Was ist "asiatisch"
"Asien" ist ein europäischer Begriffsentwurf. Er stammt aus der griechisch-römischen Antike.
Auch Gottfried Wilhelm Leibniz teilte diese Sichtweise, wenn er am Ende des 17. Jahrhunderts China als "Europa des Ostens" bezeichnete, von dessen hoher Kultur und Philosophie er durch die Jesuiten aus dem Reich am anderen Ende des eurasischen Kontinents erfuhr.
Seitdem verkörperte Asien für Europäer das, was Europa bereits hinter sich gelassen hatte. Die Bewertung der "Ursprünglichkeit" Asiens, sei es als etwas Überwundenes oder als etwas Verlorenes, steht im engen Zusammenhang mit den jeweiligen geistigen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Deshalb schrieb Edward Said, Asien bzw. der Orient seien für Europäer ein "Arsenal von Wünschen, Repressionen, Investitionen und Projektionen"
"Asien" als solches existiert aber tatsächlich nirgendwo; zumindest nicht in Form einer übergreifenden Kultur, eines Zusammengehörigkeitsgefühls. In Ostasien kannte man nicht einmal den Begriff "Asien", bis Jesuitenmissionar Matteo Ricci mit seiner Weltkarte, die im 17. Jahrhundert in ganz Ostasien Verbreitung fand, den Begriff "Asien" in der Region einführte, allerdings ohne die ideologische Konnotation dieses Begriffes zu benennen. Die chinesischen Schriftzeichen, die Ricci zur Kennzeichnung "Asiens" in dieser Karte als erster benutzte, werden bis heute in ganz Ostasien verwendet, ebenso wie die Schriftzeichen für Europa.
Das Wesen der Debatte über "asiatische Werte"
In den neunziger Jahren haben so genannte "asiatische Werte" den Wertehimmel internationaler Debatte bewölkt.
Die Debatte über "asiatische Werte" stellte - genau genommen - nur auf sehr vermittelte Weise eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen kulturellen und politischen Traditionen dar. Eine der charakteristischen Dimensionen dieser Auseinandersetzung war der ökonomische und politische Interessenkonflikt zwischen den alten Industriestaaten Europas und Nordamerikas und den Wachstumsökonomien des pazifischen Raums. Eine andere ist die nach innen gewandte Absicht der Befürworter dieser "asiatischen Werte", den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Status quo abzusichern. Deshalb wurde die Diskussion kaum auf einer philosophischen oder staatstheoretischen Ebene geführt. Sie verblieb vielmehr auf einer praktisch-politischen Ebene, auf der die Instrumentalisierung "asiatischer Werte" im Vordergrund stand und z. T. noch immer steht.
Seit Anfang der neunziger Jahre haben sich der frühere Premierminister Singapurs, Lee Kuan Yew, und der Premierminister Malaysias, Mahathir bin Mohamad, offensiv in politische Diskurse eingebracht, in denen seit der "Zeitenwende" 1989 und dem Niedergang des Realsozialismus nach einer "Neuen Weltordnung" gesucht wird. Sie propagierten dabei ihre autoritäre Politik als "den asiatischen Weg". Ihre Länder seien durch "asiatische Werte" zur viel gerühmten Kombination von wirtschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlicher Disziplin geführt worden. "Asiatische Werte" seien also für die Stärke und den Erfolg Ostasiens verantwortlich.
Um ihre Argumente zu untermauern, griffen sie in den neunziger Jahren auf die These vom "konfuzianischen Kapitalismus" der Modernisierungstheorie zurück. Die Vertreter der konfuzianischen Kapitalismusthese haben im Hinblick auf den Erfolg Japans und der vier Tigerstaaten (Hongkong, Singapur, Südkorea, Taiwan) seit den sechziger Jahren immer wieder behauptet, die konfuzianische Tradition sei das Geheimnis der wirtschaftlichen Erfolge dieser Länder. Dabei betonten sie Loyalität, Sparsamkeit, Fleiß, Bildung, Friedfertigkeit und Harmonie als wesentliche ethische Merkmale dieser Tradition. Hatte Robert N. Bellah 1968 erklärt, diese konfuzianische Ethik sei das funktionale Äquivalent der puritanischen Wirtschaftsethik,
Ein solches Erklärungsmuster auf Malaysia oder Indonesien anzuwenden setzt Beliebigkeit voraus, da diese Länder ganz sicher nicht konfuzianisch geprägt sind. Für Lee Kuan Yew war dies kein Problem: Man müsse der Bevölkerung die Werte einimpfen, die dem Fortschritt zuträglich sind. Es sei letztlich gleichgültig, "wie sie eingeimpft (!) werden, ob durch Konfuzianismus oder eine andere Art der Vorprogrammierung"
Dabei übersehen Lee Kuan Yew und seine Anhänger die tief greifende Problematik der von ihnen rezipierten Theorie. Denn die Modernisierungstheoretiker müssen sich, abgesehen von der Fragwürdigkeit ihrer Interpretation des Konfuzianismus, den Vorwurf theoretischer Willkür gefallen lassen, da sie eine Reihe wichtiger Veränderungen im sozialpolitischen Geschehen im Ostasien der vergangenen 30, 40 Jahre einfach ignorieren - das Entstehen einer Mittelklasse, die Arbeiter- und die Demokratisierungsbewegungen usw. Allerdings stehen sie damit in der langen Tradition des westlichen Asiendiskurses, welche die konfuzianische Kultur für die politische und sozialwirtschaftliche Entwicklung verantwortlich macht. Diese, sagen wir, kulturalistische Sichtweise, wurde nämlich nicht erst von Max Weber eingeführt: Schon viel früher - bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - ist sie in Europa zu finden.
Essentialismus im westlichen Asiendiskurs
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also wenige Jahre nachdem die Gelehrten der frühen Aufklärung wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff in China einen "konfuzianischen Idealstaat" gesehen hatten, begann man diese konfuzianische Gesellschaft mit abschätzigem Blick zu betrachten. Basierend auf einem ausgeprägten Bewusstsein von der eigenen technischen und naturwissenschaftlichen Überlegenheit, wurden nicht nur von Kulturtheoretikern wie Johann Gottfried Herder, sondern auch von Historikern wie z.B. August L. Schlözer Zivilisationsstufenlehren entworfen, in denen die technische und wissenschaftliche Überlegenheit unmittelbar mit der kulturellen Überlegenheit Europas in Verbindung gebracht wurde. Die chinesisch-konfuzianische Zivilisation wurde dabei unterhalb der europäischen und nur wenig oberhalb der überwiegend barbarischen Kulturen der restlichen Welt eingestuft.
Den Grund für diese zivilisatorische Rückständigkeit erklärte Herder mit dem Konfuzianismus. Dieser halte wie ein "mechanisches Triebwerk" die menschliche Vernunft in "kindlicher Gefangenheit"; das Reich lasse sich deshalb wie "ein Haus tugendhafter, wohlerzogener, fleißiger, sittsamer, glücklicher Kinder und Brüder" verwalten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte Max Weber den Konfuzianismus für das Ausbleiben der kapitalistischen Entwicklung in China explizit verantwortlich. Nach Weber war der Konfuzianismus eine bloße Ethik der Anpassung, die "die Menschen höchst absichtsvoll in ihren naturgewachsenen oder durch die sozialen Über- und Unterordnungsverhältnisse gegebenen persönlichen Beziehungen" belassen habe.
In Anbetracht der wirtschaftlichen Erfolge Japans und der anderen ostasiatischen Länder seit den sechziger Jahren brachte man dann, in Umkehrung der Weberschen These, unter dem Namen des "konfuzianischen Kapitalismus" die konfuzianische Ethik mit diesen Erfolgen in unmittelbare Verbindung. So schlägt auch die Theoriegeschichte Purzelbäume - und sie schlug, nach dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrisen in Ostasien 1997, gleich noch einen: Auch für diese musste die konfuzianische, asiatische Kultur als Ursache herhalten - diesmal unter den Begriffen des Nepotismus, Fraktionalismus und Familismus. So wurde die konfuzianische Kultur erneut für "Unbeweglichkeit und Unwandelbarkeit" - wenn auch diesmal nicht in der Geschichte à la Hegel, sondern in der Wirtschaftspolitik - verantwortlich gemacht.
Eine Analyse dieser historischen Abfolge seit dem 18. Jahrhundert zeigt deutlich, wie sehr diese sich wandelnden Wahrnehmungen und Projektionen von den eigenen sozialpolitischen und geistigen Bedingungen im Westen abhängig waren und wie leicht der Konfuzianismus in diesem Kontext politisch instrumentalisiert werden konnte.
Instrumentalisierung der "asiatischen Werte"
Seit den siebziger Jahren leiden Westeuropa und Nordamerika unter geringen Wachstumsraten, steigender Arbeitslosigkeit und immer größer werdenden staatlichen Schuldenbergen. Vermehrt wurde der Wohlfahrtsstaat als die Wurzel dieser Leiden angesehen. Selbstzweifel und Selbstkritik nahmen zu, der Neo-Konservatismus versprach einen Ausweg und bereitete das ideologische Terrain für neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik à la Ronald Reagan und Margaret Thatcher vor.
Dabei wurde die tatsächliche Entwicklung in den Gesellschaften Ostasiens einfach ignoriert, obwohl dort ganz offensichtlich traditionelle gesellschaftliche Ordnungen u.a. durch schon in den sechziger Jahren einsetzende Individualisierungsprozesse aufgeweicht worden sind. So rückt die Selbständigkeit des Individuums auch dort in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns. Die autoritär-konservativen Politiker Ostasiens reagierten auf diese fortschreitenden Individualisierungsprozesse, indem sie versuchten, diese rückgängig zu machen - eben durch das Beharren auf "konfuzianischer Tradition" bzw. auf "asiatischen Werten".
So warfen sich die autoritär-konservativen Politiker Asiens und die Neokonservativen des Westens, insbesondere in den USA, gegenseitig mit "asiatischen Werten" bestückte Bälle zu: Im Westen wurde die "asiatische" Genüg- und Fügsamkeit der Arbeiter zur Disziplinierung der Arbeiterschaft und zum Abbau des Sozialstaates instrumentalisiert. In Ostasien hat man die internationale Anerkennung seiner wirtschaftlichen Erfolge zur Rechtfertigung autoritärer Herrschaft benutzt.
Die Intensität der Diskussion über "asiatische Werte" ist allerdings nicht nur durch dieses Zusammenspiel zu erklären. Ein tiefer greifender Grund liegt in der genannten über 200 Jahre alten Tradition, die zwischen Kultur und wirtschaftlicher Entwicklung einen kausalen Zusammenhang herstellt und deshalb die Kulturen je nach ihrem relativen Entwicklungsniveau als überlegen oder unterlegen betrachtet. In der Intensivierung der Debatte über "asiatische Werte" spiegelte sich die Angst des Westens, dass er angesichts des Aufkommens eines neuen weltpolitischen Gravitationszentrums im westpazifischen Raum seine weltpolitische Hegemonie verlieren könnte.
Natürlich kann man nicht bestreiten, dass die kulturellen Gegebenheiten eines Landes in der Gestaltung der Politik und der wirtschaftlichen Entwicklung eine gewisse Rolle spielen. Die entscheidenden Ursachen für Entwicklungserfolge und -misserfolge sind jedoch in der Beschaffenheit der politischen und sozialen Institutionen eines Landes, in der Struktur seiner Eliten, im Ablauf seiner kolonialen und postkolonialen Geschichte und nicht zuletzt in seiner Stellung im internationalen Wirtschafts- und Machtsystem zu suchen. Kulturelle Wertorientierungen können nur im Zusammenhang mit sozialen und politischen strukturellen Rahmenbedingungen entwicklungshemmend oder -fördernd wirken. Zudem wandeln sich Wertvorstellungen im Zeitablauf.
Zum Schluss: Das Leben in den Großstädten Ostasiens und des Westens unterscheidet sich heutzutage nur unwesentlich - wobei die Städte in Ostasien sogar einen "moderneren" Eindruck machen. MTV, Madonna, McDonald's usw. üben auf die Jugendkulturen in der Region einen ähnlich dominierenden Einfluss aus wie in den USA oder Europa. Trotzdem bleiben einige Intellektuelle und Politiker weiterhin auf der Suche nach dem "Asiatischen". Ob es ihnen jemals gelingen wird herauszufinden, was das "eigentlich" Asiatische ist?