Spätestens seit der Wiedervereinigung ist die Religionspolitik in der Bundesrepublik infolge der Pluralisierung der religiösen Landschaft mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Denn die Pluralisierung hat zu Forderungen nach gleichberechtigter Integration von religiösen Minderheiten in die religionspolitische Ordnung, vor allem von Muslimen, sowie nach stärkerer Berücksichtigung der Belange von Konfessionslosen geführt. Deren wesentliche Rechtfertigungsbasis liegt im Grundgesetz: Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet Religionsfreiheit und Religionsausübung; Art. 3 Abs. 3 GG verbietet religiöse Diskriminierung oder Privilegierung.
Um erhebliche Herausforderungen handelt es sich erstens, weil die Einlösung der von religiösen Minderheiten und Konfessionslosen geltend gemachten Ansprüche auf gleichberechtigte Integration in die religionspolitische Ordnung Änderungen von Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken nötig macht. So erfordern religiöse Bestattungsrituale wie etwa die im Islam übliche sarglose Bestattung Änderungen der Bestattungsgesetze der Bundesländer beziehungsweise von kommunalen Friedhofssatzungen. Politik, Recht und Verwaltung sind auch gefordert, wenn es um die Gewährleistung des gleichen Rechts auf Religionsfreiheit etwa bei Fragen zum Umgang mit religiösen Ernährungs- und Bekleidungsvorschriften in öffentlichen Institutionen geht, beispielsweise dem Tragen des islamischen Kopftuchs. Besondere Herausforderungen stellen jedoch jene Fälle dar, in denen religiöse Pflichten mit für alle geltenden Gesetzen oder gar mit rechtlich kodifizierten grundlegenden moralischen oder ethischen Normen in Konflikt geraten, wie etwa im Fall der Beschneidung oder des Schächtens, die mit der Garantie körperlicher Unversehrtheit oder dem Tierschutz kollidieren, und sich die Frage nach der Gewährung von Ausnahmen stellt.
Vor diesem Hintergrund handelt es sich zweitens um erhebliche Herausforderungen, weil die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik zu den Systemen gehört, die sich im internationalen Vergleich durch ein hohes Maß an Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften sowie eine breite öffentliche Förderung des religiösen Sektors auszeichnen. Dazu zählen etwa der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, theologische Fakultäten an Universitäten oder die Gewährung eines besonderen Rechtsstatus für Religionsgemeinschaften in Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts samt den damit verbundenen Privilegien. Dazu zählt auch der Vorrang freier – und das heißt vor allem christlicher – Träger vor kommunalen Trägern im Bereich der Wohlfahrtspflege sowie die erheblichen Autonomiespielräume, die der deutsche Staat religiösen Einrichtungen beim Arbeitsrecht eingeräumt hat, wie etwa besondere Loyalitätspflichten für Arbeitnehmer, ein spezielles kirchliches Arbeitsvertragsrecht und die Einschränkung des Streikrechts.
So setzen beispielsweise der Körperschaftsstatus und der schulische Religionsunterricht voraus, dass Religionsgemeinschaften über klare Mitgliedschaftsregeln verfügen; der Religionsunterricht verlangt darüber hinaus, dass in Religionsgemeinschaften Autoritäten existieren, die zur verbindlichen Festlegung von beziehungsweise Auskunft über zentrale Lehrinhalte befugt sind. Anders als das Christentum mit der Taufe, den Kirchenleitungen und Synoden verfügt etwa der Islam über keine mitgliedschaftliche Struktur und kennt auch keine mit dem Christentum vergleichbare Lehrautorität. Mit Blick auf die Konfessionslosen ist es besonders der Vorrang freier, also vor allem christlicher vor kommunalen Trägern im Bereich der Wohlfahrtspflege, der Anpassungen erfordert. Denn dieser hat dazu geführt, dass in vielen Bereichen der überwiegende Teil des sozialstaatlichen Angebots – Kinderbetreuung, Jugendhilfe, Krankenversorgung, Seniorenbetreuung, Pflege – bis heute von kirchlichen Einrichtungen erbracht wird. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Sozialhilfeurteil von 1967 die Einschränkung der Betätigung von Kommunen auf diesem Feld nur so lange für gerechtfertigt erklärt, wie unter diesen Bedingungen den Bedenken Betroffener gegenüber konfessionell gebundenen Einrichtungen ausreichend Rechnung getragen werden könne. Heute müsste man den Vorrang nichtöffentlicher Träger wohl eher daran knüpfen, dass den nicht religiös gebundenen Klienten ein ausreichendes religiös beziehungsweise weltanschaulich neutrales Angebot zur Verfügung steht. Diese Bedingung dürfte angesichts der beständig sinkenden Kirchenmitgliedschaft – derzeit sind noch etwa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen – und der stetig wachsenden Zahl von Konfessionslosen immer weniger erfüllt sein. Ähnliche Probleme schafft die Marktdominanz kirchlicher Sozialeinrichtungen auch für konfessionslose Arbeitnehmer. Es fehlt ihnen aber nicht nur an religiös neutralen Beschäftigungsalternativen; vielmehr sind ihre Freiheiten und Rechte als Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen durch die besonderen Loyalitätspflichten und das besondere kirchliche Arbeitsrecht stark eingeschränkt.
Um erhebliche Herausforderungen handelt es sich schließlich drittens, weil die Forderung nach der gleichberechtigten Integration von religiösen Minderheiten und Konfessionslosen in die religionspolitische Ordnung auch die Frage nach dem Umgang mit den Spuren des mehrheitsreligiösen, also des christlichen Erbes auf die politische Tagesordnung setzt. Zu diesen Spuren zählen etwa die Gottesformeln in den Präambeln des Grundgesetzes und mancher Landesverfassungen, die christlichen Erziehungsziele in einigen Landesverfassungen und Schulgesetzen, die christliche Gemeinschaftsschule als öffentliche Regelschule in einer Reihe von Bundesländern, der Schutz des Sonntags und christlicher Feiertage, aber auch die Präsenz von Kreuzen, des zentralen Symbols des Christentums, in staatlichen Institutionen. Denn was in einer religiös weitgehend homogenen Gesellschaft – in den 1950er Jahren waren noch über 96 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen – einmal legitim und rechtens gewesen sein mag, muss es in einer pluraler gewordenen religiösen Landschaft nicht länger sein. Der Umgang mit diesen Spuren eines mehrheitsreligiösen Erbes erfordert eine sorgfältige politische und rechtliche Unterscheidung zwischen unvermeidlichen Asymmetrien, einem Recht der Mehrheit auf Ausdruck ihrer mit der Geschichte und Kultur des Landes verwobenen kulturellen Identität und Formen der symbolischen Ausgrenzung, Abwertung oder gar Missachtung der religiösen Traditionen von Minderheiten.
Die Bewältigung dieser drei grundlegenden Herausforderungen erfordert eine aktive Religionspolitik. Wie es darum in Deutschland seit den 1990er Jahren steht, möchte ich im Folgenden erörtern.
Religionspolitische Programmatik der Parteien
Will man in Erfahrung bringen, wie die religionspolitischen Herausforderungen im politischen Raum wahrgenommen und welche Schlüsse daraus gezogen werden, lohnt zunächst ein Blick in Partei- und Wahlprogramme.
Das Programm der SPD zur Bundestagswahl 2017 hat wie bereits 2013 kein eigenes Kapitel zu religionspolitischen Fragen, sondern verhandelt diese Materie unter dem Thema Integration. Eine Analyse der religionspolitischen Problemstellungen findet sich hier ebenso wenig wie bei der Union. Die SPD belässt es bei wenigen unsystematischen Bemerkungen zur Religionspolitik. Islamischer Religionsunterricht und die Ausbildung von islamischen Religionslehrerinnen und -lehrern sowie von Imamen an deutschen Universitäten werden vornehmlich als Instrument der Extremismusprävention thematisiert. Darüber hinaus wird Unterstützung für die "organisatorische Entwicklung von muslimischen Gemeinden und Organisationen" angeboten; konkrete Vorschläge dafür finden sich allerdings nicht. Vielmehr heißt es lapidar: "Erfüllen sie die Voraussetzungen, dann stehen ihnen auch die Möglichkeiten unseres bewährten Religionsverfassungsrechts offen."
Dass es religionspolitisch auch anders geht, zeigen einige der kleineren Parteien, vor allem Bündnis 90/Die Grünen: Die 2013 vom Bundesvorstand eingesetzte Kommission "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" legte 2016 ihren Abschlussbericht vor, in dem nicht nur die Grundsätze und Ziele bündnisgrüner Religionspolitik, sondern auch eine Reihe der drängenden politischen Herausforderungen wie die rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften, die Regelungen zu Sonn- und Feiertagen, der sogenannte Blasphemieparagraf im Strafgesetzbuch, das kirchliche Arbeitsrecht und das Feld der kirchlichen Finanzen ausführlich behandelt werden. Die Ergebnisse dieses Papieres finden sich im Programm der Partei für die Bundestagswahl 2017 wieder.
Als Beispiel für die Landesebene bietet sich ein Blick nach Nordrhein-Westfalen an, dem bevölkerungsreichsten Bundesland mit einem vergleichsweise hohen Anteil von Muslimen, in dem es seit 1990 zudem mehrere Regierungswechsel gegeben hat. Die Lektüre der Wahlprogramme für die NRW-Landtagswahl zeigt 2017 kein grundsätzlich anderes Bild als auf Bundesebene. Anders als im Programm der NRW-SPD 2012, das zur Frage des Umgangs mit den Herausforderungen religiöser Pluralisierung nicht einen einzigen Satz enthielt, findet sich 2017 ein eigener Abschnitt unter der Überschrift "Religiöse Toleranz und Vielfalt". Auch hier wird keine grundlegende Analyse der religionspolitischen Herausforderungen vorgenommen. Die SPD belässt es bei einer Würdigung und einem Bekenntnis zur Fortsetzung der etablierten Partnerschaft sowie des Dialogs mit christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden. Immerhin soll auch der Dialog mit den Muslimen fortgeführt werden.
Es wird deutlich, dass die beiden großen Parteien, die die Regierungen sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene dominieren, keine grundlegenden religionspolitischen Herausforderungen sehen. Die SPD zeigt freundliches Desinteresse an diesem Politikfeld, die Union plädiert für ein beherztes "Weiter so".
Praxis deutscher Religionspolitik
Eine Bewertung der Religionspolitik in Deutschland kann sich aber nicht allein auf die Analyse von Parteiprogrammen beschränken. Vielmehr gilt es, auch die konkrete Religionspolitik in den Blick zu nehmen. Das kann hier allerdings nur höchst selektiv geschehen.
Mit Blick auf Fragen individueller Religionsfreiheit fällt das Bild gemischt aus: Beim Umgang mit religiösen Bekleidungsvorschriften in öffentlichen Institutionen zeigt der Fall des islamischen Kopftuchs, das von einer gleichberechtigten Integration nicht gesprochen werden kann. So verabschiedeten nach dem ersten Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts 2003, das das Tragen des Kopftuchs für zulässig erklärt hatte, solange es nicht landesgesetzlich verboten sei, eine Reihe von Bundesländern, darunter vornehmlich die ehemals mehrheitlich katholischen Länder des Westens und Südens der Bundesrepublik, aber auch Hessen, Bremen und Niedersachsen, ein selektives Verbot des islamischen Kopftuchs für Lehrerinnen. Hier hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2015 zum nordrhein-westfälischen Schulgesetz klargestellt, dass ein solches selektives Verbot gegen das Diskriminierungsverbot der Verfassung verstößt, weil es sich um eine Privilegierung der vom Verbot nicht betroffenen religiösen Traditionen handele.
Auch beim Schächten und bei der Beschneidung existieren Indizien für eine Ungleichbehandlung der Muslime. Während die Gewährung von Ausnahmen in diesen Fällen für Mitglieder jüdischer Gemeinden nie infrage stand, musste mit Blick auf das Schächten das Bundesverfassungsgericht Mitte der 1990er Jahre im Fall eines muslimischen Metzgers erst klarstellen, dass Ausnahmen für diese religiöse Praxis auf der Basis der vom Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und der Berufsfreiheit zu gewähren sind. Für die Beschneidung beschloss der Bundestag auch erst, nachdem das Landgericht Köln Mitte 2012 zum Fall eines muslimischen Jungen erklärt hatte, dass eine Beschneidung ohne medizinischen Grund strafbar sei, eine gesetzliche Regelung, die die Beschneidung unter bestimmten Bedingungen erlaubt.
Auf der kollektiven Ebene ist die Lage hinsichtlich einer Integration der Muslime in das umfangreiche Kooperationsangebot des Staates an die Religionsgemeinschaften noch verhaltener: Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ist bisher nur einer muslimischen Organisation, nämlich der Ahmadiyya Muslim Jamaat, zuerkannt worden, und zwar in Hessen und Hamburg. Nach wie vor wird weiteren muslimischen Organisationen und Verbänden vor allem mit Verweis darauf dieser Status verwehrt, dass sie die zentrale Voraussetzung in Form der mitgliedschaftlichen Organisation als Religionsgemeinschaft nicht erfüllen. Etwas anders sieht es beim Religionsunterricht aus. Ordentliches Unterrichtsfach ist der islamische Religionsunterricht bisher in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen. Bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht gibt es auch in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland, teilweise noch im Rahmen von Modellversuchen. In einer Reihe weiterer Bundesländer existieren Übergangslösungen in Form von islamkundlichem Unterricht und befristeten Übergangslösungen.
Bemerkenswert ist vor allem der unterschiedliche Umgang mit den Anpassungsproblemen muslimischer Organisationen und Verbände bei Körperschaftsstatus und Religionsunterricht. Während beim muslimischen Religionsunterricht, aber auch bei den islamischen theologischen Fakultäten staatlicherseits ungemeine Kreativität mobilisiert wurde, um beides durch Hilfskonstruktionen wie Beiräte einigermaßen regelkonform zu ermöglichen, kann davon beim Körperschaftsstatus keine Rede sein. Das deutet darauf hin, dass der Imperativ dieser selektiven pragmatischen Kooperation nicht der gleichberechtigten Integration gilt, sondern der Prävention von Fundamentalismus und der Kontrolle einer als potenziell "gefährlich" angesehenen Religion.
Allerdings existieren inzwischen erste Verträge zwischen Bundesländern und muslimischen Verbänden, die Lösungen für eine Reihe von Problemen und Herausforderungen muslimischer Lebensführung wie dem Umgang mit muslimischen Feiertagen, der Gefängnisseelsorge oder islamischen Bestattungen und dem Betrieb von Friedhöfen bereitstellen. Hamburg und Bremen haben solche Verträge nach mehrjährigen Verhandlungen bereits 2012 und 2014 abgeschlossen.
Deutlich magerer fällt die religionspolitische Bilanz hinsichtlich der Belange der Konfessionslosen aus. Die wenigen Fortschritte gehen auf direkte und indirekte Effekte der deutschen Arbeitsrechtsprechung sowie der europäischen Gerichtsbarkeit zurück. So hat etwa die Evangelische Kirche in Deutschland als Reaktion auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im November 2013 nun auch Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und kirchlichen Arbeitgebern zugelassen. In der Folge haben in Niedersachsen die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und die Diakonie einen Tarifvertrag vereinbart. Der Europäische Gerichtshof hat zuletzt im April 2018 in einem Urteil das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, bei Stellenbesetzungen Konfessionszugehörigkeit zu fordern, deutlich beschränkt.
Was den Umgang mit den Hinterlassenschaften des christlichen Erbes anbelangt, so fehlt nicht nur jede Initiative aufseiten der beiden großen Parteien zu einer Debatte über diese Frage. Vielmehr wird vor allem von Teilen der Union in jüngster Zeit der Versuch unternommen, das Christentum in besonderer Weise symbolisch und materiell zu privilegieren. Zu diesen Versuchen zählen die oben erwähnten selektiven Kopftuchverbote einiger Bundesländer und jüngst auch der Beschluss des bayerischen Kabinetts im April 2018, dass ab Juni 2018 im Eingangsbereich jedes bayerischen Dienstgebäudes "deutlich sichtbar" ein Kreuz aufzuhängen sei, und zwar als "Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns" und als "sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und Deutschland".
Ohne Zweifel sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Schritten in Richtung einer Integration des Islams in die religionspolitische Ordnung unternommen worden. Bedenkt man jedoch, dass diese Fragen spätestens seit Anfang der 1990er Jahre auf der Tagesordnung standen, ist die Bilanz doch mehr als bescheiden. Die beobachtbaren Fortschritte fallen zudem sehr unterschiedlich aus. Am größten sind sie dort, wo es um die religiöse Praxis von Individuen geht. Je mehr es um die kollektiven Ausdrucksformen wie beispielsweise den Moscheebau sowie den öffentlichen Status, die Stellung und die Funktionen des Islams geht, also um seine gleichberechtige Integration in die kooperative religionspolitische Ordnung, desto größer wird die Zahl der bisher unzureichend gelösten Fragen. Die Belange der Konfessionslosen werden demgegenüber von der Politik bisher völlig außer Acht gelassen.
Gründe für die Vernachlässigung der Religionspolitik
Wie ist diese zögerliche, die Probleme zum Teil sogar verschärfende Religionspolitik zu erklären? Ein erster Faktor ist die Organisations- und Konfliktfähigkeit, Letzteres im Sinne von Durchsetzungspotenzial, von religiösen Minderheiten und Konfessionslosen. Es existiert inzwischen zwar eine muslimische Organisationslandschaft, die aber durch vielfältige religiöse, ethnische und politische Spannungs- und Konfliktlinien charakterisiert ist.
Noch einmal anders stellt sich die Lage mit Blick auf die höchst heterogene Gruppe der Konfessionslosen dar. Über Ausprägung und Intensität ihrer religionspolitischen Interessen weiß man bisher wenig. Es existieren auch nur wenige Organisationen wie etwa der Humanistische Verband Deutschlands, die als Sprecher und Advokaten dieser Gruppe auftreten. Die stärkste Ressource auch dieser Gruppe ist das Religionsrecht. Aber solange sich die Konfessionslosen nicht stärker organisieren, bleiben auch sie in erheblichem Maße auf Kooperationsbereitschaft und Entgegenkommen der Politik angewiesen.
Einen zweiten Faktor bilden die wahlstrategischen Überlegungen der beiden großen Parteien. Sie operieren grundsätzlich unter Bedingungen abnehmender Wählerbindungen und einer Zunahme der politischen Konkurrenz. Ein Einsatz für religiöse Minderheiten wie die Muslime verspricht kaum wahlpolitische Rendite, sondern droht vielmehr, große Wählergruppen zu verprellen. Denn die Muslime stellen nach wie vor eine vergleichsweise kleine Wählergruppe, weil viele von ihnen nicht zuletzt auch als Folge der Migrationspolitik noch immer nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit und somit das Wahlrecht verfügen. Zugleich gibt es eine sehr große Zahl von Wählern in Deutschland, die dem Islam mit großer Skepsis begegnen.
Ähnliches gilt mit Blick auf eine stärkere Berücksichtigung der Belange der Konfessionslosen. Diejenigen unter den Konfessionslosen, die von einer ihnen entsprechenden Religionspolitik ihre Wahlentscheidungen abhängig machen würden, bilden angesichts der Heterogenität dieser Gruppe eine kleine Minderheit. Auf der anderen Seite würde eine stärkere Berücksichtigung der Belange von Konfessionslosen Korrekturen am Modell der Zusammenarbeit mit den Kirchen im Wohlfahrtsbereich erfordern, was vor allem die hoch religiöse christliche Wählerschaft abschrecken könnte – eine Zielgruppe, die nach wie vor große Bedeutung für die Unionsparteien hat.
Für die in jüngster Zeit unternommenen Versuche, das Christentum in besonderer Weise symbolisch und materiell zu privilegieren, kommen zwei weitere Gründe hinzu. Denn drittens identifizieren sich zumindest Teile der Bevölkerung auch jenseits der christlichen Kirchen stark mit dem religiösen und kulturellen Erbe des Christentums. Das zeigt mit Blick auf Bayern etwa die große Unterstützung, die der Kreuz-Beschluss vor allem unter den Anhängern von AfD, CSU und Freien Wählern findet.
Fazit
Die Zögerlichkeit der politischen Entscheidungsträger angesichts der religiösen Pluralisierung führt zu erheblichen Unsicherheiten und Irritationen. Denn die Bevölkerung ist unzureichend auf die Herausforderungen religiöser Vielfalt und die erforderlichen Reformen auf dem Feld der Religionspolitik vorbereitet (worden). Der hinhaltende Umgang vor allem mit den Muslimen bei fortgesetzter Privilegierung des Christentums befördert implizit eine Unterscheidung zwischen "uns", dem christlich und humanistisch geprägten Europa, und "ihnen", den Muslimen. Der bisherige Umgang mit den islamischen Verbänden und Organisationen suggeriert darüber hinaus, die unzureichenden Fortschritte hätten ihre Ursache in ihrer mangelnden Fähigkeit oder ihrem mangelnden Willen, sich auf die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik einzustellen. Dass Integration ein wechselseitiger Prozess ist, gerät dabei aus dem Blick. Zugleich nötigt die zögerliche Religionspolitik die Muslime dazu, ihr Recht auf Religionsfreiheit zunehmend vehementer einzufordern. Das fördert den Eindruck, hier forderten einzelne Gruppen Sonderrechte oder die einseitige Anpassung der Mehrheitsgesellschaft an ihre Bedürfnisse, was wiederum einer wachsenden Skepsis der bundesdeutschen Bevölkerung gegenüber dem Islam Vorschub leistet, und birgt gleichzeitig auch vor dem Hintergrund dieser Skepsis das Risiko einer Abnahme der Integrationsbereitschaft der Muslime.