Einleitung
Fußball ist heute ein wahrhaft globales Spiel. 28,8 Milliarden Zuschaltungen haben die Experten während der letzten Weltmeisterschaft in Japan und Korea 2002 gezählt, d.h., jeder der 6,2 Milliarden Erdenbewohner hat sich, statistisch gesehen, mehr als vier Mal in die Endrunde des Turniers eingeschaltet. Die Sache reduziert sich jedoch nicht auf ein Medienereignis, sondern veranlasst Menschen überall auf der Welt zu sportlichen Aktivitäten. Nach dem "Big Count", einer statistischen Erhebung der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) aus dem Jahr 2000, beläuft sich die Gesamtzahl der Spielerinnen und Spieler auf der Welt auf 242 Millionen, das entspräche 4,1 Prozent der Weltbevölkerung. Die FIFA zählt 204 Mitgliedsverbände und ist damit auf der Erde flächendeckender verbreitet als die UNO.
Ein solches weltweites Massenphänomen ist erklärungsbedürftig. Seit wann ist Fußball derartig beliebt? Worauf gründet sich die Popularität des Spiels? Welches sind die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen seines Verbreitungserfolges? Dieser Beitrag entwickelt zwei historische Antworten auf diese Fragen. Zum einen zeigt er, wie das Fußballspiel in seinem Mutterland England auf eine rationale organisatorische Basis gestellt wurde, die überall auf der Welt reproduzierbar war. Zum anderen zeichnet er nach, welche Entwicklungsimpulse der moderne Fußball aus der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts erhielt und welche Eigendynamiken des Spiels daraus erwuchsen.
Die Rationalisierung des Fußballspiels
Die Autoren vieler älterer und mancher neuerer Fußballbücher versichern ihren Lesern, dass das Spiel so alt wie die Menschheit sei, und verweisen auf die zahlreichen Vorläufer in der vorindustriellen Volkskultur: auf das Calcio-Spiel des florentinischen Adels zur Zeit der Renaissance, das Kalagut-Spiel der Eskimos, das russische Lapta, das japanische Kemari und das schweizerische Hornussen. Auch in England, dem Geburtsland des modernen Spiels, wurde Fußball schon in vorindustrieller Zeit gespielt. Ob es konkrete Verbindungen zwischen diesen traditionellen Ballspielen und dem modernen Fußball gibt - das ist indes eine ganz andere Frage, die nach einer differenzierten Antwort verlangt. So waren einerseits die meisten der genannten Spiele längst ausgestorben, als das moderne Fußballspiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gestalt annahm. Andererseits hatte gerade in England die frühe, schon in vorindustrieller Zeit einsetzende Urbanisierung dazu beigetragen, dass bestimmte Elemente der "popular culture" und darunter auch diverse Ballspiele in die Alltagskultur der wachsenden Städte überführt wurden.
Am 23. Oktober 1863 fanden sich Vertreter von Fußballmannschaften der vornehmen Public Schools und der Universitäten Oxford und Cambridge im Freemasons' Tavern in London ein, um die höchst unterschiedlichen Spielregeln der einzelnen Bildungsinstitutionen zu vereinheitlichen. Sie wollten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ihre Mannschaften untereinander Matches austragen konnten, ohne die Regeln jedes Mal von neuem verabreden und sich hinterher über deren Auslegung streiten zu müssen. Im Ergebnis dieses Gentlemen-Treffens erfolgte daher nicht nur dieFestlegung verbindlicher Spielregeln, sondern auch die Gründung einer Football Association (FA), die als Aufsichtsbehörde fungieren und in Zweifelsfällen das Interpretationsmonopol ausüben sollte. Das war, so lässt sich argumentieren, die Geburtsstunde des modernen Fußballs, denn diese beiden Maßnahmen zusammen schufen die Voraussetzung für die erfolgreiche Institutionalisierung und zugleich Reproduzierung des Fußballspiels. Auch die konkrete Ausgestaltung der Spielregeln und des Spiels war zukunftweisend:
Erstens entschieden sich die Gründer bei ihren Beratungen gegen eine an der Rugby-Schule beliebte Spielweise mit einem eiförmigen Ball, bei der das Handspiel und das Treten des Gegners ("hacking") erlaubt waren, und verständigten sich auf eine andere Variante: jene mit einem kugelrunden Ball, den die Feldspieler nur mit den Füßen weitergeben durften. Diese Spielweise war weniger verletzungsträchtig und auch für Berufstätige geeignet. Sie ließ Raum für Kraft und Artistik, Kalkül und Spontaneität. Und da die Athleten bestimmte Rollen, etwa die des Stürmers, Verteidigers oder Tormanns, übernehmen mussten, konnten sich wie in einem Drama Individualität und Gemeinschaftsgeist, Egozentrik und Opfermut, Starallüren und Heldentum entfalten.
Zweitens beanspruchte die Football Association uneingeschränkte Autorität über ihr Spiel. Sie veranlasste nicht nur die Publikation der verabredeten Regeln, sondern traf durch die Lizensierung von Schiedsrichtern und sonstigem Fachpersonal auch Vorkehrungen zu ihrer Durchsetzung. Diese Maßnahmen verhinderten Streitigkeiten unter den Athleten. Sie bewirkten zugleich, dass eine Grenze zwischen dem abstrakten Spiel und seiner konkreten Umwelt gezogen und Interventionen Außenstehender in das Wettkampfgeschehen abgewehrt wurden. So blieb das Fußballspiel auf sich selbst bezogen und konnte Eigenweltcharakter entfalten.
Drittens stimulierte die Football Association den Spielverkehr. Die entscheidenden Maßnahmen dazu waren die Organisierung eines Ligasystems bis hinunter auf die lokale Ebene und die Stiftung einer Trophäe, des seit 1871 ausgespielten "FA-Cup". Auf diese Weise konnten auch indirekte Leistungsvergleiche zwischen den Mannschaften gezogen werden. Zugleich wurden die Spiele, die für sich gesehen diskrete Ereignisse waren, in eineKontinuität gebracht und bekamen eine "Geschichte" ("legendäre Matches", die "Ära" bestimmter Klubs, Spieler usw.). Fußball wurde so zu einem Element der "Kultur der Moderne", die sich nach einer gängigen Definition dadurch auszeichnet, dass sie das "Vorübergehende", "Zufällige" mit dem "Ewigen" zu verbinden vermag.
Viertens verzichtete die Football Association auf die Festlegung sozialer Teilnahmekriterien. Im Unterschied zu den vergleichbaren Organisationen für Leichtathletik, Rudern und Schwimmen, die nur wenige Jahre später gegründet wurden, führte die für Fußball nicht einmal das Wort "Amateur" im Namen. Offenbar hatten die Gentlemen nicht vorhergesehen, dass das Spiel jemals etwas anderes als ein geselliges Vergnügen für ihresgleichen sein könnte. Doch blieb die soziale Offenheit auch dann noch erhalten, als Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein Teil der Mitglieder versuchte, bestimmte Klubs, die Spielern aus der Arbeiterschaft mehr als die Spesen erstatteten, von der Teilnahme an den Liga- und Pokalspielen auszuschließen. Stattdessen führte die Football Association den Status des Berufsspielers ein, und 1888 eröffnete sie eine Profiliga.
Diese Regulierung und Organisierung machte das Associations-Spiel, kurz "Soccer", zu einem Vergnügen, das im Prinzip überall gespielt werden konnte, wo ein den Normen entsprechender Platz vorhanden war. Und daran konnte sich jedermann beteiligen: als aktiver Spieler, Zuschauer, Zeitungsleser oder Teilnehmer am sportlich-geselligen "small-talk".
In England, wo sich "Soccer-Fußball" bald großer Popularität erfreute, trat dieser universale Charakter u.a. darin hervor, dass sich das zunächst von bürgerlichen Gentlemen regulierte und beaufsichtigte Spiel innerhalb weniger Jahre zu einem charakteristischen Element der Arbeiterkultur entwickelte. Zwar bildeten Arbeiter unter den Klubmitgliedern und erst recht unter den Funktionären nur eine kleine Minderheit. Vor dem Hintergrund der englischen Hochindustrialisierung waren es dennoch sie, die der entstehenden Fußballkultur ihren Stempel aufdrückten. Dies nicht nur, weil sich die besten und bekanntesten Profis und Halbprofis aus ihren Reihen rekrutierten, sondern auch, weil die seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erheblich gestiegenen Reallöhne und der von den Gewerkschaften erstrittene freie Samstagnachmittag es ihnen ermöglichten, regelmäßig zum Fußball zu gehen und den Ligabetrieb zu verfolgen. Um 1910 beliefen sich die Besucherzahlen in den Spitzenspielen von Aston Villa, Preston North End und Blackburn Rovers auf durchschnittlich 10 000, und in der Saison 1913/14 wurden die Spiele der English Football League von durchschnittlich 23 000 Menschen besucht.
Von England in die Welt
Die universale Qualität des von der FA beaufsichtigten englischen Fußballspiels kam darüber hinaus darin zum Ausdruck, dass es auch außerhalb seines "Mutterlandes" Anhänger fand. Dieser Kulturtransfer setzte allerdings eine technische Neuerung des Industriezeitalters voraus: das moderne Dampfschiff. Dieses Verkehrsmittel trug seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dazu bei, dass die europäische Überseewanderung nie gekannte Ausmaße erreichte und sich auch der allgemeine Verkehr zwischen England und dem europäischen Kontinent intensivierte.
Nicht wenige jener Briten, die sich auf die Dampfschiffe begaben, hatten einen Fußball im Gepäck.
Die neuen Mit- bzw. Gegenspieler rekrutierten sich zunächst aus den unmittelbaren Kontaktpersonen der Briten. Es handelte sich also um Geschäftspartner, Manager und Techniker, in West- und Osteuropa darüber hinaus auch um die Sprößlinge aristokratischer Familien bzw. - in Südamerika - um die Söhne der traditionellen Eliten, die in den von den Briten dort errichteten Colleges erzogen wurden. Nicht wenige der neuen Fußballjünger waren selbst Immigranten, und ein vergleichsweise hoher Anteil rekrutierte sich aus Juden, Studenten und dem wachsenden Heer der Angestellten, einer gewissermaßen traditionslosen, erst mit der Hochindustrialisierung entstehenden Schicht. Gemeinsam war allen diesen Gruppen, dass sie am Rand der bürgerlichen Gesellschaft angesiedelt waren und nach sozialer Integration strebten. Arbeiter hielten sich von dem Spiel hingegen weitgehend fern: weil sie kein Geld und keine Zeit dazu hatten, weil sie andere Freizeitbeschäftigungen wie das Turnen und die Angebote der organisierten Arbeiterbewegung vorzogen oder weil es - wie in Brasilien und anderen südamerikanischen Ländern - wegen der Rückständigkeit der Industrialisierung überhaupt erst wenige von ihnen gab.
Es war dieser Mittel-, teilweise sogar Oberschichtencharakter, der den Fußballsport in den europäischen, aber auch den südamerikanischen Importländern vom englischen Prototyp unterschied. Während der englische Fußball seit den achtziger Jahres des 19. Jahrhunderts seinen Charakter als Gentlemanvergnügen zunehmend einbüßte und bald als genuines Element der Arbeiterkultur galt, behielt das Spiel außerhalb Englands den in der Entstehungsphase erworbenen Elite- und Mittelschichtencharakter teilweise bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bei. Für die Institutionalisierung des Fußballs in den betreffenden Ländern war das insofern von Vorteil, als damit soziale Nähe zum politischen Establishment und zu dessen Fördermitteln einherging. Auf die eine oder andere Weise wurde der Fußball in vielen Ländern von den Dynastien und vom Militär, von der Politik und den Behörden unterstützt.
Die Kulturbedeutung des Fußballs
In diesem sozialen Rahmen verkörperte das Fußballspiel das spezifisch moderne Lebensgefühl der Jahrhundertwende, insbesondere der Aufsteiger und "selfmademen", die offen für alles Neue waren und sich um Konventionen wenig scherten. Für viele von ihnen waren der Gebrauch der englischen Sprache und die Imitation des "English way of life" auch der Versuch, sich von bestimmten überkommenen Mustern der eigenen Kultur wie z.B. der Turnbewegung mit ihrer Neigung zum Kollektivismus und zur Korrektheit zu distanzieren. Für die Akzeptanz und den Verbreitungserfolg des Importartikels Fußball war die Modernität der Anhänger jedoch nur eine notwendige, nicht schon eine hinreichende Voraussetzung. Denn Wurzeln schlug dieser Sport in seinen neuen Wirtsgesellschaften nur dann, wenn es ihnen gelang, die abstrakte soziale Form des Spiels mit konkreten, auf die jeweilige Gesellschaft zugeschnittenen Sinninhalten zu füllen. Wo das nicht gelang, wie z.B. in Japan, erkannten die Zeitgenossen auf dem Fußballfeld nicht mehr als zwölf Figuren in kurzen Hosen, die hinter einem Ball herliefen.
Ein Vehikel, solchen "Sinn" zu erzeugen, waren die vielfältigen ethnischen Subkulturen, wie sie z.B. in der österreichischen K.u.K.-Doppelmonarchie und den überseeischen Einwanderstaaten bestanden. Die Existenz dieser Subkulturen führte zu gewissermaßen "natürlichen" Mannschaftsbildungen und Spielpaarungen, etwa Böhmen gegen Kroaten oder Italiener gegen Griechen. Dieser Effekt ging jedoch verloren, wenn die Immigranten - wie z.B. in den USA - erfolgreich in den Schmelztiegel der Nationalkulturen absorbiert wurden.
Nachhaltiger wirkte daher die "Sinngebung" aus dem übersteigerten Nationalismus und den Großmachtsphantasien der Jahrhundertwende, zumal sie die Rivalität mit den britischen Lehrmeistern stimulierte. Im politisch aufgeheizten und aggressiven Klima der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg führte diese Entwicklung zu einer Emanzipation von den britischen Lehrmeistern und zur Zurückdrängung des unbefangenen Kosmopolitismus der Zeit vor 1900. Das äußere Zeichen dafür war die Abkehr von der englischen Sportsprache. Die Fachverbände, die - mit Ausnahme des "Deutschen Fußball-Bundes" - zunächst wie in England "Football Association" genannt worden waren, bekamen nun neue Namen in der jeweiligen Landessprache, und aus "football" wurde "Fußball" oder "voetbal"; die Italiener wählten "calcio", den Namen eines alten florentinischen Spiels aus der Zeit der Renaissance.
Vom Eliten- zum Massensport
Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich das Spiel in den meisten Ländern, in denen es vor 1914 erfolgreich etabliert worden war, zu einem Massenphänomen. In Südamerika wurde dieser Aufschwung vom Durchbruch der Industrialisierung bewirkt, in Russland darüber hinaus durch die Oktoberrevolution, die eine Erweiterung der sozialen Basis erzwang. In West- und Mitteleuropa war es der Erste Weltkrieg, der dem Spiel die entscheidenden Impulse gab:
Wohl alle beteiligten Armeen führten spätestens mit dem Übergang zum Stellungskrieg 1916/17 sportliche Wettkämpfe durch und bauten einen geregelten Trainingsbetrieb auf, um die Truppenmoral aufrechtzuerhalten. Fußball (und das diesem Spiel nachempfundene Handballspiel) waren die beliebtesten Disziplinen, die, wie ein preußischer General missbilligend feststellte, "das militärische Leben bei einzelnen Truppen [bald] mehr beherrschten als der nüchterne Dienst mit der Waffe"
Zum einen sprengte die große Zahl sportfreudiger Kriegsheimkehrer, die nun in die Klubs, Vereine und auf die Zuschauertribünen drängten, die vorhandenen Kapazitäten, und die Wettkämpfe verloren den vor 1914 entwickelten elitären Charakter. Zum anderen konnten viele derjenigen Fußballspieler, die im Krieg sportlich sozialisiert worden waren, das einmal angeeignete Sportverständnis nicht einfach ablegen wie ihre Uniform. Diese Entwicklung wurde in den mittel- und osteuropäischen Verliererstaaten noch dadurch gefördert, dass sich die militärischen Kommandobehörden unter dem Eindruck der Niederlage und - so in Deutschland - der revolutionären Ereignisse bemühten, die Heimkehrerströme durch entsprechende Angebote zu bremsen und zu kanalisieren.
Berufsfußball und die Internationalisierung des Spielverkehrs
Ob der Massencharakter des Spiels nun durch den Weltkrieg oder durch andere Faktoren gefördert wurde - seine Begleiterscheinungen waren überall in der Welt die gleichen:
Erstens kam es zur Ausdifferenzierung verschiedener Leistungsniveaus, und in den Metropolen bildeten sich rivalisierende Spitzenmannschaften. Diese wurden vom Publikum mit bestimmten ethnischen, konfessionellen und sozialen Kulturen identifiziert, ohne dass sich ihre soziale Basis unbedingt auf die entsprechenden Subkulturen beschränkt hätte. Nicht selten war es vielmehr so, dass solche symbolischen Konflikte oftmals erst durch das Spiel selbst geschürt, ja künstlich erzeugt wurden.
Zweitens fand Fußball nun das Interesse auch jener Zeitgenossen, die selber niemals aktiv gespielt hatten. Die Zuschauerzahlen gingen in die Tausende und Zehntausende, und erstmals erzielten auch Klubs außerhalb Englands regelmäßige Einnahmen aus Eintrittsgeldern. Die meisten berühmten Fußballstadien Südamerikas und Europas (inklusive des Londoner Wembley-Stadions) entstanden in dieser Boomphase nach dem Ersten Weltkrieg.
Drittens intensivierte sich in Kontinentaleuropa und in Südamerika der internationale Spielverkehr. Um die neuen großen Stadien zu füllen, luden die Klubs ausländische Teams ein, und um die Hypotheken bezahlen zu können, gingen ihre Mannschaften auf Auslandstournee. Darüber hinaus wurden internationale Turniere ins Leben gerufen. Die südamerikanischen Fußball-Länder, die sich bereits 1916 in einer Confederación Sudamericana de Fútbol (CONMEBOL) zusammengeschlossen hatten, spielten seit 1920 um einen Pokal und seit 1922 um die Südamerikanische Meisterschaft. Und in Europa organisierten einige Verliererstaaten des Weltkriegs, die von den Siegermächten boykottiert wurden und von den Olympischen Spielen ausgeschlossen waren, internationale Fußballturniere der Vereinsmannschaften: seit 1927 um den Mitropa-Cup, seit 1929 um den Balkan- und Baltic-Cup.
Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass etwa seit Mitte der zwanziger Jahre das Thema Berufsfußball diskutiert wurde. Die Spitzenspieler sahen sich von den Vereinen immer stärker beansprucht und verlangten ihren Anteil an den Einnahmen. Die Klub- und Verbandsoffiziellen, im Allgemeinen Angehörige der Gründergeneration, beharrten hingegen auf dem Amateurprinzip - teils aus Rücksicht auf die Finanzen, teils aus politischen Motiven: Fußballspieler sollten heldenhafte Vorbilder sein und daher zumindest pro forma Idealisten bleiben. Das Thema Professionalismus wurde international auch deshalb so heiß diskutiert, weil sich generelle Aussagen über die Natur der Sache nicht treffen ließen. In einigen Fällen - z.B. in Brasilien - war der Scheinamateurismus die Grundlage für Ausbeutungsverhältnisse. In anderen - so in der Sowjetunion und in Deutschland - bot der vertragslose Zustand den Spielern die Möglichkeit, ihre Marktchancen optimal auszunutzen.
Der Durchbruch des Berufsfußballs, sei es auf einer offen kommerziellen Basis, sei es verbrämt als Staatsamateurismus wie in der Sowjetunion, erfolgte in den meisten europäischen Ländern (mit Ausnahme Deutschlands)
Zunächst einmal erweiterte die Weltmeisterschaft den bis dahin auf Europa beschränkten internationalen Spielermarkt, so dass - insbesondere in den kapitalschwachen südamerikanischen Ländern - ein Exodus von Spitzenspielern einsetzte. Die Einführung des bezahlten Fußballs war dort nicht zuletzt eine Maßnahme, die Stars im Lande zu halten.
Diese Spielertransfers wiederum bewirkten eine gegenseitige Beeinflussung der Spielweisen, wobei sich die den Ozean überspannende argentinisch-italienische "connection" als besonders fruchtbar erwies. Juventus Turin z.B. verschaffte sich über diese "connection" eine legendäre Mannschaft von offensiven Angreifern und Ballkünstlern, von denen hier nur der argentinische Star Raymundo "Comet" Orsi genannt werden soll. Der österreichische "Donaufußball" blieb hingegen an seinen mitteleuropäischen Entstehungskontext gebunden - ein Beleg dafür, dass der globale Austausch in dieser Zeit wichtiger war als der europäische.
Schließlich stimulierte die Weltmeisterschaft erneut den sportlichen Nationalismus. Ähnlich wie in den Städten scheint es dabei auch auf dieser internationalen Ebene vergleichsweise unerheblich gewesen zu sein, ob den Rivalitäten reale politische Konflikte zugrunde lagen oder nicht. Allein der Wunsch, in der internationalen Konkurrenz zu bestehen, reichte aus, um das Interesse der Öffentlichkeit in den einzelnen Ländern zu wecken.
Aus dieser Diagnose, dass das Spiel seit den zwanziger und dreißiger Jahren eine Eigendynamik entwickelte und ein Faktor sui generis wurde, erklären sich die differenzierten Urteile in der Literatur über das Verhältnis von Fußball und Politik in den Diktaturen und autoritären Regimen Europas und Südamerikas. Auf der einen Seite lassen sich etwa für die Sowjetunion unter Stalin und für Österreich in der Zeit des "Anschlusses" an das nationalsozialistische Deutschland Willkürakte, Deportationen und sogar Morde nachweisen. Auf der anderen Seite florierte der Spielbetrieb dort, aber auch z.B. im faschistischen Italien, nicht nur trotz, sondern auch und gerade wegen der Interventionen "von oben": Denn die Diktatoren ließen Stadien bauen, stellten öffentliche Mittel für Trainingslager bereit und sorgten mithilfe ihrer politischen Massenorganisationen für große Zuschauerzahlen.
Europäische und außereuropäische Interessenkonflikte
Die Instanz, die den internationalen Spielverkehr und die Spielertransfers regulierte und überwachte, war die im Jahr 1904 gegründete FIFA, die seit 1930 im Vierjahresrhythmus auch die Fußball-Weltmeisterschaft veranstaltete. Die FIFA beanspruchte von Anfang an ein Weltmonopol, blieb jedoch hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Führungsspitze und ihrer Politik zunächst eine von Europäern dominierte Organisation.
Das sollte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ändern. Denn in Europa war der Spielbetrieb zwischen 1939 und 1945 zunehmend eingeschränkt worden und dann ganz zum Erliegen gekommen. Demgegenüber war die Entwicklung in vielen außereuropäischen Ländern kontinuierlich verlaufen, weil diese Länder entweder gar nicht am Weltkrieg teilgenommen hatten oder zumindest von Kampfhandlungen zu Hause verschont geblieben waren. Dadurch gewann zunächst der südamerikanische Fußball an Gewicht - eine Entwicklung, die sich nicht nur auf dem Spielfeld zeigte, wo sich im Endspiel der WM 1950 Uruguay und Brasilien gegenüberstanden, sondern auch in der Sportpolitik: Der Anteil der europäischen Fußballverbände an der Gesamtmitgliedschaft der FIFA war nämlich zwischen 1945 und 1955 von 54 auf 42 Prozent gesunken.
Der europäische Fußball wurde nach 1945 darüber hinaus durch den Kalten Krieg beeinträchtigt. Während dieser Konflikt auf viele andere Sportarten durchaus positive Effekte hatte, weil nun erneut staatliche Subventionen in den Sport flossen, war das im Fußball nicht in dem Maße der Fall. Denn im Ostblock realisierte man recht schnell, dass die Konkurrenz gegen die westlichen Profis mit Staatsamateuren nicht zu bestehen war. Deshalb wurden die Talente eher in andere Sportarten als in den Fußball geschickt. Zu den Leidtragenden gehörte auch der bis dahin so erfolgreiche mitteleuropäische Fußball. Den Wiener Klubs kamen die Gegner in Ungarn, der Tschechoslowakei und Jugoslawien abhanden, und alle Versuche einer Wiederbelebung des einst so populären Mitropa Cups (1927 - 1939) scheiterten.
Auch mittel- und längerfristig sah sich der europäische Fußball durch die wachsende außereuropäische Konkurrenz immer wieder herausgefordert. In der Sportpolitik machte in den späten fünfziger und sechziger Jahren insbesondere die Dekolonisierung Afrikas und Asiens den Europäern zu schaffen. Denn infolge dieser Entwicklung entstand eine Vielzahl neuer Staaten, die alle in die FIFA drängten, um sich auf der Fußballbühne der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen. Die meisten dieser Newcomer waren in Afrika beheimatet. Allein 31 von 43 neuen FIFA-Mitgliedern, die dem Weltfußballverband im Jahrzehnt 1957 - 1967 beitraten, repräsentierten diesen Kontinent.
Doch hinter den wenigsten Mitgliedsverbänden standen "Fußballnationen". In den größeren Städten Asiens und Afrikas hatten zwar bereits die britischen, französischen und belgischen Kolonialherren Klubs und Turniere ins Leben gerufen, so dass die Aktivisten nicht bei null anfangen mussten. Die übergroße Armut, die unzureichende Infrastruktur und die instabilen politischen Verhältnisse bedeuteten jedoch in vielen Fällen unüberwindliche Hindernisse für einen geregelten Spielbetrieb.
Da in der FIFA nach dem Prinzip "one country - one vote" abgestimmt wird, führte die Dekolonisierung zu erneuten politischen Kräfteverschiebungen bei den Generalversammlungen und zu Konflikten; denn die Einnahmen der FIFA stammten überwiegend aus Europa. Schließlich wurde 1974 ein Nichteuropäer, der brasilianische Unternehmer Jo~ao Havelange, zum FIFA-Präsidenten gewählt - mit den Stimmen der Dritten Welt. Er löste den gelernten Schulmeister Sir Stanley Rous aus Großbritannien ab, der für die Probleme dieser Länder kein besonderes Verständnis aufgebracht und manchmal sogar eine Kolonialherren-Attitüde an den Tag gelegt hatte.
Mit Havelange begannen moderne Zeiten in der FIFA. Der neue Präsident verfolgte nicht nur eine konsequente Politik der Kommerzialisierung des World Cup und erschloss der FIFA ganz neue Einkommensquellen aus Sponsoring, Werbung und dem Verkauf von Fernsehrechten. Er sorgte auch dafür, dass ein Großteil der so gewonnenen Millionen in Entwicklungshilfeprogramme für den Fußball in der Dritten Welt floss. Hatte die FIFA außerhalb Europas bis dahin allenfalls Schiedsrichterkurse veranstaltet, so wurden jetzt für bedürftige Mitgliedsländer Trainerakademien sowie sportmedizinische Kurse und administrative Unterstützung organisiert. Auch die mit Hilfe von Sponsoren wie Coca Cola und Adidas durchgeführten Weltmeisterschaften für Jugendmannschaften der unter 21- bzw. unter 17-Jährigen, deren Ausrichtung gezielt an afrikanische, asiatische, karibische und südamerikanische Länder vergeben wurde, waren Teil dieser Fußball-Entwicklungshilfe. Auf den internationalen Fußballbetrieb schlug diese Politik insofern durch, als im Jahr 1982 die Teilnehmerzahl bei der Endrunde des World Cup von 16 auf 24 erhöht worden war, so dass die Afrikaner und Asiaten erstmals feste Kontingente bekamen. Bis dahin hatte jedes Mal ein Play-off zwischen den Siegern der beiden Kontinente darüber entscheiden müssen, wer teilnehmen durfte und von der Umverteilung der World Cup-Einnahmen durch die FIFA profitieren würde.
Von Havelanges Nachfolger, Joseph S. Blatter, wird die Entwicklungshilfepolitik der FIFA seit 1998 in noch größerem Maßstab fortgeführt; denn die Einnahmen aus dem Verkauf von Fernsehrechten wuchsen in neuerer Zeit in die Milliarden. Blatter war als Technischer Direktor und Generalsekretär der FIFA bereits zwanzig Jahre lang mit der Implementierung der Entwicklungshilfeprogramme befasst gewesen, bevor er zum FIFA-Präsidenten gewählt wurde, und stand von Anfang an für eine dezidiert globale Politik. Dadurch machte er sich auch Feinde, insbesondere in der UEFA. Die sich an seiner Person entzündenden Konflikte, die manchen FIFA-Kongress der letzten Jahre geprägt haben, sind daher nach ihrer Struktur Konflikte zwischen europäischen und außereuropäischen Interessen. Die afrikanischen Länder, deren Gunst sich Blatter immer wieder neu versichert hat, spielen hier mittlerweile das Zünglein an der Waage.
Es ist daher keineswegs sicher, dass diese Entwicklungshilfepolitik auf Dauer fortgesetzt wird.
Die Modernisierung des europäischen Fußballs
Auch in den klassischen "Fußballnationen" Europas und Südamerikas wurde das Spiel seit den sechziger und siebziger Jahren gründlich verändert. Insbesondere die Medienpräsenz seit Mitte der achtziger Jahre und die damit einhergehende Kommerzialisierung des Spielbetriebs zeitigten rasch Wirkung.
Die wichtigste Neuerung gegenüber den vorangehenden Jahrzehnten war die Umstrukturierung der Finanzierungsbasis des Spitzenfußballs. Die großen Klubs beziehen heute nur noch den kleineren Teil ihrer Einnahmen aus dem Verkauf von Eintrittskarten und sichern ihre Existenz zunehmend durch den Verkauf von Fernsehrechten sowie durch "Merchandising", d.h. die Vergabe von Logos gegen Lizenzgebühr. Infolge des Eindringens von Marktprinzipien sind Höchstgehälter und Transferregelungen gestrichen worden, der Kartellcharakter der Ligen ist weitgehend verloren gegangen, und auch der Beruf des Fußballspielers hat eine neue Qualität erhalten. Die Profis sind nach wie vor abhängig beschäftigt, doch zumindest die Spitzenstars sind zugleich Unternehmer in eigener Sache. Zusammen mit den Klubs verkaufen sie "Erlebnisse" und werden zu Akteuren des Showbusiness.
Darüber hat sich auch das Publikum des Fußballs verändert. Statt der "local club supporters", wie die sozialwissenschaftliche Sportforschung die traditionellen, üblicherweise dem männlichen Geschlecht angehörenden Fans nennt, dominieren mittlerweile die "soccer interested consumers", und unter diesen ist erstmals ein hoher Frauenanteil zu verzeichnen. Besonders die Medienpräsenz des Fußballs hat die weibliche Hälfte der Bevölkerung für das Spiel eingenommen.
Diese Modernisierungseffekte wurden teils durch den "push" der Ausrichtung von Weltmeisterschaften in den europäischen Ländern flankiert, teils durch den "pull", der von der Auflösung der konfessionellen, klassenspezifischen und ethnischen Subkulturen ausging. In England, das nach der selbst gewählten Isolierung in der Zwischenkriegszeit im Jahr 1946 wieder in den Klub der Großen zurückgekehrt war, kamen die Renovierungsbedürftigkeit der im 19. Jahrhundert entstandenen Stadien und die Gewalttätigkeiten der "Hooligans" als weitere Faktoren hinzu. Ein wichtiges Motiv der Modernisierung nicht nur der englischen, sondern auch anderer europäischer Klubs war der Wunsch, dem Trend zur Dienstleistungsgesellschaft und den dadurch bewirkten Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur Rechnung zu tragen. Die Tendenz zum Fußball-Entertainment reagiert auch auf die speziellen Bedürfnisse dieser vergleichsweise wohlhabenden Klientel.
Die Zukunft des Fußballs
In der Fußballöffentlichkeit wird es verschiedentlich mit Befremden, zum Teil auch mit Besorgnis zur Kenntnis genommen, dass die umfassende Kommerzialisierung dieses Sports heute mit einer außerordentlichen Beliebigkeit und Unverbindlichkeit der Aneignungen und Sinnstiftungen einhergeht. Die Bindungen des neuen Publikums an die Klubs seien locker, es sei einseitig erfolgsorientiert und tendiere dazu, seine Präferenzen für bestimmte Mannschaften "wie die Hemden" zu wechseln. Infolgedessen könne der Fußball nicht mehr auf eine in konkreten sozialen Zusammenhängen verwurzelte soziale Basis rechnen, sondern müsse abstrakt "von der Historie zehren", so z.B. Dirk Schümer, ein scharfsinniger Beobachter der deutschen Bundesliga.
Nach dem in diesem Beitrag vorgenommenen Parforceritt durch die Fußballgeschichte des 20. Jahrhunderts erscheinen solche Befürchtungen unbegründet. Zum einen war der moderne Fußball von vornherein ein Spiel für Individuen, die keinen rechten Anschluss an gewachsene Gemeinschaften fanden; ja man kann sagen, er war ein Nutznießer der Individualisierungstendenzen des 20. Jahrhunderts und kompensierte sie auf unterschiedliche Weisen. Nicht zuletzt deshalb bezog der Fußballsport seine Gemeinschaftsideologien von vornherein aus vorgestellten Gemeinschaften, insbesondere der Nation. Zum anderen hat sich der moderne Fußball im Verlauf seiner mehr als hundertjährigen Geschichte längst zu einem Kulturgut sui generis entwickelt. Eine Verstärkung durch außersportliche Sinnzusammenhänge benötigt er nicht mehr, weil er für seine Anhänger selbst einen Sinnzusammenhang darstellt.
So gesehen, hängt die Zukunft des Fußballs im Wesentlichen davon ab, ob und wie sich der Unterhaltungswert des Spiels weiterentwickeln wird. Viele Faktoren, die hier eine Rolle spielen, so die wirtschaftliche Entwicklung und die allgemeine Sicherheit der Veranstaltungen (Stichwort Terrorismus), können die Verantwortlichen dabei selbst nur in engen Grenzen beeinflussen. Wohl aber können sie die Qualität der sportlichen Konkurrenz und damit den Zuschauergenuss erhöhen. Der skizzierten Entwicklungspolitik der FIFA und der generellen Bereitschaft der Europäer zur Umverteilung der beträchtlichen Einnahmen aus dem Fußballbusiness kommt auch unter diesem Aspekt strategische Bedeutung zu.