Nationalgeschichte ist aus der Mode gekommen. Die Vorstellung, Geschichte spiele sich im Rahmen von Nationalstaaten ab, erscheint seit den 1990er Jahren zunehmend überholt. Die Erfahrungen der "Globalisierung", der zunehmenden grenzüberschreitenden Verflechtung im ökonomischen wie kulturellen Bereich, und der Migration brachten einen anderen Blick auf Geschichte mit sich. Wenn insbesondere die Zeitgeschichtsschreibung die Aufgabe hat, nach der "Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen" zu fragen, dann greift der nationale Fragehorizont zu kurz. So hat sich in der jüngeren Geschichtswissenschaft eine Richtung entwickelt, die sich explizit gegen die Nationalgeschichte wendet.
In diesem Beitrag werde ich nationalgeschichtliche und globalgeschichtliche Ansätze und ihre Hintergründe vorstellen, ihre Gegensätze herausarbeiten und nach Wegen fragen, beide Richtungen miteinander zu verbinden. Denn die derzeit übliche Gegenüberstellung nationaler und globaler Perspektiven, die Vorstellung, beide schlössen sich gegenseitig aus, zielt an der Forschungspraxis des Fachs vorbei. Viele Historiker und Historikerinnen verbinden in ihren Arbeiten selbstverständlich unterschiedliche Ebenen miteinander. Viele Studien und Forschungsprojekte bewegen sich zwischen den Ebenen des Nationalen und des Globalen, indem sie den für ihre Themenstellung am besten passenden Rahmen wählen. Auf der konzeptionellen Ebene des Fachs, dort, wo es um die "Theorie" und um die Frage des methodischen Zuschnitts geht, wird jedoch oft ein Gegensatz zwischen Nationalgeschichte und Globalgeschichte formuliert, den ich nicht für sinnvoll halte.
Natürlich verlangt niemand, dass sich nun alle als Globalhistoriker betätigen und um weltweite Verflechtung und Interaktion kümmern. Dazu fehlen in der Regel schon die nötigen sprachlichen und fachlichen Kompetenzen. Umgekehrt darf es aber auch nicht dabei bleiben, nationale Geschichten wie Bauklötze nebeneinander zu stellen und dabei eigentlich übergreifende historische Entwicklungen Land für Land aus einer binnen-nationalen Perspektive zu betrachten. Einsichten in die gemeinsamen Ursachen vieler Phänomene gingen darüber ebenso verloren wie der Sinn für über- und vornationale Entwicklungslinien. Wie kann der nationale Denkrahmen in der Geschichtsschreibung überwunden werden, ohne dabei die nationale Ebene und ihre Themenfelder aufzugeben? Mein Argument ist, dass es dazu mehr braucht als eine additive Aneinanderreihung der verschiedenen räumlichen Ebenen des historischen Forschens: Es reicht nicht, sich auf der Skala, auf der das Lokale, Regionale, Nationale, Internationale und Globale angesiedelt sind, nach "oben" oder "unten" zu bewegen. National- und Globalgeschichte werden gern als Perspektiven beschrieben, als Varianten des historischen Blicks, die man als Voreinstellung wählt und dann beibehält. Nationalgeschichte erscheint dabei in erster Linie als eine durch territoriale Grenzen definierte Perspektive, während Globalgeschichtsschreibung sich um die Überwindung dieser Grenzen bemüht.
Doch umfasst der nationale Denkrahmen meiner Meinung nach weitaus mehr an Vorannahmen als die territoriale Begrenzung. Eine Überwindung dieses Denkrahmens muss daher auch tiefer gehen und sich mit dem Gesamtpaket dieser Vorannahmen befassen. Eine konsequente Historisierung dieses nationalen Denkrahmens würde es ermöglichen, Themenfelder der nationalen Ebene, wie beispielsweise Staatlichkeit und Rechtsordnungen, nicht mehr nur aus einer binnen-nationalen Perspektive zu untersuchen. Vor allem, und das halte ich für zentral, ließe sich so die Entstehung des Nationalstaats und der nationalen Ordnung präziser analysieren. Denn die Tatsache, dass Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, aber eben auch Geschichte, vom späten 19. Jahrhundert bis um das Jahr 2000, zunächst in Europa und dann weltweit, nur im nationalen Rahmen denkbar waren und teilweise noch sind, ist selbst erklärungsbedürftig. Dies kann jedoch nicht aus einer nationalen Binnensicht untersucht werden. Wir sollten also Konzepte wie "Nationalstaat", "Gesellschaft" und dergleichen nicht als selbstverständliche, vorgegebene Analysekategorien verwenden, sondern sie als "Quellenbegriffe" behandeln: als etwas, das in einer bestimmten Epoche aufkam, zeit- und ortsgebunden und von den jeweiligen Wertvorstellungen einer Zeit und einer Kultur geprägt ist. Dies wäre der Weg zu einer "Denationalisierung" der historischen Perspektive, zu einer Geschichtsschreibung, die sich nicht auf andere, nicht-national konnotierte Räume und Themenfelder verlegt, sondern die alle Themen, auch die nationalen, aus einer analytisch distanzierten Außenperspektive behandelt.
Nationalgeschichte
Nationalgeschichte war seit dem späten 19. Jahrhundert die dominante Form der Geschichtsschreibung, nicht nur in Europa. Dies hatte mit der Bedeutung der Geschichtsschreibung für die Entstehung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert zu tun. Diese Form der Staatlichkeit wurde definiert als die Verbindung von Staatsvolk, Staatsgebiet und legitimer Staatsgewalt. Sie war Teil einer nationalen Konstellation des 19. Jahrhunderts, in der ein klar umgrenztes Territorium, staatliche Institutionen, Regeln und Praktiken und eine in diesem Territorium ansässige Bevölkerung eng miteinander verbunden waren. Die Zugehörigkeit zum Nationalstaat – und damit der Zugang zu politischen und sozialen Rechten – wurde anhand von unterschiedlichen und auch veränderlichen Kriterien definiert. Dazu gehörten Anwesenheit im Land und Zustimmung zur politischen Ordnung, Sprache, Geschichte und Kultur, aber auch ethnische Abstammung oder sogar Zugehörigkeit zu einer imaginierten "Rasse".
Tradition und gemeinsame Geschichte spielten hierbei lange Zeit eine wichtige Rolle: Den Nationalbewegungen im Europa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es darum, der Fürstenherrschaft eine neue Form der Herrschaftslegitimation entgegenzustellen: die Volkssouveränität. Die Nation sollte als politische Gemeinschaft ihre Interessen selbst steuern. Dazu musste jedoch festgelegt werden, wer zur Nation gehören sollte und wer nicht. Ein zentrales Kriterium dabei war die "gemeinsame Geschichte". Aufgabe der Geschichtswissenschaft war es, diese nationale Geschichte zu schreiben und damit gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalt zu stiften. Bei der Etablierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert wurden so die "Selbstkonstituierung als wissenschaftliche Disziplin" und die "Mitarbeit an der Konstituierung der Nation als imaginierter Gemeinschaft" miteinander verknüpft, "die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft [war] Teil der inneren Nationsbildung". Dies war allerdings nicht in allen europäischen Ländern in derselben Weise der Fall, auch waren nicht alle Historiker im selben Maß beteiligt. Zudem konnte die Nationalgeschichte durchaus mit einem liberalen, freiheitlichen Impetus verbunden sein. Sie konnte aber eben auch, wie im deutschen Fall die "borussische" Schule, die die deutsche Reichsgründung 1871 zum Fokus ihrer Erzählung machte, sehr obrigkeitsnah und staatstragend sein. Vor allem in Deutschland fand sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine starke Konzentration auf staatliches Handeln in der Geschichtsschreibung, die den Weg zur nationalen Einigung als staatliche Aufgabe in den Mittelpunkt stellte, die Großmachtpolitik des Kaiserreichs unterstützte und dazu eine Linie zog "von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt". Geschichtswissenschaft zeichnete so den Weg zur Nationsbildung nach und konstruierte diese Nation dabei zugleich selbst. Dabei war die Abgrenzung der "eigenen" von der "fremden" Geschichte ein wesentlicher Aspekt. Die Nation und der Nationalstaat standen nicht nur in den neugegründeten Nationalstaaten im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung.
Auch im 20. Jahrhundert blieb es, mit einigen Ausnahmen, bei der nationalen Orientierung des Fachs "Neuere und Neueste Geschichte". Dies gilt besonders für die Bundesrepublik Deutschland, wo noch in den 1970er und 1980er Jahren bittere Kontroversen darüber ausgetragen wurden, ob Politik- oder Sozialgeschichte – Regierungshandeln oder gesellschaftliche Konflikte – die "eigentliche" Geschichte ausmachten. Beide Seiten waren dabei jedoch durch ihre nationale Perspektive geeint: Der Nationalstaat und die nationale Gesellschaft waren ihr Gegenstand und ihr Erkenntnishorizont. Dabei wurden die Nationalstaaten durchaus im Rahmen einer internationalen Ordnung gesehen. Die Beschäftigung mit Außenpolitik und internationalem Staatensystem, überhaupt die Beziehungen zu und Abgrenzung von anderen Nationen und die Auseinandersetzungen und Bündnisse mit anderen Nationalstaaten, gehörten zur Nationalgeschichtsschreibung dazu.
Globalgeschichte
Dagegen regte sich seit etwa 1990 allmählich wachsender Widerstand im Fach. Nationalgeschichte wurde hinterfragt. Der Historiker Jürgen Osterhammel schrieb 2001: "Nationalgeschichte ist nicht der historiographische Normalfall." Hier lässt sich eine "historiographische Revolution" erkennen, wie es der Historiker Akira Iriye nennt, eine breite Hinwendung zu transnationalen und globalen Perspektiven. Seinen Ausgangspunkt hatte dieser Richtungswechsel zunächst in der englischsprachigen Welt, vor allem in der US-amerikanischen und britischen Geschichtswissenschaft und unter Historikern und Historikerinnen aus den ehemaligen Kolonien. Seit Mitte der 2000er Jahre wurde diese Entwicklung auch in Deutschland rezipiert. Hintergrund dieser innerfachlichen Entwicklung waren die Erfahrungen zunehmender globaler Verflechtung sowohl im Bereich von Wirtschaft und Finanzen als auch in den Bereichen Mobilität, Kommunikation und Kultur seit den 1980er Jahren. Anfangs, in den 1990er Jahren, war es noch die sogenannte transnationale Geschichte gewesen, die die nationale Begrenzung des historischen Blicks aufweichen sollte. Hier ging es zuerst um die Beziehungen zwischen unterschiedlichen nationalen Gesellschaften, also um Beziehungen und Transfer jenseits des Regierungshandelns, häufig mit einer kulturgeschichtlichen Fragestellung verbunden. Bald wurde der Begriff "transnational" jedoch ausgeweitet und auf Themenfelder angewandt, die gar nicht mehr in den nationalen Rahmen passten, die nationale Ebene ignorierten, anstatt über die nationalen Grenzen hinweg zu arbeiten. Von da aus war es nicht mehr weit zum Konzept der "Globalgeschichte".
Globalgeschichte meint dabei nicht Welt- oder Universalgeschichte, nicht die geografische Ausdehnung des Gegenstands, meint also nicht "überall" oder "weit weg", sondern eine andere Perspektive. Gemeint sind "Ansätze, die sich für Verflechtung und eine relationale Geschichte der Moderne interessieren, nicht-eurozentrisch argumentieren und nationalgeschichtliche Grenzen überwinden wollen". Es gibt keine verbindliche Definition von Globalgeschichte. Ihre Vertreter stellen jedoch allesamt Prozesse der Verflechtung, des Transfers und der Entgrenzung in den Mittelpunkt.Diese Fachrichtung hat große Aufmerksamkeit, viele überzeugte Anhänger und auch einige entschiedene Gegner gefunden. Ihr zeitlicher Schwerpunkt liegt "deutlich auf der Zeit vor 1900", ihr thematischer insbesondere im Feld der Imperial- und Kolonialgeschichte, der europäischen Expansion, der "Zivilisierungsmission", dem Machtgefälle und den Interdependenzen zwischen Metropolen und Peripherie, zwischen Europa und der "außereuropäischen Welt". Hier haben sich die Perspektiven der Kulturgeschichte, des Postkolonialismus und der Verflechtungsgeschichten fruchtbar niedergeschlagen und zu einem anderen Blick auf bisherige Selbstverständlichkeiten, zu neuen, und wenn man es so nennen mag, postnationalen Paradigmen geführt. So geht es der Globalgeschichte auch darum, die sozialwissenschaftlichen und historiografischen Begrifflichkeiten zu reflektieren, die einen oft sehr von europäischen Verhältnissen geprägten Blick auf die Welt vorgeben. Sie wendet sich gegen die Vorstellung, die europäischen Nationalstaaten seien der "Motor der Weltgeschichte" gewesen, während die Kulturen sämtlicher anderer Kontinente unter die Rubrik "außereuropäische Geschichte" fielen und damit über ihre Differenz zu Europa definiert wurden. Stattdessen wird Europa als eine Weltgegend unter anderen betrachtet, die miteinander in engem Austausch standen und sich gegenseitig beeinflusst haben.
Zwei grundsätzliche Ziele prägen also diese Fachrichtung: die Überwindung der nationalen Begrenztheit der Perspektive und die Überwindung des Eurozentrismus in der Geschichtswissenschaft. Antrieb war dabei vor allem die "Unzufriedenheit mit der (…) Tendenz, nationale Geschichten als Geschichte in sich abgeschlossener Räume zu konzipieren". Insofern lässt sich behaupten, dass das Nationale ein zentraler Begriff der Globalgeschichtsschreibung ist, wenn auch sozusagen ex negativo: Die Abgrenzung von der Nationalgeschichte, von ihren Gegenständen, Ansätzen und Methoden, ist wesentlich für die Definition und das Selbstverständnis der Globalgeschichte.
Damit öffnet diese Fachrichtung eigentlich ein weites Feld für eine grenzüberschreitende und verflochtene Neukonzeptionierung nationaler Geschichte. Allerdings hat das Ziel der Überwindung nationaler Begrenztheit bei der Wahl der Gegenstände häufig dazu geführt, dass Themenfelder wie Nation und Nationalismus, Staat, Recht und Verwaltung eben nicht aus einer globalhistorischen Perspektive analysiert, sondern eher gemieden wurden. In der Regel werden Themenfelder bevorzugt, in denen das Transnationale sowie globale Verflechtungen leichter greifbar werden, wie das Feld der Imperialgeschichte, die Geschichte der Ozeane, der Sklaverei oder der Migration. Auch bieten sich kulturgeschichtliche Themenfelder eher an als "harte" Themen, die zudem in den vorangegangenen Jahrzehnten eher als Domäne einer methodisch traditionell ausgerichteten Geschichtswissenschaft gegolten hatten, insbesondere in Bezug auf den Staat oder staatliche Institutionen und Akteure.
So wird meiner Meinung nach die Abgrenzung der Globalgeschichte von der Nationalgeschichte bislang noch zu stark von der räumlichen Differenzierung zwischen der nationalen und der globalen Ebene, also von der Skalierung her gedacht. "Nur" die nationalen Grenzen überwinden zu wollen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Die "globalhistorische Neuausrichtung" sollte sich stattdessen kritisch mit dem Gesamtpaket des nationalen Denkrahmens auseinandersetzen, der über die räumliche Begrenzung weit hinausreicht. Vielmehr sind hier Fragen des Geschichtsverständnisses, der Zugehörigkeit und Teilhabe, der Konzepte von Zeitlichkeit und der Rolle des Staates eingeschlossen. Und gerade hier hat die Globalgeschichte wichtige perspektivische Angebote zu machen, die sich aber noch stärker präzisieren ließen. Das setzt jedoch eine Historisierung des nationalen (wie auch des globalen) Denkrahmens voraus und die Bereitschaft, sich auch – aber anders – mit denjenigen Gegenständen zu befassen, die bisher in der Regel der Nationalgeschichte überlassen wurden.
Wege zu einer "Denationalisierung" des historischen Blicks
Der Weg zu einer neuen, um die Perspektiven der transnationalen beziehungsweise globalgeschichtlich erweiterten Geschichte der nationalen Ebene setzt zunächst also eine Auseinandersetzung mit der Frage voraus, was im nationalen Denkrahmen – über die territoriale Begrenztheit hinaus – eigentlich alles enthalten ist und die Fragestellungen der Geschichtswissenschaft prägt. Was meine ich mit "nationalem Denkrahmen", um welche Begriffe und Grundannahmen geht es, und worin bestünden hier die perspektivischen Angebote der Globalgeschichte?
Zu den problematischen Grundkonzepten des nationalen Denkrahmens gehört zunächst die Vergegenständlichung des Nationalen, die Vorstellung, die Nation existiere als vorgegebenes Faktum, als eindeutig bestimmbare Einheit. Anstatt als Gegenstände müssten Nation und Nationalstaat jedoch als "Quellenbegriffe" gefasst werden, als eine Selbstbeschreibung der jeweiligen Zeitgenossen, die historisch geworden und wandelbar ist. Sie sind Teil einer nationalen "gedachten Ordnung", die Konzepte wie Staat, Gesellschaft und Bevölkerung sowie Raum und Territorium, Zeitkonzepte und Vorstellungen von Geschichtlichkeit verbindet. Diese Ordnung war enorm wirkmächtig und effektiv; so erfolgreich, dass sie seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt wurde. Dennoch ist "Nation" ein ambivalenter Begriff. Er bezeichnet einerseits einen politischen Verbund, also eine Gruppe, die sich im Willen zur politischen Selbststeuerung zusammenschließt. Die Nation besteht hier aus denen, die über politische Teilhaberechte verfügen. Der Begriff meint aber zugleich auch die Selbstbeschreibung dieser Gruppe als Personen, die von vorneherein durch spezifische Merkmale, durch Ähnlichkeit verbunden sind. Diese Lesarten des Nationsbegriffs sind nicht deckungsgleich. Dies hat zu wiederholten – und stets vergeblichen – Versuchen geführt, Klarheit darüber herzustellen, wer denn nun zur Nation gehöre und wer nicht, wer also über politische und soziale Teilhabereche verfügen solle. Für die Geschichtswissenschaft heißt dies aber, dass die Vorstellung, es gebe klar voneinander abgrenzbare Nationen, deren Geschichte jeweils zu schreiben ist, nicht unreflektiert übernommen werden darf, sondern als Quellenperspektive behandelt werden muss.
Zu bedenken ist zudem, dass die Nationalisierung von Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert selbst eine Reaktion auf die wachsende globale Verflechtung war, eine Antwort auf Massenmigration, auf steigende Mobilität, auf Industrialisierung und Welthandel. Und hier wird deutlich, dass das Nationale und das Globale eben nicht als verschiedene Gegenstände oder separate Bereiche zu verstehen sind. Die Entstehung des Nationalstaats war vielmehr selbst mit Prozessen der Entgrenzung verbunden, wie es der Historiker Dieter Langewiesche beschreibt: "Die Lebenswelten der Menschen wurden weiträumiger, ihre Erfahrungen griffen über die lokalen und regionalen Lebensräume hinaus, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen dehnten sich aus." Dazu gehörte neben der zunehmenden Integration der Weltwirtschaft vor allem die Massenmigration, die zur Erfahrung von inhomogenen Gesellschaften, zu Bedrohungsgefühlen durch Seuchen und Armut und nicht zuletzt auch zu Verunsicherung durch Kulturbegegnungen führte. Aber auch die Erfahrungen des europäischen Kolonialismus und dessen Rückwirkungen auf Europa lassen sich dazu zählen. Der technische Wandel im Bereich der Mobilität, die durch Eisenbahn und Dampfschiff revolutioniert wurde, und der Kommunikation, die durch die Telegrafie nun weltweit "in Echtzeit" möglich wurde, ließ räumliche Distanzen schrumpfen. Die ökonomische und soziale "Dynamik" der Hochindustrialisierung und der Urbanisierung um die Jahrhundertwende trugen ebenfalls zu diesem Eindruck tief greifenden Wandels bei. Nationalismus ließe sich so gesehen als Umgang mit den Erfahrungen von Differenz und Fremdheit werten; die scharfe Abgrenzung der nationalen Territorien und die Zuordnung der Bevölkerung zu diesen Territorien durch Staatsangehörigkeit, Pass, Einwohnermeldeamt und Katasterkarte als Versuche, Mobilität zu kontrollieren und "klare Verhältnisse" zu schaffen, gesellschaftliche Homogenität herzustellen und territoriale Grenzen festzulegen. Die Entstehung des nationalen Paradigmas selbst ist also in enger Verbindung mit zunehmender globaler Verflechtung zu sehen. Ob Historiker daher ein spezifisches Phänomen als Teil eines Nationalisierungsprozesses oder als Ausweis globaler Verflechtung betrachten, hängt nicht vom Gegenstand, sondern von der Frage ab, die sie an sie richten – beides ist schlicht eine Interpretation, die je nach Kontext und Erkenntnisinteresse variieren kann.
Daraus ergeben sich jedoch auch Nachfragen an das Geschichtsverständnis, das mit der Nationalgeschichte verbunden ist. Die Vorstellungen von Nation und Geschichte waren in Europa seit dem 19. Jahrhundert eng aufeinander bezogen. Die Annahme, dass "die Nation" eine gemeinsame "Geschichte hat", ist allerdings mit einiger Vorsicht zu behandeln. Denn im Grunde steht dahinter die Vorstellung, dass eben nur, wer zu einer Nation gehört, auch Geschichte hat. "Geschichte" wird dabei im Singular verwendet. Der heutige historische Blick, der zunehmend gewohnt ist, nach den Perspektiven von Minderheiten oder von Frauen, nach kulturübergreifenden und überregionalen Biografien und Realitäten zu fragen, sieht hier durchaus auch "Geschichten" in "der Geschichte". Damit meine ich nicht nur die abweichenden Bewertungen von Entwicklungen, sondern durchaus auch alternative Pfade, die in der "Meistererzählung" der jeweiligen Nationalgeschichte nicht vorkommen oder aber als Devianz, also als Abweichung oder Widerständigkeit, und nicht zuletzt als unzeitgemäß gedeutet werden.
Die Vorstellung einer nationalen Geschichte enthält auch spezifische Zeitkonzepte. Dazu gehört die Vorstellung, dass Geschichte gerichtet ist, einem Zeitpfeil folgt. Zeitliche Entwicklung ist geschichtliche Entwicklung, und diese ist einheitlich. Eine Grundannahme der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert war, dass "Geschichte" der Weg des Fortschritts der Nation ist. Staatliches Handeln schafft diesen Fortschritt. Geschichte ist zudem schriftlich überliefert, vor allem in Form staatlicher Akten. Nur wer eine solche Form der schriftlichen Überlieferung hat, wer also in einem Nationalstaat lebt, der Akten produziert, hat, streng genommen, Geschichte. Diese Grundannahmen über Nation, Geschichte und Zeit haben sich im Lauf des 20. Jahrhunderts von der zentralen Rolle des Staats gelöst; die Annahme eines geschichtlichen Fortschritts – seit den 1950er Jahren dann unter der Rubrik "Modernisierung", deren Objekt nationale Gesellschaften und deren Instrument nationalstaatliche Akteure waren – hat sich jedoch lange gehalten. In diesen Denkhorizont gehörte auch die von den postcolonial studies und der Globalgeschichtsschreibung zu recht massiv kritisierte und mittlerweile auch kaum mehr vertretene Annahme, die Völker in den Kolonien hätten keine Geschichte, da sie bis zur Dekolonisierung keine Nationen waren. Sie hatten so gesehen auch keinen "Fortschritt", sondern wurden allenfalls "entwickelt". Die europäischen National- und vor allem die Imperialstaaten galten aus dieser Sicht als treibende Kraft der Weltgeschichte. Dies ist genau der "Eurozentrismus", gegen den sich die Globalgeschichte wendet.
Ein ähnlich historisierender und analytischer Zugriff, wie er für die "Überwindung des Eurozentrismus" zum Tragen kommt, ließe sich also durchaus auch auf den nationalen Denkrahmen und damit auf die Begriffe und Konzepte der Nationalgeschichte anwenden. Dazu müsste vor allem die Uneindeutigkeit des Nationsbegriffs und seine Rolle für das Geschichtsverständnis stärker reflektiert werden. Dies würde den Blick öffnen für Themenfelder der nationalen Ebene, in denen verschiedene Entwicklungswege und -geschwindigkeiten ihren Platz haben und in denen unterschiedliche Kulturen auch im nationalen Rahmen miteinander verflochten sind und aufeinander einwirken. Vor allem aber sollten Themenfelder, die bislang im nationalen Kontext verortet und behandelt wurden, in einen transnationalen, überregionalen oder globalen Fragehorizont eingebunden werden. Dazu gehört eben nicht nur die räumliche Ausweitung der Perspektive, sondern auch eine Historisierung der nationalen Analysekategorien. Was "eigene" und "fremde" Geschichte ist, sollte nicht mehr selbstverständlich sein. In letzter Zeit finden sich mehr und mehr solcher "postnationaler" Zugriffe und Fragehorizonte. So wird zum Beispiel nach der Rolle nationaler Regierungen in der Geschichte der Globalisierung gefragt; oder eine spezifische nationale Identität als Produkt imperialer Expansion eines Landes gefasst. Auch die globale Ausbreitung des Nationalismus ist ein Phänomen, dessen Erklärung beide Ebenen verbinden muss. Sogar die Geschichte der Demokratie und des Parlamentarismus, die ursprünglich eng mit der Geschichte des Nationalstaats verbunden waren, werden mittlerweile aus einer "übernationalen" Perspektive untersucht.
Fazit
Ein Überwinden des nationalen Rahmens in der Geschichtsschreibung meint deutlich mehr als die Frage der "Flughöhe", des räumlichen Zuschnitts der Untersuchung. Es reicht weder, viele nationale Geschichten aneinander zu reihen, noch genügt es, die nationale Ebene durch einen interkontinentalen oder ozeanischen Blick, also durch räumliches "Höherzoomen" zu ersetzen. Stattdessen muss das nationale Narrativ, das im jeweiligen Thema stecken mag, herausgearbeitet und selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Eine De-Nationalisierung des historischen Blicks verlangt im Grunde ein analoges Vorgehen zur Anwendung nicht-eurozentrischer und postkolonialer Perspektiven durch die Globalgeschichte: Auch hier ginge es um die Anerkennung der sozialen Konstruktion und Historizität zentraler Analysekategorien der nationalen Geschichtsschreibung. Es ginge auch um die Pluralität der Geschichten und um die Frage, wer Geschichte hat. So könnte der nationale Denkrahmen in der Geschichtsschreibung überwunden werden, ohne dabei die nationale Ebene und ihre Themenfelder aufzugeben.