Obdachlose, hier definiert als Menschen, die im Freien schlafen oder zeitweise in Obdachloseneinrichtungen unterkommen müssen, gab es schon immer. Wie aber ihr Alltag aussah und wie die Gesellschaft mit ihnen umging, unterschied sich je nach historischem Kontext. In diesem Beitrag betrachte ich mit dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert einen Zeitraum in Deutschland, in dem der Sozialstaat expandierte und zahlreiche Einrichtungen für obdachlose Menschen initiiert wurden, Obdachlosigkeit aber dennoch weiterbestand. Zugleich kamen in der Hilfe für Obdachlose häufig stigmatisierende Vorstellungen zum Ausdruck, die in der Mehrheitsgesellschaft vorhanden oder erst in Fürsorgeeinrichtungen entstanden waren. Exkludierende Praktiken waren oftmals die Folge – zugespitzt in der Zeit des Nationalsozialismus, in der eine große Zahl von Obdachlosen zwangssterilisiert sowie in Konzentrationslager gebracht wurde und dort starb.
Dennoch wäre es zu kurz gedacht, eine Geschichte der Obdachlosigkeit im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates als eine alleinige Ausgrenzungsgeschichte zu schreiben. Eine solche Erzählung würde mindestens zwei zentrale Aspekte übersehen: zum einen die mögliche Integration von Obdachlosen in die Gesellschaft,
Obdachlosigkeit im Kaiserreich
Im späten 19. Jahrhundert avancierte Obdachlosigkeit zum Massenphänomen. Davon besonders betroffen waren exmittierte, das heißt aus ihren Wohnungen ausgesetzte Familien in größeren Städten, mittel- und arbeitslose Männer aus ländlichen wie städtischen Regionen sowie aus ihren Stellungen entlassene Dienstmädchen. Die Anzahl obdachloser Menschen lag zeitweise höher als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Woran lag das? Sozioökonomische Entwicklungen waren hier ebenso prägend wie einschneidende Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt. Mit der Durchsetzung der Lohnarbeit ohne soziale Absicherung erhöhte sich die Anzahl der Obdachlosen im Vergleich zu der Zeit vor der Industrialisierung. Viele Menschen zogen auf der Suche nach Erwerbstätigkeit vom Land in die industriellen Ballungszentren, wo es ihnen aber nicht immer gelang, Arbeit und eine finanzierbare Unterkunft zu finden.
Obgleich die von Obdachlosigkeit betroffenen Gruppen im Kaiserreich äußerst heterogen waren, existierten Differenzierungen. Alleinstehende männliche Obdachlose wurden häufig als "arbeitsscheue" "Vagabunden", "Wanderer", "Stromer" oder "Landstreicher" bezeichnet, während man alleinstehende obdachlose Frauen und Mädchen mit dem Adjektiv "gefallen" versah, womit die Unterstellung einherging, sie würden als Prostituierte arbeiten. Beide Begriffsgruppen verband die Verknüpfung mit Arbeit im negativen Sinne. Unterstellten Fürsorgeverantwortliche und mit ihnen eine breite Öffentlichkeit den Frauen und Mädchen, eine normabweichende Arbeit auszuüben, setzten sich alleinstehende Männer dem Vorwurf aus, Arbeit zu verweigern und stattdessen zu betteln. Die Erziehung zur Arbeit stellte von daher ebenso ein strukturbildendes Element der Einrichtungen für Obdachlose dar, wie auch die verschiedenen Bezeichnungen die Angebote gliederten.
Wer über keine finanziellen Mittel verfügte, war auf den Polizeigewahrsam oder das Arbeitshaus angewiesen. An beide Institutionen konnten sich Obdachlose entweder freiwillig wenden, was in Phasen der Wohnungsnot auch mehrheitlich der Fall war, oder aber sie wurden dorthin zwangsüberwiesen. Obdachlosigkeit und Landstreicherei galten als Straftatbestände und konnten mit Gefängnis und/oder Arbeitshauseinweisung geahndet werden.
Im Zuge des sozialpolitischen Aufbruchs in den 1880er Jahren errichteten fast alle Städte Obdachlosenasyle, teils in Eigenregie, teils in Kooperation mit konfessionellen Trägern.
Exmittierte obdachlose Familien standen im Kaiserreich vor zwei Problemen: In die Einrichtungen konnten sie weder ihr Mobiliar mitnehmen noch als Familie zusammenbleiben. In Berlin, wo die Wohnungsnot in den frühen 1870er Jahren besonders ausgeprägt war, errichten viele Familien deshalb auf den freien Plätzen der Stadt illegal Bretterbuden. Im Oktober 1872 riss die Polizei die Hütten gewaltsam ab; ihre Bewohnerinnen und Bewohner mussten im Arbeitshaus Quartier nehmen. Diese Abrisse führten zu Straßenkämpfen zwischen der Polizei und der sich mit den obdachlosen Familien solidarisierenden Arbeiterbevölkerung.
In Zeiten einer hohen Anzahl an Obdachlosen, für die nicht genügend Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung standen, der beginnende Sozialstaat aber eine Neugründungswelle von einschlägigen Einrichtungen begünstigte, boten Fürsorgeakteure eine Teilinklusion an, die den Grundstein für das heutige Obdachlosenfürsorgesystem bildete.
Obdachlosigkeit in der Weimarer Republik
Nach dem Ersten Weltkrieg, der wegen der Wehrpflicht einen Rückgang der Obdachlosigkeit zur Folge gehabt hatte, nahm die Anzahl wohnungsloser Menschen wieder zu. Zum einen handelte es sich weiterhin um alleinstehende Männer und Frauen sowie Familien. Hinzu kamen obdachlose Jugendliche, die aber nur einen geringen Anteil an der Gesamtzahl der Obdachlosen ausmachten.
In der Weimarer Republik hatte fast eine halbe Million Menschen keine eigene Unterkunft.
Viele Menschen konnten zudem ihre Miete nicht mehr bezahlen und wurden zur Räumung ihrer Wohnung verurteilt. Anders als im Kaiserreich reichte die Kündigung des Hausbesitzers dafür nicht mehr aus, es war ein Gerichtsurteil nötig. Ab 1926 musste das zuständige Wohlfahrtsamt prüfen, ob es die Mietrückstände übernehmen konnte, um Obdachlosigkeit zu verhindern. Allerdings gewährten die Städte und Gemeinden nur äußerst selten einen solchen Zuschuss, da die Kostenübernahme eine erhebliche finanzielle Belastung für sie darstellte.
Die wirtschaftlich und wohnungspolitisch veränderte Lage schlug sich nicht in den Diskursen über Obdachlosigkeit nieder: Hier herrschten Kontinuitäten vor.
Solche eugenischen Denkmuster liefen parallel zu einer der augenfälligsten Neuerungen in der Obdachlosenfürsorgepolitik: einem Mehr an Staat. Wohlfahrtsämter waren nun zuständig für Unterstützungsleistungen, die auch vagierenden Obdachlosen einfacher gewährt wurden als im Kaiserreich.
Viele Familien richteten sich jedoch entgegen der behördlichen Intention in beiden Durchgangsbleiben auf Dauer ein, schließlich stellten sie eine Verbesserung gegenüber dem Asyl dar, und die Nutzungsgebühr war deutlich geringer als in einer Mietwohnung. Aber nicht nur in diesem Punkt funktionierte das erzieherische System nicht, denn die Kommunen klagten über häufig ausbleibende Mietzahlungen und Vandalismus in den Obdachlosenwohnungen.
Insgesamt verschärfte sich Obdachlosigkeit in der Weimarer Republik aufgrund der wirtschaftlichen Krisen und der Wohnungsmarktlage wieder – auch die durchaus fürsorgeaktive Demokratie fand kein Mittel, die Lage der Betroffenen zu lindern. Zum Ende der Republik fehlte sowohl das Geld als auch das Personal.
Obdachlosigkeit im Nationalsozialismus
"Asozialität" und damit auch Obdachlosigkeit zu bekämpfen, stellte eines der Wahlversprechen der NSDAP dar. Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgte und inhaftierte das NS-Regime die meisten obdachlosen Menschen und bot einigen wenigen kinderreichen obdachlosen Familien neue Wohnungen an. Infolgedessen leerten sich die Asyle; die Zahl der Obdachlosen sank stark.
Nicht ausschlaggebend für die Verringerung der Obdachlosenzahlen war die Wohnungspolitik der Nationalsozialisten, da die neugebauten Wohnungen den Bedarf nicht deckten und für die meisten Wohnungssuchenden zu teuer waren.
Obdachlose wurden im Nationalsozialismus zu "Minderwertigen" und vor allem zu "Asozialen"; Bezeichnungen, die bereits im Fürsorgediskurs der Weimarer Republik verwendet wurden, sich aber erst in der NS-Zeit als zentrale Klassifikationen in der Fürsorge- und Verfolgungspraxis durchsetzten.
Gestützt auf diese Kategorisierung und in Kooperation mit den bisherigen Fürsorgeverantwortlichen nahm das NS-Regime 1933 "Bettlerrazzien" vor, bei der Tausende von obdachlosen Menschen verhaftet wurden. Die Festgenommenen wurden in Pflegeheime verbracht, wo sie eine Zwangssterilisierung erwartete, sowie in Arbeitshäuser, Gefängnisse und Konzentrationslager gesperrt.
Obdachlose Familien, die als "arisch" und "erbgesund" galten, erhielten teilweise Unterstützung durch den pronatalistischen NS-Staat.
Obdachlosigkeit in der DDR und der Bundesrepublik
Die wenigen Obdachlosen, die das Konzentrationslager überlebt hatten, wurden von den Alliierten 1945 befreit, während in der NS-Zeit entmündigte Obdachlose in Pflegeheimen und Anstalten bleiben mussten.
Der allgemeinen Wohnungsnot trug auch die DDR-Regierung zunächst Rechnung, indem sie Obdachlosenunterkünfte in ehemaligen Altenheimen einrichtete, schon bald aber zur alten Differenzierung zwischen "asozialen" und "sozialen" Obdachlosen zurückkehrte.
Obgleich unter anderen rechtlichen und ideologischen Vorzeichen war dieses Phänomen auch in Westdeutschland nicht unbekannt. Besonders im "Wirtschaftswunder", in dem nahezu Vollbeschäftigung herrschte, wurde mittel- und arbeitslosen Obdachlosen nur wenig Verständnis entgegengebracht, eine Selbstverschuldung automatisch angenommen und teilweise Pathologisierungen reaktiviert.
Vor diesem Hintergrund stellte Obdachlosigkeit in den 1960er Jahren das zentrale sozialpolitische Problem der Kommunen dar. Im Zuge von Verwissenschaftlichungsprozessen baten städtische und kommunale Verwaltungsbeamte Sozial- und Erziehungswissenschaftler um die Analyse der Lage.
In Anerkennung der multikausalen Ursachen von Obdachlosigkeit übernahm der Bund Mietbeihilfen und finanzierte Modelleinrichtungen.
In Zeiten steigender Arbeitslosigkeit, vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wieder akut, hatten Obdachlose es noch schwerer als zuvor, Arbeit zu finden. Da die Idee, seinem Leben durch Arbeit Sinn, Struktur und finanzielle Unabhängigkeit zu verleihen, immer noch hoch im Kurs stand und steht, wurden in Deutschland beispielsweise Straßenzeitungen ins Leben gerufen, die Obdachlose gegen ein geringes Entgelt verkaufen konnten und darin auch selbst zu Wort kommen.
Im Gegensatz zu anderen lange Zeit benachteiligten Gruppen wie Frauen, Homosexuellen und Menschen mit Behinderung reihten sich Obdachlose nicht in eine der neuen sozialen Bewegungen ein.
Eingeleitet durch die beschriebenen Wandlungsprozesse kann in der Bundesrepublik – nach einer Phase, die eher an Traditionen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik anknüpfte – eine langsame Hinwendung zur fürsorgepraktischen "Hilfe zur Selbsthilfe" konstatiert werden. Der einzelne Obdachlose mit seinen individuellen Problemen rückte stärker in den Vordergrund. Dennoch blieben Ursachen auf der Makroebene wie Konjunkturschwankungen, städtische Wohnungspolitik auf der Mesoebene sowie der Verlust des sozialen Bezugsrahmens, etwa durch Schicksalsschläge, Trennungen oder schwierige Familienverhältnisse, auf der Mikroebene bestehen. Diese Kontinuitäten stehen inkludierenden Fürsorgemaßnahmen zur Seite und erklären das Weiterbestehen von Obdachlosigkeit in der Wohlstandsgesellschaft zumindest in Teilen.
Fazit
Bis heute ist es nicht gelungen, Obdachlosigkeit zu verhindern. Dennoch vermittelt eine Geschichte der Obdachlosigkeit in Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts den Eindruck, dass Fürsorgeverantwortliche entsprechend ihrer zeitspezifischen Prägungen stets um Inklusion bemüht waren – mit Ausnahme der Zeit des Nationalsozialismus. Die Intentionen der Verantwortlichen können aber keinesfalls mit einer Erfolgsgeschichte gleichgesetzt werden, wie ein Blick in die Ergebnisse zu den einzelnen Abschnitten zeigt.
Mit dem beginnenden Sozialstaat im Kaiserreich nahmen Interventionen in der Obdachlosenfürsorge zu, die auch exkludierende Elemente aufwiesen. In der Weimarer Republik übernahm der Staat noch stärker Verantwortung für obdachlose Menschen, ihnen ging es aufgrund ihrer Anzahl, der Arbeitsmarktlage und den überfüllten Einrichtungen jedoch im Großen und Ganzen schlechter. In der NS-Zeit hingegen deckte sich der sozialrassistische Exklusionswille mit den Verfolgungs- und Tötungspraktiken. Nach 1945 griffen die Verantwortlichen zunächst auf exkludierende Vorstellungswelten und Fürsorgesysteme zurück – und dies nicht nur im repressiven DDR-Staat, sondern auch im demokratischen Westdeutschland. Erst der Wandel in den 1960er Jahren ließ stärker als je zuvor inkludierende Absichten erkennen.
Die Handlungen obdachloser Menschen in der Vergangenheit sind aufgrund der Quellenlage meist nur in der Interaktion mit Fürsorgeakteuren greifbar, in ihnen zeigt sich allerdings eine Kontinuität. Immer wieder versuchten Obdachlose, ihre Handlungsspielräume auszudehnen, womit sie Regeln und Erwartungshaltungen der Fürsorgeakteure infrage stellten – wenn auch in engen Grenzen. Insofern ist eine Geschichte der Obdachlosigkeit im Untersuchungszeitraum von Wellenbewegungen der In- und Exklusion gekennzeichnet, die stets verwoben waren mit eigensinnigen Handlungen der Betroffenen selbst.