definierten. Sie sahen sich als Schlosser oder Waschfrau, nicht unbedingt als ProletarierInnen. Karl Marx hatte dieses Phänomen, dass die Menschen sich nicht als Klasse wahrnehmen, am Beispiel der Parzellenbauern und der sogenannten Lumpenproletarier in Frankreich beschrieben. Die wahrgenommene und gefühlte Einheit der ArbeiterInnen, diese Identifizierung musste mittels Identitätspolitik erst hergestellt werden.
Die Geschichte der emanzipatorischen Identitätspolitiken muss also mit der ArbeiterInnenbewegung, oder allgemeiner, den ArbeiterInnenbewegungen ansetzen. Denn Klassenpolitiken sind immer auch Identitätspolitiken. Das wussten auch schon die TheoretikerInnen der frühen ArbeiterInnenbewegung. "Um die besitzenden Klassen vom Ruder zu verdrängen", schreibt Friedrich Engels 1891, "brauchen wir zuerst eine Umwälzung in den Köpfen der Arbeitermassen".
Solche Prozesse der Identitätsbildung sind nach Marx konfliktiv, sie werden also in sozialen Auseinandersetzungen – durch Kämpfe – hergestellt: "Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf (…) findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf."
So nahm etwa Gramsci schon zwei Aspekte vorweg, die später entscheidend wurden sowohl für die Praxis als auch für die Theorie hinsichtlich der Frage nach der kollektiven Identität der arbeitenden Bevölkerung beziehungsweise der ArbeiterInnenklasse. Erstens benannte er mit dem "praktischen Leben" den Aspekt der Praxis: Kollektive Identifizierung ist nicht nur Kopfsache, sie spielt sich immer auch in unbewussten Praktiken ab, in dem, was die Leute tun. Und zweitens ist kollektive Identifizierung auch nicht auf Parteiversammlungen oder Parteimitgliedschaften beschränkt, sondern eine Sache des Alltags, sie betrifft den von Gramsci behandelten Alltagsverstand.
"Reflexion einer mentalen Haltung". Schwarze Identitätspolitik
Die Erfahrung kollektiver Erniedrigung und die gemeinsamen Errungenschaften sind zentrale Bezugspunkte Schwarzer kollektiver Identität gewesen. Sie machen ein strategisches Doppel aus. Strategisch ist es insofern, als "kollektiv" und "gemeinsam" nicht notwendigerweise bedeuten muss, als Individuum dabei gewesen zu sein: Man muss nicht selbst Sklavin gewesen oder eine afrikanische Sprache gesprochen haben, um mit der kollektiven Erfahrung und gemeinsamen Errungenschaften objektiv und subjektiv verbunden zu sein, nämlich durch Fremd- und Selbstzuschreibung. Diese beiden Referenzpunkte werden nicht erst in der US-BürgerInnenrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre gesetzt. Auch in den Texten vieler antikolonialer TheoretikerInnen spielt der doppelte Bezug auf kollektiv Erlittenes und gemeinsam Erbrachtes eine große Rolle. Bei diesen Bezügen geht es nicht um die Konstitution von Identität um ihrer selbst willen. Sondern es geht um das Erinnern und Gedenken an erfahrenes Unrecht und um die politische Formierung von Widerstand gegen anhaltende Ungleichheit.
Schwarze Identitätspolitik beschränkt sich also nicht nur auf die Kämpfe in den USA. Es geht immer auch um die Ansprüche und Forderungen der antikolonialen Bewegungen – die schließlich auch die Black-Liberation-Bewegungen in den USA immer wieder stark beeinflusst haben. Damit sollen nicht die vielen verschiedenen Entwicklungen eingeebnet werden, die sowohl die Geschichte der Sklaverei in den USA als auch die der europäischen Kolonien in Afrika ausmachen. Es gibt, bezogen auf Identitätspolitiken, aber einige Strukturähnlichkeiten. Eine davon ist etwa die Tatsache, dass auf ein Verbot, die Sprache der Vorfahren zu sprechen, reagiert wird. Das Vergessenmachen der afrikanischen Sprachen ist Teil der Geschichte der Sklaverei. Es wurde im kolonialen Alltag und in den kolonialen Institutionen in Afrika, allen voran der Schule, mit Gewalt durchgesetzt. Es ist Teil einer kollektiven Erniedrigung und führt zu dem, was der kenianische Schriftsteller und antikoloniale Theoretiker Ngũgĩ wa Thiong’o in den 1980er Jahren die "koloniale Entfremdung"
Auch beim französischen antikolonialen Theoretiker Frantz Fanon war die Geschichte kollektiv erlebter Gewalt zentraler Ansatzpunkt für den Antikolonialismus. Zwar war Fanon skeptisch gegenüber der Betonung des "Eigenen" und hielt es dezidiert für falsch, während des antikolonialen Kampfes die "autochthone Kultur aufzuwerten".
Die Frage des "Schwarzen Bewusstseins" wurde von vielen TheoretikerInnen wie auch AktivistInnen als zentrales Problem der Identitätspolitik angesehen. Sie war Thema in der US-Bürgerrechtsbewegung, aber auch in den antikolonialen Bewegungen und im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika.
Die Négritude-Bewegung, vom Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire in den 1930er Jahren ins Leben gerufen, prägte die antikolonialen Kämpfe in Afrika mit ihrer Betonung der kulturellen Errungenschaften von Schwarzen. Die Bewegung – zu deren Begründern auch der Dichter und erste Staatspräsident des unabhängigen Senegal, Léopold Sédar Senghor, und der Dichter und Politiker Léon-Gontran Damas gehören – war identitätspolitisch motiviert, indem sie auf die Ausbildung Schwarzen Selbstbewusstseins setzte. Es ging zunächst einmal darum, dem eurozentrisch abwertenden Bild Afrikas und Schwarzer Kultur insgesamt, das in das koloniale Alltagsverständnis wie auch in die Philosophiegeschichte eingelassen war – Hegel hatte Afrika als geschichtslos und ohne Bewegung und Entwicklung beschrieben –, etwas entgegenzusetzen. Dafür bezogen sich die Négritude-Intellektuellen auf ein zum Teil sehr traditionell geprägtes Bild von Schwarzer Kultur, die aber reich und dynamisch statt geschichtslos war. Diese schon von Fanon als essenzialistisch kritisierte Haltung galt aber nicht für alle Négritude-VertreterInnen gleichermaßen und zog sich erst recht nicht durch alle anti- und dekolonialistischen Bewegungen in Afrika. Im Nachhinein den Vorwurf des Essenzialismus zu erheben, warnt der britische Historiker Robert J.C. Young, sei ohnehin heikel und verkenne oft die historische Situation, in der die jeweiligen Positionen entwickelt worden sind. Die Négritude-Bewegung jedenfalls sei in der sich ständig verändernden "Mischung aus afrikanisch-amerikanischem Nationalismus und antikolonialem Kommunismus"
Anfang der 1970er Jahre gründete sich in Südafrika die Black-Consciousness-Bewegung als Koalition verschiedener Schwarzer Menschenrechts- und Studierendengruppen. Auch diese Bewegung betrieb Schwarze Identitätspolitik und zielte auf die Ausbildung des Selbstbewusstseins von Schwarzen. Zwar wurde kein großer Wert auf die Zusammenarbeit mit weißen Liberalen gelegt. Steve Biko, der wohl bekannteste Protagonist der Bewegung, definierte Schwarzsein aber ausdrücklich nicht biologisch und nicht ethnisch: "Schwarzsein ist keine Angelegenheit der Pigmentierung", schrieb er 1971, "Schwarzsein ist die Reflexion einer mentalen Haltung".
"Aus dem Rahmen substantieller Identitätsmodelle". Das Feministische Wir
Sich selbst als Frau zu beschreiben, konnte ebenfalls ein solcher Schritt sein. "Bin ich etwa keine Frau?", fragte die ehemalige Sklavin Sojourner Truth 1851. Mit ihrer berühmten Rede "Ain’t I a Woman?" klagte sie auf einer Frauenrechtskonvention in Ohio an, dass die soeben zum Leben erwachte US-Frauenbewegung mit ihrer Emanzipationsforderung Schwarze und versklavte Frauen nicht einschloss – und dies obwohl die US-Frauenbewegung nicht zuletzt vom Kampf der AbolitionistInnen für die Abschaffung der Sklaverei inspiriert war.
Sojourner Truths Kritik markierte damit den Anfangspunkt einer Auseinandersetzung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Feminismus zieht: Für wen kämpft der Feminismus eigentlich? Wer genau waren "die Frauen", für deren Rechte er eintrat? Oder andersherum gefragt: Wer war jeweils ausgeschlossen? Etwa als Olympe de Gouges 1791 mit ihrer "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" die Errungenschaften der Französischen Revolution auch für Frauen reklamierte – oder als mehr als hundert Jahre später die Suffragetten das Frauenstimmrecht forderten. Von Anfang an stand die Frauenbewegung vor der fundamentalen Herausforderung, ein politisches Subjekt "Frau" zu bestimmen und Gemeinsamkeiten zu proklamieren, über die sich dieses Kollektiv definieren konnte. Diese Identifizierung schlug (und schlägt weiterhin) wie bei Sojourner Truth nicht nur aufgrund der Hautfarbe fehl, sondern dieses Scheitern wird im Verlauf der Geschichte des Feminismus die unterschiedlichsten Gründe haben. Arbeiterinnen fühlen sich vom bürgerlichen und Feministinnen des globalen Südens vom westlichen Feminismus ausgeschlossen, lesbische Frauen lehnen den Feminismus der heterosexuellen Frauen als exkludierend ab, und Trans-Frauen fühlen sich von Cis-Frauen ausgegrenzt.
Ein zentraler Grundkonflikt der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Ersten Frauenbewegung war zunächst jedoch der Antagonismus zwischen Arbeiterinnen und bürgerlichen Feministinnen. Entsprechend lässt sich die Bewegung auch in zwei großteils getrennt agierende Lager einteilen: die bürgerliche Frauenbewegung und die sozialistische Frauenbewegung, die jeweils eine andere Identitätspolitik verfolgten.
1888 entstand aus der Suffragetten-Bewegung in den USA der Internationale Frauenrat (International Council of Women, ICW), der die Gründung möglichst vieler nationaler Frauenverbände und ihre Vernetzung zum Ziel hatte, um möglichst breite Allianzen bilden zu können. Im Vordergrund standen dort jedoch eher gemäßigte Forderungen, neben dem Frauenwahlrecht wurden vor allem mehr Bildungs- und Berufsfreiheiten für Frauen aus dem Bürgertum verlangt, denen die Ausübung eines Berufs bis auf wenige Ausnahmen verwehrt war. Das alles hatte mit der Lebensrealität vieler Arbeiterinnen und völlig rechtloser Tagelöhnerinnen jedoch wenig zu tun, entsprechend schlecht konnten sie sich mit diesem neuen feministischen Frauensubjekt identifizieren.
Die Entstehung des black feminism ein knappes Jahrhundert später weist einige Parallelen zu den Anfängen des sozialistischen Feminismus auf, denn auch dessen Identitätspolitik war weit komplizierter als die Identitätspolitik anderer Frauen. Wie die Sozialistinnen fühlten sich auch politisch engagierte Schwarze Frauen oft vom Chauvinismus der von Männern dominierten politischen Organisationen abgestoßen. So klagte etwa Angela Davis den Sexismus bei der Black Panther Party an, der sie sich als Studentin kurzzeitig angeschlossen hatte. Zugleich sahen sich die Frauen in den Verlautbarungen und Praktiken des weißen, oft von Frauen aus der Mittelschicht getragenen Feminismus nicht vertreten. Im Zweifelsfall verbündeten sich Schwarze Frauen dann doch lieber mit Männern als mit weißen Frauen, teilten sie doch mit Ersteren ebenfalls eine Unterdrückungserfahrung – die entscheidendere, wie viele fanden. Viele Frauen erlebten entsprechend einen veritablen Interessenkonflikt zwischen women’s liberation und black liberation – der eben nicht selten zugunsten der Schwarzen Community ausging, trotz aller feministischen Kritik an dieser. So berichtet etwa Audre Lorde von einem vergeblichen Versuch, Schwarze Frauen feministisch organisieren zu wollen, bei dem sie zur Antwort bekam: "Du bist ja total wahnsinnig, unsere Männer brauchen uns doch". Oder: "Wir können nicht als Frauen zusammenkommen. Wir sind Schwarze."
Die Zweite Frauenbewegung (1960er und 1970er Jahre) sieht sich dann ab den frühen 1990er Jahren ein weiteres Mal herber Kritik ausgesetzt, auch wegen ihrer Identitätspolitik. Diese Kritik wird gemeinhin als "dritte Welle" des Feminismus (third wave feminism) bezeichnet. Diese Welle ist gekennzeichnet vom Aufkommen der Queer-Theorie. Darin wird unter anderem das vermeintlich einheitliche Subjekt "Frau", nach der Kritik der Schwarzen Frauen, erneut infrage gestellt. Die Philosophin Judith Butler gilt als die Wegbereiterin dieses Third-Wave-Feminismus und ihr 1990 erschienenes Buch "Gender Trouble" quasi als Gründungsmanifest des Queerfeminismus.
So verkürzend es unweigerlich ist, als einzelnes Ereignis festlegen zu wollen, was eigentlich eine Entwicklung ist, so zutreffend ist es dennoch, Judith Butlers in diesem Buch formulierte Infragestellung der Sex/Gender-Trennung als zentralen Paradigmenwechsel zu betrachten. Galt Sex, also das biologische Geschlecht, bislang als unbeschriebenes Blatt, über das sich das kulturelle/soziale Geschlecht (Gender) nur überstülpte, stellte Butler diese Unterscheidung radikal infrage. Die Unterscheidung von biologischem Geschlecht (Sex) und Geschlechterrolle (Gender) war für die Zweite Frauenbewegung enorm wichtig. Denn sie diente dazu, die konservative Behauptung zurückzuweisen, bestimmte biologische Merkmale, zum Beispiel die Gebärmutter, prädestinierten zu bestimmtem Sozialverhalten, etwa Kinder betreuen. Butler ging nun einen Schritt weiter und behauptete, auch das biologische Geschlecht sei ein Effekt von Diskursen und keineswegs vordiskursive Materialität. Insbesondere deutsche Feministinnen wiesen diese mit Entmenschlichung assoziierte "Entkörperung" von Frauen empört zurück, was zu einer "gereizte[n] Debatte"
Einige Feministinnen räumen zwar, unter einigen Vorbehalten, die Triftigkeit von Butlers Schlussfolgerungen ein, fordern aber dennoch, wie etwa Andrea Maihofer, dass gerade "deshalb, weil wir zu Geschlechtern gemacht werden und als solche existieren, (…) feministische Politik hiervon auch ausgehen [muss]".
"Auf die Absage an Dominanz gründen". Solidarität
Doch die queere Ablehnung von Identitätspolitik ist, so lässt sich polemisch zugespitzt resümieren, vor allem eine Ablehnung kollektiver Identität. Individuelle Identitätspolitik hingegen wird mit großer Leidenschaft betrieben – und sogar immer weiter individualisiert. Mit der Herausbildung immer feinerer Differenzkategorien und einer immer größer werdenden Sensibilität für intersektionale
Denn Differenz zu feiern, ohne dabei auch die Diskriminierung und Ausbeutung anderer im Blick zu haben, ist – neben der Essenzialisierung – wohl die größte Gefahr emanzipatorischer Identitätspolitiken. Was aber eben im Umkehrschluss keinesfalls heißt, dass solche Differenzen für die gemeinsame Sache geleugnet werden sollen. Denn bei genauer Betrachtung zeigt sich: Auch wenn Interessengegensätze in der Geschichte der Linken gewaltige Konflikte und heftige Kämpfe zur Folge hatten: Auf lange Sicht hat der traditionsreiche "Streit um Differenz" linke Bewegungen vorangebracht und gestärkt. Denn Kritik – im besten Fall ist es freilich eine solidarische Kritik – ist ein unabdingbares Korrektiv, das vor Dogmatismus schützt und Egalität einklagt, wo diese noch nicht realisiert ist. In der Betonung von Differenzen liegt also auch eine Chance: Sie ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit für Solidarität.
Denn radikale Solidarität basiert auf Differenzen. Sie setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann. Sie besteht nicht in erster Linie in der Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen, sondern darin, sich mit Menschen zu solidarisieren, mit denen man gerade nicht die Fabrik und das Milieu, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt.
Die historisch häufig gehegte Vorstellung, die eigene Unterdrückung mache sensibler und aufmerksamer für die Unterdrückung anderer und bereite damit den Weg für breite Allianzen, ist tausendfach konterkariert worden. Bekanntlich führten marginalisierte Männlichkeiten nicht zwangsläufig zu einer größeren Sensibilität für Sexismus, und selbstverständlich können auch Lesben Rassistinnen oder Schwarze Frauen homofeindlich sein. Schon in den 1980er Jahren stellte die niederländische Feministin Anja Meulenbelt ernüchtert fest: "Unterdrückung macht niemanden verständnisvoller."
Solidarität, meint auch die Kulturwissenschaftlerin bell hooks, muss sich überhaupt nicht auf gemeinsame Erfahrung beziehen, sie "kann sich auf das politische und ethische Verständnis von Rassismus und die Absage an Dominanz gründen. Daraus läßt sich ersehen, wie wesentlich die Erziehung zu einem kritischen Bewußtsein ist, einem Bewußtsein, das Mächtige und Privilegierte in die Lage versetzen kann, sich der Herrschaftsstrukturen zu entledigen, in denen sie verwurzelt sind, ohne sich als Opfer fühlen zu müssen."
An diesem Glauben daran, dass auch mächtige und privilegierte Menschen sich von Dominanzkulturen distanzieren können, ist ein nicht bloß normatives, sondern auch ein praktisch-politisches Ideal – auf das auch der Glaube daran, dass eine bessere Welt möglich ist, elementar angewiesen ist.