Wer sich derzeit zu Religionsdebatten in Deutschland äußert, kann die Kontroversen über den sogenannten Kreuz-Erlass der Bayerischen Staatsregierung nicht ignorieren. Zu Recht hat die umstrittene Initiative des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder weit über Bayern und Deutschland hinaus viel Aufmerksamkeit erregt. Erneut zeigt sich: Die in den 1950er Jahren von vielen Sozialwissenschaftlern im engen Zusammenhang mit allzu fortschrittsoptimistischen "Modernisierungstheorien" vertretene Annahme, dass "mehr Moderne" "weniger Religion" bedeute und die modernen "westlichen" Gesellschaften durch eine sich beschleunigende "Säkularisierung" geprägt seien, ist empirisch gesehen falsch. So ist nicht nur die US-amerikanische Gesellschaft in vielen Bezügen, etwa mit Blick auf Technologie und wissenschaftliche Innovationskraft, höchst modern, aber zugleich von oft sehr starken religiösen Bindungen geprägt. Auch in einigen europäischen Gesellschaften finden sich starke religiöse Kräfte mit zum Teil erheblichem Einfluss auf die Politik. Die Intensität des öffentlichen Streits um den "Kreuz-Erlass" der Bayerischen Staatsregierung lässt erkennen, dass gerade auch in Deutschland gelebter christlicher Glaube keineswegs nur eine Privatsache vieler frommer Individuen ist, sondern von breiten Kreisen der Bevölkerung als eine politisch wichtige, nichts Geringeres als die Grundlagen des Zusammenlebens betreffende Kraft eingeschätzt wird.
Seitdem das Spektrum des religiösen Pluralismus vor allem durch die Einwanderung von Muslimen deutlich breiter, differenzierter, bunter geworden ist, sieht sich die deutsche Gesellschaft mit zahlreichen neuen religionsbezogenen Konflikten konfrontiert: dem Streit um die Beschneidung jüdischer und muslimischer männlicher Neugeborenen und Knaben, den Kontroversen um das Kopftuch von Frauen im öffentlichen Dienst, den Protesten konservativer muslimischer Eltern gegen den Schwimmunterricht ihrer Töchter, den Irritationen über die Burka reicher Frauen aus den Golf-Staaten und den zum Teil aggressiv ausgetragenen Debatten um das Schächten. Mehr Verschiedenheit bedeutet in aller Regel auch mehr Konflikt, und da die drei großen monotheistischen Religionsfamilien Judentum, Christentum und Islam sich auf je eigene Weise auch auf uralte Vorstellungen von der unbedingten Geltung des "Gesetzes Gottes" stützen, kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen dem positiven Recht des Staates und den Normen des religiösen Eigenrechts.
Die neue religiöse und weltanschauliche Vielfalt hat beispielsweise auch dazu geführt, dass alte, schon in den einst religiös weithin homogenen – und doch sehr oft auch von extrem harten Kulturkämpfen zwischen Protestanten und Katholiken geprägten – dominant christlichen Gesellschaften umkämpfte moralische Streitthemen erneut auf die öffentliche Agenda gesetzt worden sind: Ist mannmännliche oder lesbische Liebe als solche Sünde, oder muss sie der Staat als gelebte Manifestation der Selbstbestimmung zweier autonomer Individuen durch Institutionalisierung der Ehe für alle rechtlich schützen und fördern? Gibt es um individueller Freiheit willen ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod oder, um das Problem in prägnanter Zuspitzung zu bezeichnen, ein Grundrecht des Todesbereiten auf ärztliche Assistenz beim gewollten Suizid?
Moralische Konflikte dieser Art betreffen den öffentlichen Religionsdiskurs, weil in Deutschland – vielleicht stärker als in anderen europäischen Gesellschaften – religiöser Glaube oft als wichtigste Quelle für "Werte" und gelebte "Sittlichkeit" gesehen wird und gerade viele Politiker und Politikerinnen den Kirchen und anderen religiösen Organisationen die Aufgabe der "Wertebildung" und "Werterziehung" zuschreiben. Mit Blick auf den Streit um seinen Kreuz-Erlass kündigte der bayerische Ministerpräsident kurz vor Pfingsten etwa an, "Vertreter der beiden großen Kirchen" und anderer Religionsgemeinschaften zu einem "runden Tisch" einzuladen, an dem über "Werte, Kultur und Identität des Landes" gesprochen werden solle.
Der Ministerrat des Freistaates Bayern hatte am 24. April beschlossen: "Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes im Freistaat ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns deutlich wahrnehmbar ein Kreuz als sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in Bayern und Deutschland anzubringen. (…) Das Kreuz ist das grundlegende Symbol der kulturellen Identität christlich-abendländischer Prägung." Als Markus Söder nach der Kabinettssitzung, in der der Beschluss einstimmig gefasst worden war, in der Eingangshalle der Staatskanzlei demonstrativ ein Kreuz aufhängte, erklärte er gar: "Das Kreuz ist nicht ein Zeichen einer Religion"
In der Presse, die, neben Radio und Fernsehen, zum Fototermin der Kreuzaufhängung in die Staatskanzlei gebeten worden war, fand Söders Aktion viel Beachtung. Das mediale Echo war jedoch gespalten. Neben der Zustimmung in einigen entschieden konservativen Zeitungen und Zeitschriften gab es massive, zum Teil sehr harte und polemische Ablehnung. Besonders prägnant und scharf wurde Söder von Heribert Prantl, einem glaubenssensiblen leitenden Redakteur des Meinungsressorts der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), kritisiert: "Das Kreuz ist nicht einfach ein heimatlicher Wandschmuck. Es ist nicht einfach Symbol für Tradition. Es ist nicht Folklore, es ist kein religiöses Hirschgeweih. Es ist das wichtigste christliche Zeichen, es ist das Symbol für Erlösung, Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi. Diese Herrschaft ist aber kein staatliches Regiment, deshalb gehört das Zeichen nicht per staatlicher Anordnung in staatliche Räume gehängt. Die bayerische CSU-Staatsregierung tut genau das. (…) Dies ist keine Respektsbezeugung, das ist ein Missbrauch; das ist die politische Instrumentalisierung einer religiösen Kernbotschaft. (…) Das ist nicht christlich, das ist Ketzerei – weil es das Kreuz verstaatlicht und säkularisiert."
Der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, reagierte auf den Kreuz-Erlass hingegen ausweichend und widersprüchlich. Inwieweit dies damit zusammenhängt, dass der Protestant Markus Söder bis vor Kurzem ein von der Kirchenleitung berufenes Mitglied der bayerischen Landessynode war und in seiner letzten Rede als Synodaler unter Beifall angekündigt hatte, in seiner Politik "dem Kreuz" wieder mehr Geltung zu verschaffen, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber der Mangel an Klarheit in der Stellungnahme des Landesbischofs wurde auch in der Presse kritisch zur Kenntnis genommen. "Wir als Christen und wir als Kirchen werden natürlich immer wieder darauf hinweisen, dass das Kreuz zuallererst ein religiöses Symbol ist", erklärte Bedford-Strohm – ohne sein vages "zuallererst" zu erklären und klar zu sagen, was es denn sonst noch symbolisieren können soll. Seine Aussage, es sei gar nicht entscheidend, ob das Kreuz an der Wand hänge oder nicht, sondern ob es "auch vom Inhalt her mit Leben erfüllt wird",
Prantl brachte dies mit der ihm eigenen intellektuellen Schärfe auf den Punkt: "Wird der Bischof dafür beten, dass die Kreuze herunterfallen, wenn die Politik der CSU diese Botschaft [von Menschenwürde und Humanität] malträtiert? Wird er in die Eingangshallen der Ämter gehen, und die Kreuze dann abhängen?"
Eine Ausnahme war zunächst der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, der im Kölner "Domradio" mit Nachdruck erklärte, dass das Kreuz "kein Identitätszeichen irgendeines Landes oder eines Staates" sei. Nach fünf Tagen des Schweigens legte der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, dann in einem größeren SZ-Interview nach – bemerkenswert scharf und klar. Der Kabinettsbeschluss habe nur "Spaltung", "Unruhe" und "Gegeneinander" provoziert. Er warnte davor, das Kreuz zu "verharmlosen", und bezichtigte die Staatsregierung einer übergriffigen Symbolpolitik: "Wenn das Kreuz nur als kulturelles Symbol gesehen wird, hat man es nicht verstanden. Dann würde das Kreuz im Namen des Staates enteignet. (…) Es steht doch dem Staat nicht zu, zu erklären, was das Kreuz bedeutet. Er kann und muss dafür sorgen, dass sich religiöse Überzeugungen artikulieren können. Aber er kann nicht bestimmen, was der Inhalt dieser religiösen Überzeugung ist." Gegen die politische Verzweckung des Kreuzes erklärte er: "Das Kreuz bringt nicht einfach ein bestimmtes politisches Programm mit sich. Es ist nie ein Symbol für irgendein Land oder irgendeine Kultur, sondern ein Zeichen des Heils, der Rettung der Welt, der Hoffnung besonders für die Kranken, Schwachen und Sünder. Ich werde immer misstrauisch, wenn einer behauptet, das Evangelium ließe sich eins zu eins in praktische Politik umsetzen."
Wie auch immer – der Kreuz-Erlass, von seinen Kritikern "Kreuz-Befehl" genannt, führte im Freistaat und überhaupt in der Bundesrepublik zu einer eigentümlich paradoxen diskursiven Lage. Zwar beschwören die leitenden christlichen Akteure, allen voran die Duz-Freunde Bedford-Strohm und Marx, immer wieder pathetisch "die Ökumene" – worin sie der Ministerpräsident unterstützt, der bei der Ankündigung seines Besuchs beim Heiligen Vater in Rom, aber auch beim Papa emeritus Benedikt XVI., betonte, "dass alle, die an Gott glauben, sich noch stärker in der Ökumene unterhaken, die Gemeinsamkeiten hervorheben".
Doch wurden neben ökumenischer Konsensrhetorik auch neue Konfessionskonflikte sichtbar. Gerade lutherische Protestanten waren lange Zeit der Ansicht, dass eine Theologie des Kreuzes "das Spezifikum der reformatorischen gegen die römisch-katholische Theologie"
Auch lässt sich in deutschen Religionsdebatten noch immer Kulturkampfmentalität beobachten. Thomas Blume, der Generalsekretär der CSU, bezeichnete die Kritiker des Kreuz-Beschlusses als entweder "Religionsfeinde" oder "Selbstverleugner". Vielleicht müssen Politiker in Wahlkampfzeiten so denken. Aber der Eigensinn der Religion wird durch solche an Carl Schmitt erinnernde Rhetorik nur beschädigt.
Auch ein großer Text in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), mit dem Heinrich Bedford-Strohm nach ihm widerfahrener Kritik noch einmal in die Debatte eingriff, ließ keine klare theologische Haltung erkennen. Zwar ging der Ratsvorsitzende mit ausdrücklichem Bezug auf den bayerischen Ministerpräsidenten nun zur "einseitigen Okkupation des zentralen christlichen Symbols durch die Politik" auf Distanz und betonte die Aufgabe der Kirchen, "den Sinn des Kreuzes öffentlich deutlich zu machen".
Das war eine nur unklare theologische Deutung des "Wortes vom Kreuz". Denn der Landesbischof bestritt nicht, dass das Kreuz das "Zeichen einer erfolgreichen Kultur- und Beheimatungsleistung" ist – man soll es nur nicht darauf "reduzieren" dürfen. Denn "mindestens genauso" – wirklich: "genauso"? – soll es als Symbol kritischer Selbstreflexion "aller weltlichen Werte" gelten können. Abgesehen von der "Werte"-Semantik überraschte es zu sehen, dass der religiöse Gehalt des christlichen Zentralsymbols mit einer behaupteten kulturellen Funktion parallelisiert und nicht einmal entschieden vorgeordnet wurde. Dabei blieb der theologische Gehalt des Begriffs der "Heimat" vage, auch wenn er, politisch sehr zeitgeistkonform, aus christologischer "Tiefe heraus" geadelt werden soll. Wie und weshalb der Glaube dazu dienen können soll, "Heimat" zu erschließen, erklärte Bedford-Strohm nicht. Offenkundig fällt es selbst führenden Vertretern der christlichen Kirchen im Lande schwer, die Botschaft des Evangeliums in prägnanten, klaren Begriffen und allgemein verständlich zu kommunizieren. Ein Redakteur der FAZ warf ihnen denn auch vor, "eher moralinsaure Glückskeks-Floskeln denn christliche Glaubensbotschaften" zu verbreiten.
Politisch naiv und hilflos war der Versuch, das regierungsamtlich verordnete Aufhängen von Kreuzen in Staatsgebäuden mit einem volksmissionarischen Programm zu verknüpfen. "Wenn das Kreuz in öffentlichen Gebäuden hängt, sollte es an das Geheimnis der Erlösung durch Jesus Christus erinnern, auch an die im Glauben gewonnene Freiheit, dem Nächsten zu dienen, an die Humanität, die darin ihre größte Würdigung erhält, dass Christus für alle Menschen gestorben ist."
Gehört das "Geheimnis" des Glaubens in die Behördenräume einer Demokratie, die gerade auf politischer Transparenz gründet? Dass der aus politischen Gründen zum Kreuzestod verurteilte Jude Jesus von Nazareth "Christus" sei, ist Interpretament der nach seinem Tod an ihn Glaubenden. Dass sein Tod für "alle Menschen" heilsbedeutsam sei, ist ebenfalls ein christliches Glaubenszeugnis, wird also von vielen Menschen nicht geteilt.
Bei Paulus kann man zum Kreuz lesen, dass es den Griechen eine "Torheit" und den Juden ein "Ärgernis" sei. So überraschte es, dass die Regionalbischöfin für München und Oberbayern und Ständige Stellvertreterin des Landesbischofs, Susanne Breit-Keßler, das Kreuz Anfang Mai in ihrer Predigt zur Eröffnung der Landesausstellung "Wald, Gebirg und Königstraum – Mythos Bayern" in Kloster Ettal als ein "inklusives Symbol" bezeichnete. Das Kreuz erinnere daran, "dass der wahre Gott sich als wahrer Mensch offenbart".
Michael Brenner, der Inhaber des Lehrstuhls für jüdische Geschichte der Münchner Universität, widersprach ihr indirekt, indem er in der SZ die vielfältigen Diskriminierungserfahrungen beschrieb, die seine Kindheit und Jugend als Jude in der Oberpfalz geprägt hatten. In seiner Kritik der verlogenen "Konstruktion vom christlich-jüdischen Abendland" erinnerte er daran, dass das Kreuz für Juden immer "auch ein Symbol" war, "das während vieler Jahrhunderte für Intoleranz, Verfolgung und Bekehrungseifer stand".
"Ich freue mich darüber, wenn politisch Verantwortliche sich bewusst unter das Kreuz stellen", erklärte Regionalbischöfin Breit-Keßler. Doch ob ein Politiker ein frommer Protestant sein will und andere Politikerinnen ihr Leben als gute Katholikinnen führen wollen, stand im Streit um den Kreuz-Erlass nicht zur Debatte. Vielmehr ging es um die Frage, ob der freiheitliche Verfassungsstaat, der sich um seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität willen mit keiner Religion und Weltanschauung identifizieren darf, in Bayern aus welchen Gründen auch immer die Mehrheitsreligion symbolpolitisch privilegieren darf.
Diese Frage wurde auch von Verfassungsrechtlern kontrovers diskutiert. Der einstige Verfassungsrichter Udo di Fabio erklärte den Kreuz-Erlass in der "Zeit" für verfassungskonform und wies darauf hin, "dass viele Menschen islamischen Glaubens und auch manche Atheisten ihre Kinder gerne in konfessionelle Kindertagesstätten oder Schulen schicken": "Vielleicht ist für sie ein Kreuz beim Betreten einer öffentlichen Behörde eher Beruhigung denn Provokation."
Dies dürfte in der Tat die entscheidende Frage sein: Tut es dem Christentum im Lande gut, wenn sich der Staat seines Zentralsymbols bedient? Oder wird durch inflationäre Aufhängung das Kreuz nur entwertet? Selbst in den Religionsdebatten, wie sie in den Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften Deutschlands geführt werden, wird diese Frage nur sehr selten gestellt. Dies tut dem öffentlichen Diskurs über die neue Vielfalt der Glaubensweisen im Lande nicht gut.