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Hindu-Nationalismus Indien auf dem Weg in einen Hindu-Staat?

Pierre Gottschlich

/ 15 Minuten zu lesen

Der Hindu-Nationalismus in Indien hat eine jahrzehntelange politische Tradition. Die amtierende Regierung unter Premierminister Narendra Modi versucht weniger politisch-institutionell als vielmehr gesellschaftlich-kulturell, Indien zu einem Hindu-Staat zu formen.

Der Hindu-Nationalismus in Indien hat eine jahrzehntelange politische Tradition. Lange bevor in Europa und den USA nationalistische und rechtspopulistische Parteien und Politiker ihre gegenwärtige Bedeutung erreichten, stellte die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP, "Indische Volkspartei") die Regierung in Neu-Delhi. Nach ihrer zwischenzeitlichen Abwahl kehrte sie 2014 unter dem umstrittenen Parteiführer Narendra Modi triumphal an die Macht zurück und schickt sich an, die indische Gesellschaft nachhaltig zu verändern.

Die Ursprünge des modernen Hindu-Nationalismus liegen in der Zeit der britischen Kolonialherrschaft über Südasien. Im 19. Jahrhundert begannen die Briten, hinduistische Traditionen und religiöse Praktiken zu kritisieren. Vor allem christliche Puritaner waren entsetzt über die "Götzenanbetung" und Vielgötterei der Hindus. Sie wiesen verstärkt auf die Missstände des Kastenwesens, auf die problematische Rolle der Frau im Hinduismus und auf die verabscheuenswürdigen Traditionen der Kinderheirat und der Witwenverbrennung (Sati) hin. Manche gebildeten, englischsprachigen Hindus zeigten sich durchaus empfänglich für diese Kritik. Sie reagierten aber nicht mit der von den Briten erwarteten Konvertierung zum Christentum, sondern versuchten, innerhalb ihres eigenen Glaubens Verbesserungen zu bewirken. Im Umfeld religiöser Reformatoren entstanden neo-hinduistische, puristische Erweckungsbewegungen, die versuchten, den Hinduismus von innen heraus zu erneuern. Sie übernahmen die christlichen Kritikpunkte, nicht aber das Christentum. Stattdessen leiteten die Reformkräfte eine vorsichtige Modernisierung des Hinduismus ein. Zugleich legten sie großen Wert auf soziales Engagement, errichteten Kranken- und Waisenhäuser und bemühten sich um eine Verbesserung der Stellung der Frau.

Mit den neo-hinduistischen Reformbewegungen in Indien waren auch Bestrebungen verbunden, eine vermeintlich vormals existierende, glorreiche "arische" Zivilisation wieder aufleben zu lassen, die im Laufe der Jahrhunderte verkümmert sei. Radikale Kräfte innerhalb dieser Strömung wandten sich explizit gegen die britische Kolonialherrschaft. Nach ihrer Diagnose war die Fremdherrschaft durch die Briten und zuvor durch die muslimischen Mogulkaiser nur durch die geistig-kulturelle Degenerierung der Hindus überhaupt möglich geworden. Die Hindus hätten "ihren Glauben verloren" und seien "schwach" geworden. Das Gegenmittel und die "Heilung" für diesen geistigen Verfall sahen sie in einer Wiederentdeckung der eigenen religiös-kulturellen Wurzeln eines aus ihrer Sicht homogenen, auf der vedisch-brahmanischen Tradition beruhenden Hinduismus und in einem gemeinsamen Kampf gegen die Feinde Indiens. Politisch organisierten sich die Vertreter dieser Sichtweise in der 1915 gegründeten "gesamtindischen Hindu-Großversammlung" (Akhil Bharatiya Hindu Mahasabha).

Die "Hindu-Nation"

Der Fortgang dieser Bewegung und die Definition einer nationalen Hindu-Identität wurden besonders stark von Vinayak Damodar Savarkar geprägt, dem vielleicht wichtigsten ideologischen Vordenker des modernen Hindu-Nationalismus. Mit seinem 1923 in Haft entstandenem Buch "Hindutva: Who is a Hindu?" schuf er eine Art Grundsatzprogramm des politischen "Hindutums" (Hindutva), das bis heute Gültigkeit beansprucht. Die Grundlagen der "Hindu-Nation" (Hindu Rashtra) sah Savarkar im Zusammenspiel dreier zentraler Forderungen. Die Hindus sollen ein gemeinsames Land bewohnen, das als geografische Einheit des Gebiets zwischen dem Fluss Indus, der Gebirgskette des Himalaya und dem Indischem Ozean verstanden wird. Sie müssen zudem eine gemeinsame Abstammung, also ein einheitliches "Hindu-Blut", teilen und der "Rasse" der "vedischen Arier" angehören. Schließlich ist eine gemeinsame Kultur, eben jenes "Hindutum", von außerordentlicher Bedeutung, die ausdrücklich mehr ist als die geteilte Religion und auch ein einheitliches Sozialsystem und eine gemeinsame Sprache (Sanskrit beziehungsweise heute Hindi) umfasst. Die "Hindu-Nation" ist demnach dreifach definiert und abgegrenzt: geografisch, ethnisch und religiös-kulturell. Dieser an einem europäischen Nationalitätsverständnis orientierte Hindu-Nationalismus unterscheidet sich stark vom Nationalismus der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Insbesondere Mahatma Gandhi weigerte sich, die indische Nation mit einer einzigen Religion oder einer einzigen Sprache gleichzusetzen. Linke Intellektuelle wie Ram Sharan Sharma, die sich ebenfalls als indische Nationalisten verstanden und verstehen, haben der Hindutva-Bewegung folgerichtig die Bezeichnung "Nationalismus" abgesprochen und stattdessen den Begriff "Konservatismus" genutzt.

Mit seinem Werk hatte Savarkar nichtsdestotrotz eine für Hindu-Nationalisten selbstverständliche Wahrheit klar umrissen: "Indien ist das Land der Hindus, die indische Nation ist eine Hindu-Nation, Inder zu sein heißt Hindu zu sein." Die Versuche der Durchsetzung dieser Forderung sind seither immer wieder mit Gewaltausbrüchen verbunden. Bereits 1925 wurde, angeblich auf Anregung Savarkars, die hindu-nationalistische Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, wörtlich etwa "Nationaler Freiwilligen-Bund") gegründet, die in ihrem Wesen bisweilen mit der nur wenig später in Ägypten formierten Muslimbruderschaft verglichen wird. Ziel des RSS ist es bis heute, junge Hindus vor den Versuchungen einer säkularen Gesellschaft zu bewahren, ihnen die traditionellen Werte des "Hindutums" zu vermitteln und sie nicht zuletzt für die gewaltsame Konfrontation mit den Feinden der Hindus wehrhaft zu machen. Der langjährige RSS-Führer Mahadev Sadashivrao Golwalkar hatte noch vor dem Ende der britischen Kolonialherrschaft in seiner Schrift über die indische Nation deutlich gemacht, dass im unabhängigen Indien für Nicht-Hindus nur der Weg der totalen Anpassung und Unterordnung bleibt: "Die Nicht-Hindus müssen die Hindu-Kultur und -Sprache annehmen, die Hindu-Religion achten und verehren lernen, und dürfen keinen anderen Ideen als der Verherrlichung der Hindu-Nation anhängen. (…) Wenn nicht, können sie nur in unserem Land bleiben, wenn sie sich der Hindu-Nation ganz und gar unterordnen – ohne Ansprüche, ohne Privilegien, ja selbst ohne Staatsbürgerrechte."

Diese radikale Vision Golwalkars wurde allerdings nicht das Leitbild des unabhängigen Indiens. Der politische Einfluss der Hindu-Nationalisten blieb zunächst begrenzt. Sie hatten in der Unabhängigkeitsbewegung gegenüber einem übermächtigen Indian National Congress (INC, "Kongresspartei") nur eine nachrangige Rolle gespielt und gravierende organisatorische Nachteile gegenüber der indienweit perfekt eingespielten Kongress-Maschinerie. Nach der Ermordung Gandhis durch das RSS- und Hindu Mahasabha-Mitglied Nathuram Godse 1948 wurde der RSS verboten. Auch wenn das Verbot kurze Zeit später wieder aufgehoben wurde, hatte das Attentat auf den Bapu ("Vater") der indischen Unabhängigkeit die Hindu-Nationalisten in weiten Teilen der Bevölkerung politisch delegitimiert und unwählbar gemacht. Die 1951 gegründete hindu-nationalistische Partei Bharatiya Jana Sangh (BJS, "Indische Volksvereinigung"), eine direkte Vorgängerorganisation der heutigen BJP, blieb weitgehend wirkungslos. Der Schatten der ideologischen Verantwortung für die Ermordung Gandhis konnte erst mit der Gründung der BJP 1980 mehr oder weniger abgelegt werden. Mit der Neuaufstellung wurden nun unter günstigen Rahmenbedingungen größere Erfolge bei demokratischen Wahlen möglich.

Ayodhya und der politische Aufstieg

Die "Politik der Angst" und die Konstruktion eines bedrohlichen "Anderen" haben sich für hindu-nationalistische Parteien wie die BJP als überaus wirksame Instrumente zur politischen Mobilisierung erwiesen und ihren politischen Aufstieg begleitet und ermöglicht. Insbesondere die Angst vor einer "Islamisierung" Indiens und einer damit einhergehenden Marginalisierung der Hindus im eigenen Land wurde und wird gezielt geschürt. Ein wichtiger Kristallisationspunkt des vermeintlich unabwendbaren Hindu-Muslim-Konfliktes ist die Ayodhya-Kontroverse.

Die Stadt Ayodhya in Nordindien wird von Hindu-Nationalisten als Geburtsstätte des Gottes Rama, der siebenten Inkarnation des Vishnu, angesehen. Seine Lebensgeschichte, das Ramayana ("Weg des Rama"), zählt zu den bedeutendsten Epen Indiens und gilt als ein zentrales Element des Hindu-Glaubens. Die folgenschwere Kontroverse bezieht sich auf eine Moschee, die 1528 vom ersten indischen Großmogul Babur in Ayodhya errichtet und als Babri Masjid ("Baburs Moschee") bekannt wurde. Hindu-Nationalisten behaupten, dass die Moschee genau an der Geburtsstelle Ramas gebaut und ein hier zuvor befindlicher, Rama geweihter Hindu-Tempel zerstört wurde. Seit Mitte der 1980er Jahre forderten hindu-nationalistische Organisationen wie der Vishwa Hindu Parishad (VHP, "Welt-Hindu-Rat") immer lautstärker den Abriss der Babri Masjid und die Befreiung Ramas aus seinem "muslimischen Gefängnis". Die (Wieder)Errichtung des Rama Janmabhumi Mandir ("Rama-Geburts-Tempel") in Ayodhya ist nach wie vor ein zentrales Ziel der hindu-nationalistischen Bewegung. Hierbei geht es um weit mehr als nur den Bau eines Tempels. Ayodhya symbolisiert für Hindutva-Anhänger den bevorstehenden Aufbruch in ein neues, segensreiches Zeitalter und damit zugleich die Rückkehr zu einer angeblich vormals vorhandenen zivilisatorischen Größe und Harmonie. Es gilt, Indien vollkommen neu auszurichten und seine Geschichte neu zu interpretieren.

Die Ayodhya-Kampagne erwies sich für die Hindu-Nationalisten als effektive Mobilisierungsstrategie. Die Betonung des Hindu-Muslim-Gegensatzes als unauflöslicher Konflikt in der Geschichte Indiens und das Schüren von Überfremdungsängsten wurden wesentlicher Teil der politischen Rhetorik, beispielsweise in den Reden der radikalen Aktivistin Sadhvi Rithambara. Der immer lautere Ruf nach Taten führte schließlich am 6. Dezember 1992 zur Zerstörung der Babri Masjid, als hunderttausende Anhänger von RSS und VHP die Moschee zum Teil mit bloßen Händen dem Erdboden gleichmachten und damit das Signal für landesweite Unruhen mit zahlreichen Todesopfern gaben. Das umstrittene Gelände wurde abgesperrt und aufgrund ungeklärter Eigentumsfragen bis heute nicht für den Bau des Rama-Tempels freigegeben. Die BJP übernahm die politische Verantwortung für den Abriss der Babri Masjid und feierte die Tat als Symbol für die Überwindung der muslimischen Fremdherrschaft über Indien. Meinungsumfragen zeigten jedoch, dass eine Mehrheit der indischen Bevölkerung die Zerstörung der Moschee nicht billigte. Gleichwohl hatte sich die BJP mit der Ayodhya-Kampagne eine verlässliche Hindu-Wählerbasis geschaffen und sich in Nord- und Zentralindien als ernst zu nehmender politischer Akteur etabliert. Sie gilt als Schlüsselmoment im Ringen um die politische und kulturelle Hegemonie in Indien.

Von Ayodhya nach Gujarat

Im westindischen Bundesstaat Gujarat, einer Hochburg der BJP und Heimat des amtierenden Premierministers Narendra Modi, zeigt sich seit Mitte der 1990er Jahre exemplarisch die Verfestigung der politischen Macht der Hindu-Nationalisten. Die BJP nutzte eine Strategie der gesellschaftlichen Polarisierung und den Ausbruch von Gewalt auf kommunaler Ebene für ihre Zwecke. Im Februar 2002 kam es nahe des Bahnhofs Godhra im Bundesstaat Gujarat zu einem Brand in einem Zug mit Hindu-Pilgern, der sich auf der Rückreise aus Ayodhya befand. Die Brandursache ist bis heute nicht vollständig geklärt, knapp 60 Hindus starben in den Flammen. Für den Brand wurden unabhängig von der unklaren Beweislage Muslime verantwortlich gemacht. In der Folge kam es im ganzen Bundesstaat zu antimuslimischen Gewaltausbrüchen, die in einem der schlimmsten Pogrome seit der Unabhängigkeit Indiens gipfelten. Die Ausschreitungen hielten tagelang an, ohne dass die Sicherheitskräfte eingriffen. Modi, damals gerade als Ministerpräsident von Gujarat ins Amt gekommen, verharmloste die Gewaltwelle als "natürliche Reaktion" auf den Brand in Godhra und sprach vom "gerechtfertigten Volkszorn". Die Untätigkeit der Staatsorgane und das gezielte und koordinierte Vorgehen der gewalttätigen Gruppen deuteten für viele Beobachter auf eine vorherige Planung der Attacken und auf eine staatliche Unterstützung der Angreifer hin.

Die erschreckende Bilanz der Ausschreitungen waren mindestens 2.000 überwiegend muslimische Tote, ungezählte Körperverletzungen und Vergewaltigungen, die Zerstörung von etwa 270 Moscheen und islamischen Heiligtümern, die Plünderung und Brandschatzung tausender muslimischer Geschäfte und die Vertreibung von schätzungsweise 150.000 Menschen. Im folgenden Wahlkampf für die anstehenden Regionalwahlen instrumentalisierte die BJP die Spaltung der Gesellschaft und stilisierte die in Godhra ums Leben gekommenen Hindus als Märtyrer. Modi gelang schließlich im Dezember 2002 ein überwältigender Wahlsieg mit fast 50 Prozent der Wählerstimmen. Manche Politikwissenschaftler sahen nun in den vorangegangenen Gewalttaten sogar eine gezielte Wahlkampfstrategie zur Mobilisierung der niedrigkastigen Hindu-Wähler für die traditionell eher von höheren Kasten dominierte BJP. Die Ausschreitungen brachen demnach überproportional häufig in besonders umkämpften Wahlkreisen aus und führten bei den Wahlen zu substanziellen Stimmengewinnen für die BJP. Aus dieser Perspektive diente das Pogrom von Gujarat vor allem der inneren Festigung der Hindus und der Konsolidierung ihres Wahlverhaltens. Die Bedrohung durch die vermeintlich von Muslimen ausgelöste Gewalt sollte nun auch diejenigen Hindus an die BJP binden, die zuvor aus verschiedenen Gründen nicht für die Partei gestimmt hatten. Die BJP regiert Gujarat bis heute mit absoluter Mehrheit und hat bei den letzten Regionalwahlen im Dezember 2017 erneut fast die Hälfte der Wähler für sich mobilisieren können.

Übernahme der nationalen Macht

Auf nationaler Ebene konnte sich die BJP seit Beginn der 1990er Jahre auf ein stabiles Stimmenpotenzial von 20 bis 23 Prozent stützen. Das genügte dank der Verzerrungen des Mehrheitswahlrechts, um nach der Parlamentswahl 1996 zum ersten Mal die meisten Sitze im indischen Unterhaus (Lok Sabha) zu stellen. Die Schwäche des INC und die Uneinigkeit der übrigen Parteien spülten die BJP kurzzeitig in Neu-Delhi in die Regierungsverantwortung. 1998 übernahm die BJP mit Premierminister Atal Behari Vajpayee an der Spitze einer breiten Koalition erneut die Regierung und gewann nach dem Zerfall des Bündnisses auch die vorgezogene Wahl 1999. Die neue Allianz erwies sich als stabiler und trug die Hindu-Nationalisten über eine komplette Legislaturperiode. Die Heterogenität des Bündnisses zwang die BJP jedoch zu einer pragmatischen und moderaten Politik und verhinderte die Durchsetzung einer nationalen "Hindu-Leitkultur". Die BJP konnte den markigen Ankündigungen von RSS und VHP, die mit anderen hindu-nationalistischen Gruppen in der Sangh Parivar (wörtlich etwa "Organisations-Familie") zusammengeschlossen sind, kaum politische Taten folgen lassen. 2004 endete die Regierungszeit der BJP-Koalition, ohne in Indien einen fundamentalen Wandel im Sinne einer Umsetzung der Hindutva-Leitlinien des Parteiprogramms gebracht zu haben.

Spätestens jetzt wurde deutlich, dass die Hindutva-Karte allein nicht genügen würde, um dauerhaft auf nationaler Ebene ernsthaftes Machtpotenzial entfalten zu können. Neben die Propagierung einer geschlossenen Hindu-Identität und dem Versuch, aus dem säkularen ein hinduistisches Indien zu machen, trat nun verstärkt ein weiteres politisches Standbein: ökonomische Reformen. Erneut war Gujarat das "Labor" der Hindu-Nationalisten. Modi hatte hier als Ministerpräsident mit einer klassisch neoliberalen Wirtschaftspolitik im indischen Vergleich überdurchschnittliche Wachstumsraten erreicht. Dabei musste sich die BJP keineswegs völlig neu erfinden. Unternehmerfreundliche Klientelpolitik gehörte schon immer zum Kern der mehrheitlich im städtischen und höherkastigen Milieu angesiedelten Partei. Auch ideologisch ist ein neoliberaler Marktradikalismus durchaus anschlussfähig an Hindutva-Prinzipien. Nur wurde dieser Teil der BJP-Agenda nun deutlich stärker in den Vordergrund gerückt und betont. Aus Modi, dem früheren RSS-Aktivisten und ideologischen Hardliner, wurde Modi, der Wirtschaftsreformer. Der Mann, der aufgrund seiner Verstrickungen in das Pogrom von Gujarat nach 2002 weder in die USA noch in die EU einreisen durfte, wurde zum Spitzenkandidaten der BJP. Das ihm zugeschriebene entwicklungspolitische "Modell Gujarat" avancierte im Vorfeld der Parlamentswahl 2014 zum Hoffnungsbild vieler von der Kongresspartei enttäuschter Stimmberechtigter.

Die ausgeprägte Wechselstimmung ließ die BJP einen Anti-Establishment-Wahlkampf gegen die von Korruptionsskandalen erschütterte INC-Regierung führen. Hindu-nationalistische Rhetorik spielte lediglich eine untergeordnete Rolle, auch Modi hielt sich hierbei auffällig zurück. Stattdessen wurden seine bescheidene Herkunft aus einer niederen Kaste und sein asketisches, abstinentes und zölibatäres Leben als RSS-Funktionär stärker in den Mittelpunkt gestellt. Zum Image des "Machers" kam damit das Bild des unabhängigen und nicht korrumpierbaren Außenseiters, der nur das Wohlergehen der Nation im Sinn hat und hierbei weder an sich selbst denkt noch einer Familiendynastie verpflichtet ist – für viele Wähler genau der richtige Mann, um die lange verschleppten Reformen in Neu-Delhi anzugehen und dem gesamten Land neuen Schwung zu geben. Die persönliche Popularität dieses "neuen" Narendra Modis trug die BJP zu einem Wahltriumph, der in dieser Form kaum vorherzusehen war. Der BJP glückte, was zuvor nur dem INC in der Hochphase seiner Macht gelang, nämlich eine absolute Mehrheit in der Lok Sabha zu erreichen. Ein solches Szenario war angesichts eines stark ausdifferenzierten, zunehmend fragmentierten und regionalisierten Parteiensystems in Indien von den meisten Experten ausgeschlossen worden. Modi hat eine Machtfülle erreicht, wie sie seit den Zeiten Indira Gandhis kein indischer Politiker mehr innehatte. Der politische Aufstieg des Hindu-Nationalismus hat damit seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Auf dem Weg in einen Hindu-Staat?

An der grundlegenden Zielsetzung des hindu-nationalistischen Projekts mit der Homogenisierung des Hindu-"Volkskörpers" hat sich seit den Tagen Savarkars und Golwalkars wenig geändert; das republikanische Modell indischer Politik wird abgelehnt. Anstelle des säkular-pluralistischen Staatswesens soll ein Hindu-Suprematismus mit korporatistischen Elementen treten. Die föderale Struktur Indiens soll einem starken, homogenen Zentralstaat weichen. Der Universalismus demokratischer Teilhabe soll langfristig durch den Hegemonialismus einer "Hindu-Demokratie", in der nur vollwertige Hindus zugelassen sind, ersetzt werden.

Die Versuche, diese Ziele zu erreichen, vollziehen sich weniger politisch-institutionell als vielmehr gesellschaftlich-kulturell. Es deutet wenig darauf hin, dass die BJP ernsthaft den formalen Versuch unternehmen könnte, die säkulare Verfassung und damit die Grundfesten der indischen Demokratie strukturell zu verändern. Die größere Gefahr für ein freiheitlich-demokratisches Zusammenleben in Indien geht von den hindu-nationalistischen Organisationen aus, die außerhalb des politischen Spektrums agieren. RSS, VHP und andere, zum Teil noch radikalere Gruppen fühlen sich seit Modis Machtantritt ermutigt, aktiv zu werden und das (vermeintliche) Recht auch gewaltsam in die eigene Hand zu nehmen. Hindu-Bürgerwehren aus dem Umfeld der Sangh Parivar gehen beispielsweise im Namen des Schutzes der Kuh rigoros gegen vermeintliche Schlachtviehtransporteure und Rindfleischschmuggler vor. Immer wieder kommt es bei Aktionen dieser unkontrolliert operierenden, selbsternannten Gesetzeshüter zu Lynchmorden. Staatliche Organe reagieren auf solche Gewaltakte bislang nur sehr zögerlich oder bleiben gänzlich untätig, die Regierung hüllt sich in Schweigen.

Ohnehin hat die hindu-nationalistische Administration schon nach kurzer Zeit für eine spürbare Veränderung der politischen Kultur gesorgt, in der sich die Grenzen des Denk- und Sagbaren verschieben. Führende Hindutva-Vertreter liefern sich einen bizarren Überbietungswettstreit um die Frage, wie viele Kinder eine gute und vaterlandsliebende Hindu-Frau zum Wohle der Hindu-Nation zur Welt bringen sollte – vier, sechs oder doch lieber gleich zwölf? Parlamentsabgeordnete und Kabinettsmitglieder mit RSS-Verbindungen greifen religiöse Minderheiten mit "Hassreden" an, bezeichnen Muslime als "Bastarde" und feiern den Gandhi-Attentäter Godse als "Patrioten". Die aggressive Rhetorik schürt Ängste und schafft ein Klima, in dem sich radikale Hindus ermutigt fühlen, offensiver aufzutreten und ihren Forderungen teilweise auch gewaltsam Nachdruck zu verleihen. Kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft werden drangsaliert und eingeschüchtert – zum Teil mit tödlichen Folgen.

Nichtsdestotrotz verweisen optimistische Beobachter darauf, dass das Fundament der Demokratie in Indien gefestigt ist und sich auch die BJP-Regierung freien und fairen Wahlen stellen muss. Die Durchsetzung einer reinen Hindu-Nation ist in Indien auch unter einer 2019 möglicherweise im Amt bestätigten BJP-Regierung eher nicht zu erwarten. Diese Idee wäre nur unter Preisgabe des freiheitlich-demokratischen Charakters des Landes realisierbar und würde auf entsprechend großen Widerstand stoßen. Gleichwohl könnte eine fortgesetzte chauvinistische Hindu-Identitätspolitik von hindu-nationalistischen Regierungen auf nationaler und regionaler Ebene in Verbindung mit den frei und zum Teil gewalttätig agierenden Kräften der Sangh Parivar den ohnehin nur geringen gesellschaftlichen Zusammenhalt in Indien weiter unterminieren. Doch nicht nur religiöse und ethnische Minderheiten, auch viele Hindus teilen die Ziele der Hindutva-Ideologie keineswegs. Sie sind bislang und zukünftig der beste Bestandsgarant für eine offene Gesellschaft in Indien. Es obliegt in erster Linie ihnen, dass Abrutschen Indiens in eine entlang religiöser Zugehörigkeit definierte "ethnische Demokratie" abzuwenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine detaillierte Darstellung der hier aufgezeigten Sachverhalte und insbesondere der aktuellen Entwicklungen in Indien siehe Pierre Gottschlich, Hindu-Nationalismus und geschlossene Identität in Indien, in: Yves Bizeul/Ludmila Lutz-Auras/Jan Rohgalf (Hrsg.), Offene oder geschlossene Kollektividentität. Von der Entstehung einer neuen politischen Konfliktlinie, Wiesbaden 2019 (i.E.), S. 340–365.

  2. Vgl. Heinrich von Stietencron, Der Hinduismus, München 2010³, S. 84ff.

  3. Vgl. Kim Knott, Der Hinduismus. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2009², S. 111f.

  4. Vgl. Vinayak Damodar Savarkar, Extract from Hindutva: Who is a Hindu?, in: Christophe Jaffrelot (Hrsg.), Hindu Nationalism. A Reader, Princeton 2007, S. 87–96.

  5. Es ist ein altes, bislang aber immer gescheitertes politisches Projekt der Hindu-Nationalisten, Hindi im sprachlich extrem vielfältigen Indien zur alleinigen Staatssprache zu machen.

  6. Vgl. Ramachandra Guha, Patriotism vs Jingoism, 5.2.2018, Externer Link: http://www.outlookindia.com/magazine/story/patriotism-vs-jingoism/299735.

  7. Vgl. Hermann Kulke, The Early Textbook Controversy and R.S. Sharma’s Concept of Indian Feudalism. Some Historiographic Reflections, in: Rafael Klöber/Manju Ludwig (Hrsg.), HerStory. Historical Scholarship between South Asia and Europe, Heidelberg 2018, S. 219–239, hier S. 221.

  8. Clemens Jürgenmeyer, Ein Land, ein Volk, eine Kultur – Ideologie und Politik hindunationaler Identität in Indien, in: Peter Molt/Helga Dickow (Hrsg.), Kulturen und Konflikte im Vergleich, Baden-Baden 2007, S. 632–647, hier S. 635

  9. Vgl. Mark Juergensmeyer, Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida, Hamburg 2009, S. 176.

  10. Zit. nach Dominik Müller, Indien. Die größte Demokratie der Welt? Marktmacht – Hindunationalismus – Widerstand, Berlin 2014, S. 81.

  11. Vgl. ebd., S. 88.

  12. Vgl. Dibyesh Anand, Hindu Nationalism in India and the Politics of Fear, New York 2011, S. 151–159.

  13. Vgl. Uwe Skoda, Ayodhya. Ein Symbol des Hindu-Nationalismus, in: ders./Klaus Voll (Hrsg.), Der Hindu-Nationalismus in Indien. Aufstieg – Konsolidierung – Niedergang?, Berlin 2005, S. 83–113.

  14. Vgl. Juergensmeyer (Anm. 9), S. 182f.

  15. Vgl. Skoda (Anm. 13), S. 99.

  16. Vgl. Hermann Kulke/Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute, München 2006³, S. 418.

  17. Vgl. Thomas Stauber, Safranfarbene Schocktherapie. Wie der Hindunationalismus die indische Gesellschaft spaltet, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, S. 99–108, hier S. 101.

  18. Vgl. Prateep K. Lahiri, Decoding Intolerance. Riots and the Emergence of Terrorism in India, New Delhi 2009, S. 232f.

  19. Vgl. Christoph S. Sprung, Macht durch Gewalt und Religion – Das hindu-nationalistische Pogrom in Gujarat 2002, in: Skoda/Voll (Anm. 13), S. 279–297.

  20. Zit. nach Priya Parker, Reconciliation in Gujarat, in: Peace Prints. South Asian Journal of Peacebuilding 1/2008, S. 1–15, hier S. 3. Übersetzung des Autors.

  21. Vgl. Siegfried O. Wolf/René Schultens, Hindu-Nationalismus – (k)ein Ende in Sicht!, in: Der Bürger im Staat 3–4/2009, S. 164–173, hier S. 169.

  22. Vgl. Parker (Anm. 20), S. 2f.

  23. Vgl. Thad Dunning, Fighting and Voting. Violent Conflict and Electoral Politics, in: Journal of Conflict Resolution 3/2011, S. 327–339.

  24. Vgl. Pierre Gottschlich/Jakob Rösel, Indien im neuen Jahrhundert. Demokratischer Wandel, ökonomischer Aufstieg und außenpolitische Chancen, Baden-Baden 2008, S. 24–31.

  25. Vgl. Stauber (Anm. 17), S. 103f.

  26. Vgl. Pierre Gottschlich, Die Parlamentswahlen in Indien 2014, in: Internationales Asienforum 3–4/2014, S. 301–331, hier S. 312.

  27. Vgl. Tobias Wolf, Extremismus im Namen der Religion. Wie der Hindu-Nationalismus die Demokratie in Indien gefährdet, Aachen 2012, S. 160.

  28. Vgl. Gottschlich (Anm. 26), S. 328.

  29. Vgl. Gottschlich/Rösel (Anm. 24), S. 24–28.

  30. Vgl. Wolf (Anm. 27), S. 156.

  31. Vgl. Stauber (Anm. 17), S. 107.

  32. Vgl. Tavleen Singh, Fifth Column. Stop Hindutva Now, 14.12.2014, Externer Link: https://indianexpress.com/article/opinion/columns/fifth-column-stop-hindutva-now.

  33. Vgl. Dominik Müller, Schriftsteller im Zeitalter des Hindunationalismus, 1.9.2017, Externer Link: http://www.deutschlandfunkkultur.de/indien-schriftsteller-im-zeitalter-des-hindunationalismus.976.de.html?dram:article_id=394917.

  34. Vgl. Marcel M. Baumann, Narendra Modis Dilemma. Zwischen Hindu-Nationalismus, Regierungsalltag und politischem Pragmatismus, in: Michael Arndt/Marcel M. Baumann (Hrsg.), Indien verstehen. Thesen, Reflexionen und Annäherungen an Religion, Gesellschaft und Politik, Wiesbaden 2016, S. 55–75, hier S. 72.

  35. Vgl. Christophe Jaffrelot, Toward a Hindu State?, in: Journal of Democracy 3/2017, S. 52–63, hier S. 59ff.

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ist promovierter Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock. E-Mail Link: pierre.gottschlich@uni-rostock.de