Seit einigen Jahren wird in Nordamerika und Europa vermehrt über Identitätspolitik diskutiert – meist in Form von Kritik an Teilen der Linken und ihrer vermeintlichen Fixierung auf die Rechte von Minderheiten. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Identitätspolitik fragmentiere die Gesellschaft und unterminiere Solidarität. Sie sei selbstgerecht, verrate die Werte der Aufklärung und bedrohe die Redefreiheit, weil sie Moral über das bessere Argument stelle. Sie finde auf dem Rücken der Mehrheitsbevölkerung statt, und sie fördere einen Opferwettbewerb, der Kulturelles in den Vordergrund rücke und vom Wesentlichen ablenke, nämlich vom Sozialen und Ökonomischen.
Der Begriff "Identitätspolitik" steht zunächst für die Ausrichtung politischen Handelns an Interessen von Menschen, die anhand von Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Herkunft oder sexuelle Orientierung zu einer Gruppe zusammengefasst werden. Derartige Kategorien bedeuten immer auch eine bewusste Grenzziehung, die den Ausschluss des "Anderen" impliziert. Mit einer solchen Grenzziehung zwischen dem "wahren Volk" und der "korrupten Elite" war rechte Identitätspolitik zuletzt in vielen Ländern bei Wahlen erfolgreicher als linke.
Unter der Chiffre "Identitätspolitik" lässt sich eine grundlegende Debatte darüber führen, was demokratische Gesellschaften spaltet: Sind es Fragen über Kultur und Zugehörigkeit oder verteilungspolitische Fragen? Protestieren Menschen auf den Straßen und an den Wahlurnen, weil sie sich von Fremdheit bedroht fühlen oder von Armut – oder von einer Kombination aus beidem? Umgekehrt könnte man auch fragen: Was hält Gesellschaften eigentlich zusammen?