I. PISA - ein lehrreiches Desaster?
"Halbtagsschule in Deutschland" - dies ist ein Thema, das noch vor einigen Jahren höchstens bei einigen Reformpädagogen und Frauenforscherinnen, vielleicht dem Familienministerium und vermutlich einigen erwerbstätigen Müttern Interesse gefunden hätte. Vor allem in den achtziger Jahren erschien das Thema Halbtagsschule mit dem dazugehörigen Gegenmodell der Ganztagsschule ideologisch belastet und allenfalls in randständigen politischen und wissenschaftlichen Diskursen relevant. Auch ein Blick über die Grenzen - gar mit der Absicht, von den europäischen Nachbarn zu lernen - war in der "alten" Bundesrepublik, die sich im Hinblick auf Bildung, Arbeits- und Sozialpolitik als "Modell Deutschland" selbst genug war, nicht sehr verbreitet.
Anfang der neunziger Jahre kam mit der Wiedervereinigung eine gewisse Bewegung in die Diskussion, zeigten doch die Probleme bei der Transformation des Erziehungssystems der DDR, dass die Ganztagserziehung Ost möglicherweise nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile gehabt hatte. Vor allem aber lässt die Ende 2001 veröffentliche internationale Schulstudie PISA die deutsche Halbtagsschule in einem anderen Licht erscheinen - und zwar nicht etwa in zukunftsweisendem hellen Glanz, sondern eher in rückständigem Schein.
Die Ergebnisse der PISA-Studie für Deutschland sind alarmierend: In allen drei in der Studie getesteten Kompetenzbereichen (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften) schneiden deutsche Schüler und Schülerinnen mit einem Platz im unteren Drittel im Ländervergleich schlecht ab; nur Länder wie Russland, Portugal und Brasilien liegen in der Rangfolge dahinter. Weiter legt PISA offen, dass unser Schulsystem extrem ungerecht ist; in keinem vergleichbaren Land (auch nicht, wie viele vermutet hätten, in den USA oder Irland) bestimmt die soziale Herkunft so stark den Schulerfolg wie in Deutschland. Auch mögliche Ursachen für die Leistungsunterschiede werden untersucht. Und hier, so die Schlussfolgerungen aus der Studie, schneiden Länder mit Ganztagsschulsystemen, die Unterricht und Freizeitgestaltung verbinden und nicht nur der Leistung, sondern auch dem Sozialverhalten eine hohe Bedeutung beimessen, deutlich besser ab als diejenigen, die wie Deutschland Schule auf wenige Stunden Unterricht am Vormittag konzentrieren, Leistung in den Vordergrund stellen und ausschließlich in homogenen Lerngruppen arbeiten.
In der Interpretation dieser Befunde herrscht eine gewisse Einigkeit: Nicht nur nach Meinung von Eltern, Lehrern und der Medienöffentlichkeit, sondern auch nach Ansicht der deutschen Kultusminister legt PISA gewisse Schwächen unseres Bildungssystems bloß. Die Auffassungen über Reformmaßnahmen gehen dann freilich im Einzelnen sehr auseinander. Zumindest in einem Punkt scheinen Politiker aller Couleur jedoch einig: nämlich in der Orientierung auf die Ganztagsschule.
In der Tat legen die Ergebnisse von PISA nahe, dass sich der Ganztagsschulbetrieb von Halbtagsschulen nicht nur in der Frage der in der Schule verbrachten Zeit unterscheidet, sondern mit weiteren vorteilhaften Strukturmerkmalen einhergeht: So sind Ganztagsschulsysteme in der Regel weniger selektiv, d. h., sie kennen weder "Sitzenbleiben" noch frühe und dauerhafte Kanalisierungen der Schüler in unterschiedliche Schultypen. Weiter, so wissen wir aus der ländervergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, weisen Länder mit Ganztagsschulsystemen höhere Frauenerwerbsquoten auf.
Wenn also nun die Diskussion um die Halbtagsschule neu eröffnet und der Handlungsbedarf unumstritten ist, was spricht dann gegen zügige Reformen? Tatsächlich sind Reformen in diesem Feld aus verschiedenen Gründen nicht so einfach zu bewerkstelligen. Nicht nur, weil die aktuelle Einigkeit im Hinblick auf die Ganztagsschule möglicherweise mehr von wahltaktischen Erwägungen als von nachhaltigem Reformwillen getragen ist. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Halbtagsschule in Deutschland eine vergleichsweise lange historische Tradition hat. Forderungen nach Einführung von Ganztagsschulsystemen hat es schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben, in den Reformpädagogikbewegungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik wie auch in der Gesamtschulbewegung in den fünfziger und sechziger Jahren der alten Bundesrepublik. Diese Reforminitiativen konnten sich nie flächendeckend durchsetzen, und dies, so die hier vertretene These, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Halbtagsschulsystem in Deutschland eng mit weiteren Strukturmerkmalen des deutschen Sozialstaats verknüpft ist, die bisher nicht nachhaltig in Frage gestellt wurden. Dies sind erstens die politisch getrennten Zuständigkeiten für Kinderbetreuung und Bildung, zweitens der verfassungsrechtlich festgelegte Vorrang der Familie bei der Kindererziehung, drittens die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und viertens die unterschiedlichen Professionalisierungsgrade und Statusdifferenzen zwischen den Berufsgruppen der Lehrer und der Erzieher (vgl. die Abb.).
Das Halbtagsschulsystem in Deutschland ist sozusagen zentraler Bestandteil einer soziopolitischen und soziokulturellen Gesamtkonstellation, die sich vom Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts bis in das wieder vereinigte Deutschland zum Ende des 20. Jahrhunderts fortgesetzt hat.
II. Ein Blick zurück: Die historische Verankerung der Halbtagsschule im konservativen deutschen Sozialmodell
1. Die Unterrichtsschule als Ausgangspunkt
Betrachtet man die historische Entwicklung des allgemein bildenden Schulwesens in Deutschland, so fällt auf, dass in Deutschland, wie in anderen Ländern auch, im 19. Jahrhundert zunächst eine ganztätige Organisation der Volksschulen - allerdings mit ausschließlicher Ausrichtung auf Unterricht - üblich war. Unterrichtet wurde vormittags von 8 bis 12 Uhr und nachmittags von 14 bis 16 Uhr, mit einer Mittagspause, in der Lehrer und Schüler zum Mittagessen nach Hause gingen. Dies entsprach der Zeiteinteilung in der Arbeitswelt, insbesondere des Handwerks. Die uns heute geläufige Vormittagsschule setzte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunächst im höheren Schulwesen, dann auch in den Volksschulen durch.
Maßgebliche Gründe für die Ablösung der ursprünglichen Ganztagsschule mit geteiltem Unterricht waren im Bereich der Volksschule die "Rücksicht" auf die damals noch übliche Kinderarbeit und die wegen Klassenüberfüllung erforderliche Einführung von Schichtunterricht. Im höheren Schulwesen spielten dagegen eher die langen Wegzeiten eine Rolle wie auch das von Medizinern vorgebrachte Argument, die Schüler seien mit Vor- und Nachmittagsunterricht überfordert. Diese neu entstandene Halbtagsschule, die wie die alte Ganztagsschule eine reine Unterrichtsschule war, wurde auch in Polen und Österreich übernommen. In anderen Ländern - wie den USA und England, aber auch in Frankreich - kam es dagegen zu einer anderen Entwicklung. Hier wurde nämlich die ganztätige Schulorganisation beibehalten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich in eine moderne Ganztagsschule umgewandelt.
Die deutsche Halbtagsschule ist freilich auch im eigenen Lande nicht ohne Kritik geblieben. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik entstanden zahlreiche Reformbewegungen (vgl. z. B. das Modell der "Arbeitsschule" von Kerschensteiner oder der "Tagesheimschule" von Harless vom "Bund der Entschiedenen Schulreformer"), die sich zum Teil am Vorbild der angelsächsischen Gesamtschulen orientierten. Bei aller Unterschiedlichkeit der Reformbewegungen war ihnen eine Orientierung an ganzheitlicher Menschenbildung gemeinsam. Sie strebten Schulen an, die neben Mittagsmahlzeit und Freizeitangeboten vor allem auch durch eine flexible Stundenplangestaltung, eine Öffnung der Schule zum "Leben" und eine gewisse Schulautonomie und Schülerselbstverantwortung charakterisiert sein sollten. Gleichwohl sind diese Reforminitiativen über einzelne Modellschulen hinaus nicht erfolgreich gewesen.
2. Die Dreigliedrigkeit des allgemein bildenden Schulsystems
So wurde mit der Verallgemeinerung der Halbtagsschule in Deutschland zugleich auch eine sozial wirksame Gliederung des Schulsystems eingeführt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts existierte in Abgrenzung zur Volksbildung ein höheres Bildungswesen; als Berechtigungssystem ausgestaltet, diente es als Rekrutierungsfeld für Verwaltungslaufbahnen in der staatlichen Bürokratie. Diese Struktur wurde sukzessive in eine Dreigliedrigkeit überführt, indem das bestehende, vergleichsweise pluralistische und durchlässige Sekundarschulwesen bis zum Ende der Weimarer Republik in ganz Deutschland vereinheitlicht und hierarchisiert wurde. Damit entstanden zugleich verbindliche Definitionen von Schulabschlüssen und Zugangsberechtigungen zu weiterführenden Schulen.
Zwar hatte Deutschland (neben Frankreich) im 19. Jahrhundert mit einer relativ frühen Durchsetzung von Schulpflicht im Grundschulbereich und einem durchlässigen Sekundarschulwesen zunächst eine Vorreiterrolle in der Etablierung und Öffnung von öffentlicher Bildung in Europa gespielt. Ende des 19. Jahrhunderts setzte jedoch im Verhältnis zur rasch steigenden Bildungsnachfrage, vor allem im Hinblick auf die höhere Bildung, ein Schließungseffekt ein. Insbesondere Gymnasien, die zunächst Gesamtschulcharakter trugen, wurden u. a. über die Erhebung von Schulgeld zu Eliteeinrichtungen. Das aufstiegsorientierte Kleinbürgertum duldete diese Schließungseffekte nicht zuletzt aus einer politisch geschürten Angst vor einem "akademischen Proletariat". Auch Widerständen von Seiten der Unterschichten bzw. der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie konnte begegnet werden: mit der Einführung der Sozialversicherung wie auch mit der Etablierung von Facharbeiterausbildung,
Die Dreigliedrigkeit des allgemein bildenden Schulwesens bewirkte eine faktisch sehr frühe Sortierung der Schüler, die bereits nach dem Primarbereich einsetzte und aufgrund der geringen Durchlässigkeit der Schultypen gleichsam irreversibel war. Darüber hinaus strukturierte sie auch den Zugang zum Arbeitsmarkt, indem die Zertifikate im unteren und mittleren Bildungsbereich zumindest für die männlichen Jugendlichen zu standardisierten Eintrittsqualifikationen für betriebliche Berufsausbildungen und Arbeitsplätze im industriellen Sektor wurden. Dabei setzte sich in Deutschland - wesentlich gefördert durch eine staatliche Mittelstandspolitik, anders als in England, Frankreich und den USA - mit der dualen Berufsausbildung ein an der handwerklichen Meisterlehre orientierter Ausbildungstypus durch. Er verband eine praktische Ausbildung in einem privaten Betrieb mit einem obligatorischen Besuch von zunächst noch privaten, später durchweg öffentlichen Berufsschulen. Demgegenüber entwickelten die Bildungssysteme anderer Länder eine höhere Durchlässigkeit zwischen Allgemein- und Berufsbildung einschließlich geringer strukturierter Formen der Berufsausbildung.
Von den genannten Vorteilen eines geregelten Übergangs von der allgemein bildenden Schule in eine betriebliche Berufsausbildung konnten weibliche Jugendliche nicht in gleichem Maß profitieren.
Zusammenfassend kann man zur Dreigliedrigkeit des deutschen Schulwesens sagen, dass sie eine soziale Sortierung bewirkt, die sich über die Abkoppelung von höheren Berufslaufbahnen und die Trennung von dualer und vollzeitschulischer Berufsausbildung fortsetzt und damit zu einer langzeitwirksamen Ungleichheit sowohl zwischen Schichten wie auch zwischen den Geschlechtern führte. In historischer Perspektive ist daher auch die Funktion der Herstellung von Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem geringer ausgeprägt als etwa in den USA, wo das Bildungswesen seit seiner Entstehung durchlässiger ist und Schulabschlüsse die Position im Arbeitsmarkt nicht so stark vorstrukturieren.
3. Kindererziehung als vorrangige Aufgabe der Familie
Das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etablierte Halbtagsschulsystem hat nicht nur Folgewirkungen für den Arbeitsmarkt, sondern vor allem auch für die Familie. Denn die Halbtagsschule enthielt keine Mittagsverpflegung. Darüber hinaus bedeutete die Konzeption eines auf wenige Stunden begrenzten Schulunterrichts, dass hier die Stoffvermittlung im Vordergrund stand und ergänzende Übungen in Form von Hausaufgaben außerhalb der Schule erfolgen mussten. Die Halbtagsschule setzt also die nicht-erwerbstätige Hausfrau und Mutter voraus, die mittags für eine warme Mahlzeit sorgt und sich um die Hausaufgaben kümmert; sie impliziert weiter, dass es einen Ehemann und Vater gibt, der einen für die Familie ausreichenden Lohn nach Hause bringt. Tatsächlich aber kam in Kaiserreich und Weimarer Republik nur eine Minderheit von Familien diesem Ideal nahe; es wurde erst mit dem Ausbau des Sozialstaats und dem Wirtschaftswachstum der fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik zu einem dominanten Modell. Allerdings gab es in Kaiserreich und Weimarer Republik starke politische Impulse, das Modell "Nur-Hausfrau und männlicher Familienernährer" dauerhaft zu etablieren. So kämpfte die Arbeiterbewegung für einen Familienlohn und gegen Frauenerwerbstätigkeit. Der Staat ebenso wie die Kirchen und Wohlfahrtsverbände postulierten, dass Kindererziehung vorrangig Aufgabe der Familie sei.
Dementsprechend war das Angebot an öffentlicher Betreuung für Kleinkinder wie Schulkinder, das in Deutschland - wie in den meisten anderen europäischen Ländern - im Verlauf des 19. Jahrhunderts überwiegend auf Initiative privater Wohltätigkeitsvereine entstand, eher gering. Dabei standen sich zwei konträre Richtungen gegenüber: Zum einen gab es das aus karitativen Gründen geschaffene Angebot ganztätig organisierter Kindertagesheime für Arbeiterkinder, die während der Erwerbstätigkeit ihrer Mütter (in der Landwirtschaft, als Dienstbotinnen oder in der Fabrik) versorgt und so vor "sitten- und gesellschaftszersetzender Verwahrlosung" geschützt werden sollten. Auf der anderen Seite stand das pädagogisch motivierte Angebot an Fröbel'schen Halbtagskindergärten, die als familienergänzende Bildungseinrichtungen konzipiert waren und vor allem von Bürgerkindern besucht wurden.
Von den bürgerlichen Schichten wie auch von der Arbeiterbewegung wurden die erstgenannten sog. Kinderbewahranstalten freilich nur als sozialer Notbehelf für die auf Erwerbsarbeit angewiesenen Ehefrauen und Mütter der Unterschichten akzeptiert. Als erstrebenswert galt das bürgerliche Modell eines männlichen Familienernährers und einer weiblichen Hausfrau, verknüpft mit der Vorstellung, dass die Mutter die bestmögliche Erzieherin ihrer Kinder sei und von daher ins Haus gehöre. Auch die bürgerliche Frauenbewegung, deren Protagonistinnen sich ja in der Kinderfürsorge engagierten und hier Erwerbsmöglichkeiten für gebildete Frauen schufen, teilte die Vorstellung von der Mutter als "bester Erzieherin".
Die Vorstellung, dass für die Erziehung vorrangig die Familie zuständig sei und der Staat hier nur im Notfall ergänzend eingreifen sollte, fand also in Deutschland, anders als etwa in Frankreich, breite gesellschaftliche Zustimmung. Politischen Ausdruck fand diese Aufgabenteilung in der Weimarer Verfassung, die Erziehung als "oberste Pflicht" und "natürliches Recht" der Eltern festschrieb. Entsprechend wurde in dem seit 1924 gültigen Reichsjugendwohlfahrtsgesetz für die Jugendfürsorge das Subsidiaritätsprinzip verankert und die Verantwortung für außerschulische öffentliche Erziehung im Vor- und Grundschulbereich den kommunalen Jugendämtern übertragen.
4. Die Trennung von Bildung und Erziehung: Folgen für die Berufsstruktur
Die Verantwortung für die Kindererziehung lag also in Deutschland vorrangig bei der Familie. Eine umfassende staatliche Verantwortung setzte erst bei der Schulbildung ein und beinhaltete hier über die Organisation als Halbtagsschule einen "reinen", d. h. von Betreuung und Erziehung befreiten Bildungsauftrag. Diese Trennung von Bildung und Erziehung schlug sich nicht nur in unterschiedlichen bundespolitischen Ressortzuständigkeiten für Bildung und Wissenschaft einerseits, Erziehung und Soziales andererseits sowie einem eher geringen Ausbau sozialer und haushaltsbezogener Dienstleistungen nieder.
Die Verortung der Kindererziehung in der Familie und als mütterliche Aufgabe hat darüber hinaus zu einer nur halbherzigen Verberuflichung von Erziehungsarbeit geführt. Die Ausbildung von Kindergärtnerinnen erfolgt von Anfang an über ein schulisches System. Fachschulische Ausbildungen, die sich i. d. R. in der Kulturhoheit der Länder befinden, sind jedoch im Unterschied zu Ausbildungen im dualen System nicht nur mit Kosten verbunden, sondern bieten auch, anders als die bundeseinheitlich geregelten Facharbeiterausbildungen, weder einen Qualifikationsschutz noch geregelte Aufstiegswege.
Es gibt bis heute keine einheitlichen Qualitätsstandards für die Arbeit mit Kindern im Vorschulalter; eine wissenschaftliche Fundierung in Form von Frühpädagogik, wie sie sich in anderen Ländern entwickelt hat, fehlt in Westdeutschland weitgehend.
Als Zwischenfazit zur historischen Entwicklung lässt sich also festhalten, dass Deutschland bzw. Preußen im 19. Jahrhundert mit dem systematischen Aufbau von Schulbildung und einer frühen Einführung der Schulpflicht zwar zunächst eine Vorreiterrolle in Europa übernahmen. Mit der Einführung des Halbtagsschulsystems und der Durchsetzung einer wenig durchlässigen dreigliedrigen Schulstruktur beschritt Deutschland dann in Kaiserreich und Weimarer Republik jedoch einen Weg, der nur von wenigen Nachbarländern (Polen, Österreich) geteilt wurde. Auch die damit einhergehende strikte Trennung von Bildung und Erziehung mit der Folge einer nur geringen Verbreitung und defizitären Professionalisierung von Erziehungstätigkeit stellt eine deutsche Besonderheit dar. Insbesondere die angloamerikanischen Länder und Frankreich stellten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Weichen für eine Integration von Vorschulerziehung und Grundschulbildung durch ein frühes Einschulungsalter und/oder öffentliche Angebote für ganztägige Kinderbetreuung bzw. eine Ganztagsschulorganisation.
Was ist nun aus diesem historischen Erbe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden?
III. Herausforderungen und Reformen in der Bundesrepublik
1. Bildungsreformdiskussion und Bildungsexpansion in der alten Bundesrepublik
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Westdeutschland institutionell und kulturell an die Weimarer Tradition angeknüpft. Die Trennung von schulischer Bildung und familialer Erziehung, ergänzt um ein begrenztes Angebot vorschulischer und außerschulischer Betreuung, wurde aufrechterhalten. Die Ablehnung von außerfamilialer institutionalisierter Erziehung erschien auch aufgrund der spezifischen zeitgeschichtlichen Konstellation nahe liegend: als Abgrenzung zum Nationalsozialismus, der über einen Ausbau öffentlicher Erziehung Kinder und Jugendliche zu instrumentalisieren suchte, wie auch als Abgrenzung zur neu gegründeten DDR. Hier wurde unter ökonomischen wie bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten, orientiert am sowjetischen Modell eines zentral gelenkten sozialistischen Wohlfahrtsregimes, über Krippen und Kindertageseinrichtungen ein flächendeckendes und einheitliches System staatlicher Kinderbetreuung etabliert. Auch Schulkinder wurden über die Verbindung von Schule und Hort ganztätig "versorgt". Zugleich wurde die überkommene institutionelle Trennung von Jugendhilfe und Bildung aufgehoben und die Jugendfürsorge in das Ressort Volksbildung integriert. Damit erfuhr die Jugendhilfe eine stärkere pädagogische Ausrichtung. Parallel dazu wurde der kulturelle Einfluss der Kirchen auf die öffentliche Erziehung stark reduziert.
Nachhaltige Impulse zur Veränderung im Schulbereich wie auch bei der Betreuung gab es erst in den sechziger Jahren. Bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre setzte eine intensive öffentliche Diskussion um Formen ganztätiger Schulerziehung ein und wurden reformpädagogische Konzepte aus der Weimarer Republik, wie die sog. Tagesheimschule, wieder aufgegriffen. Standen hier noch pädagogische Erwägungen im Vordergrund, so gewannen in den sechziger Jahren Argumente - wie ein erhöhter Betreuungsbedarf durch die zunehmende Erwerbstätigkeit von Müttern und die Realisierung von mehr Chancengleichheit - an Bedeutung. Dabei erschien die Gesamtschule mit Ganztagscharakter, die ursprünglich wegen ihrer Nähe zum sozialistischen Gesellschaftsmodell heftig abgelehnt worden war, als ideale Lösung.
1968 verabschiedete der Deutsche Bildungsrat Empfehlungen zur Erprobung von Gesamtschulen. Dies passte in die bildungspolitische Landschaft, in der - ausgelöst u. a. durch eine Artikelserie von Georg Picht unter dem Titel "Die deutsche Bildungskatastrophe" - ohnehin eine Expansion vor allem des höheren Schulwesens gefordert wurde. Picht hatte argumentiert, dass das Bildungsniveau deutscher Schüler geringer sei als das in vergleichbaren Industrieländern; dass das deutsche Bildungssystem sozial selektiv sei und die Begabungsreserven unterer Schichten nicht ausschöpfe sowie auch das Niveau der Bildungsausgaben in Westdeutschland international nicht konkurrenzfähig sei.
Unbestritten hat die Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre zu einer erheblichen Anhebung des Allgemeinbildungsniveaus der jüngeren Generationen geführt: Die Pflichtschulzeit wurde bis zum 10. Schuljahr verlängert, breite Schülerströme wurden auf mittlere Schulabschlüsse gelenkt und der Bereich des höheren Schulwesens einschließlich der Hochschulbildung wurde enorm ausgebaut.
Im Hinblick auf den Abbau schichtspezifischer Ungleichheit (bei Jungen wie bei Mädchen) war die Bildungsreform freilich weniger erfolgreich. Parallel zum generellen upgrading bleiben herkunftsbezogene soziale Differenzen bestehen. Vor allem aber kennt die Bildungsexpansion nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Dies sind die Jugendlichen, die das Bildungssystem ohne Schul- und Ausbildungsabschluss verlassen und die man als "Bildungsarme" bezeichnen kann. Deren Zahl ist beträchtlich: 1996 betrug der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in den alten Bundesländern im Durchschnitt neun Prozent.
Dabei sind die neuen Benachteiligten vor allem Kinder der Arbeitsemigranten.
Wie international vergleichende Studien zeigen, schneidet das deutsche Schulsystem auch im Hinblick auf soziales und politisches Lernen nicht gut ab. Vermutet wird, dass das Halbtagsschulsystem die Bereitschaft von Schülern und Schülerinnen zu politischem und sozialem Engagement weniger fördert als Ganztagsschulsysteme und dies auch durch die in Deutschland verbreiteten vielfältigen freiwilligen Gruppenaktivitäten von Jugendlichen am Nachmittag nicht wesentlich korrigiert wird, zumal sich diese stark im Bereich traditioneller kultureller Freizeitaktivitäten konzentrieren (Sport, künstlerische Betätigung).
Fragt man schließlich neben Folgen der Bildungsausweitung auch nach dem Schicksal der Bildungsreform in Form der Gesamtschulentwicklung, so ist auch hier die Bilanz gemischt. Bis in die achtziger Jahre wurden in Westdeutschland ca. 300 Ganztagsschulen im allgemein bildenden Schulwesen eingerichtet. Diese Größenordnung bleibt weit hinter den ursprünglich im Bildungsgesamtplan von 1973 avisierten Zielgrößen von einem Anteil von 15-30 Prozent zurück; allenfalls Berlin und Nordrhein-Westfalen erreichen bei den Gesamtschulen mit Ganztagscharakter einen Anteil von über zehn Prozent.
2. Nach der Wiedervereinigung: Probleme und Handlungsbedarf im Bereich der Kinderbetreuung
Das politische Desinteresse und die relative Abwertung der Gesamtschulen korrespondieren freilich nicht mit einer generellen Ablehnung von Ganztagsbetreuung durch die Eltern. Hier zeigt sich vielmehr seit den sechziger Jahren, dass westdeutsche Eltern von Grund- und Hauptschulkindern sowohl ganztägige Betreuung als auch Elemente wie das Mittagessen und den Wegfall von Hausaufgaben als Vorteile dieser Schulform ansehen. Repräsentative Studien aus den achtziger und neunziger Jahren belegen eine gleichbleibende und vergleichsweise hohe Akzeptanz von verlässlichen pädagogischen Betreuungsangeboten für Schulkinder über die Halbtagsschule hinaus.
Hinzu kommt, dass über steigende Frauenerwerbstätigkeit und veränderte private Lebensformen auch objektiv der Bedarf an öffentlichen Erziehungsangeboten gestiegen ist. Zwar ist die Familie nicht, wie vielfach dramatisierend behauptet, von Erosion bedroht; vielmehr haben Partnerschaft wie auch Elternschaft Bestand und erfüllen nach wie vor wichtige sozialisatorische Funktionen für Kinder. Aber das Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen findet heute in vielfältigeren Formen statt: in Ein-Eltern-Familien, mit nichtleiblichen Eltern, als Einzelkind und in einem sozialen Umfeld, in dem Haushalte mit Kindern eher in der Minderheit sind. Private und nachbarschaftliche Netzwerke sind nicht mehr in allen Lebenslagen selbstverständlich verfügbar. Hinzu kommt, dass sich durch Arbeitslosigkeit und eine einseitig eheorientierte Ausrichtung von Steuersystem und staatlichen Sozialleistungen die finanzielle Lage von Haushalten mit Kindern im Vergleich zu Haushalten ohne Kinder bekanntlich deutlich verschlechtert hat.
So richtig in das politische Bewusstsein ist das westdeutsche Defizit an ganztätiger Betreuung von Schul- wie von Kleinkindern jedoch erst mit der Wiedervereinigung gerückt. Die unterschiedliche Ausgangslage in Ost und West sowie die hohe Akzeptanz öffentlicher Erziehung in der Bevölkerung der DDR erlaubte im Bereich der Kinderbetreuung keine einfache Anpassung an die westlichen Verhältnisse; eher wurde im wieder vereinigten Deutschland in den neunziger Jahren über verschiedene zaghafte Reformen eine allmähliche Annäherung versucht:
- So betont das 1991 novellierte Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG) neben der Betreuungsfunktion auch die Bildungsfunktion der öffentlichen Tagesbetreuung; erstmals wird hier ein bedarfsgerechtes Versorgungsangebot auch für Kinder im Krippen- und Schulalter gefordert. Allerdings gibt es keine verbindliche Definition der Bedarfsgerechtigkeit und es bleibt angesichts des Fehlens von landesgesetzlichen Regelungen dem Ermessen und finanziellen Rahmen der örtlichen Jugendhilfeträger überlassen, inwieweit diese Anforderung eingelöst wird.
- Mit dem Rechtsanspruch auf einen Halbtagskindergartenplatz von 1996 (vgl. § 24 KJHG)
- Auch im Bereich der Schule, und hier insbesondere im Primarbereich, zeichnen sich seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gewisse Reformen ab. Über die sog. vollen Halbtagsschulen soll eine verlässliche Betreuung der Grundschüler zumindest in dem Zeitraum von 8 bis 13 Uhr gewährleistet werden. Freilich sind diese Veränderungen bisher länderspezifisch sehr unterschiedlich weit fortgeschritten und bleiben zum Teil in Ansätzen stecken, weil sie die Möglichkeiten einer gezielten Verbindung von Hort und Schule wie auch Synergiepotenziale mit weiteren Trägern von Jugendarbeit, wie etwa den Sportvereinen und Jugendzentren, in der Regel nicht systematisch in Betracht ziehen. Groß ist anscheinend mancherorts auch die Versuchung angesichts leerer Länder- und Gemeindekassen, die Reform kostenneutral zu realisieren. Dann entsteht, wie schon beim Ausbau der Kindergartenplätze, ein konkurrierender Verschiebebahnhof, in dem vorhandene Hortkapazitäten und besondere Betreuungsangebote in sozialen Brennpunkten zugunsten der flächendeckenden Halbtagsschuleinrichtung finanziell und personell ausgedünnt werden.
3. Politisch-institutionelle und professionelle Herausforderungen
Tatsächlich zeigen die bisherigen Erfahrungen mit vollen Halbtagsschulen, dass hier Chancen für eine allmähliche Integration von Erziehung und Bildung wie auch für einen Übergang zur Ganztagsbetreuung für Vorschul- und Schulkinder liegen. Allerdings ist ein solcher Weg in Deutschland nicht einfach. Er bedeutet - bezogen auf die historische Tradition - ein Umsteuern, und er ist nicht als kurzfristige, wahltaktisch gut zu verkaufende und gar noch kostenneutrale Reformmaßnahme zu haben. Eher ist davon auszugehen, dass hier ein neuer, breiter gesellschaftlicher Konsens notwendig ist, der öffentlicher Erziehung mittelfristig Prioritäten vor anderen Zielen einräumt. Dabei geht es zum einen um die Finanzierung: In der Tat kostet Ganztagsbetreuung mehr Geld als das Halbtagsschulsystem. Spielte dies in der politischen Diskussion um Ganztagsschulen in den sechziger Jahren angesichts der ökonomischen Prosperität kaum eine Rolle, so fungiert es heute als ernst zu nehmendes Gegenargument. Allerdings hilft auch hier ein Blick über die Grenzen des Bildungsbereichs auf die gesamten Sozialausgaben ebenso wie ein Blick über die Ländergrenzen. Im OECD-Ländervergleich waren die Bildungsausgaben der Bundesrepublik (im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) bis in die achtziger Jahre überdurchschnittlich; in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre lagen sie mit 5,9 Prozent jedoch nur noch im Durchschnitt, und damit in Westeuropa deutlich hinter Ländern wie Frankreich (6,3 Prozent) und Schweden (6,7 Prozent).
Betrachtet man gleichzeitig die Gesamtstruktur des Sozialbudgets, so sieht man, dass die Bundesrepublik erhebliche Sozialbudgetleistungen mit eher geringem Zukunftsprofil (dazu gehört vor allem die Alterssicherung) mit vergleichsweise geringen zukunftsorientierten Leistungen (dazu gehört u. a. Bildung und Forschung) verbindet. Demgegenüber weisen Länder wie Kanada, Australien, Neuseeland und die USA zwar ein deutlich geringeres Sozialbudget auf, aber diese Budgets sind mit relativ hohen Ausgaben für Bildung und Forschung durch eine deutlich stärkere Zukunftsorientierung gekennzeichnet als der Sozialhaushalt der Bundesrepublik.
Eine weitere spezifische politische Herausforderung liegt in der Annäherung von Schule und Jugendhilfe. Beide Bereiche sind institutionell getrennt: Es gibt unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen, unterschiedliche Aufsichtsbehörden und Finanzierungsweisen, unterschiedliche Berufswege sowie nicht zuletzt auch unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzungen. Die hier historisch gewachsenen Konkurrenzen und Animositäten sind vermutlich nicht einfach durch den guten Willen der Beteiligten zu überwinden. Praktiker wie Experten fordern vielmehr bereits seit längerem eine Unterstützung durch institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen, die etwa den Bildungsauftrag der Schule in Richtung Erziehung erweitern und umgekehrt die bisherige Erziehertätigkeit durch fachwissenschaftliche Fundierung und die Einführung von curricularen Qualitätsstandards aufwerten.
Dabei kann die qualitative Heterogenität und chronische Unterausstattung im Bereich öffentlicher Erziehung vermutlich nur über eine nachhaltige bundeseinheitliche Finanzierung abgebaut werden. Auch wäre mit Blick auf andere Länder zu fragen, ob der Beamtenstatus für Lehrer weiterhin notwendig ist.
Auch die föderale Verfassung der Bundesrepublik wirft Probleme für eine nachhaltige und weitreichende Reform im Bildungsbereich, wie es der Übergang zur Ganztagsschule wäre, auf. Die Kulturhoheit der Länder hat hier in der Vergangenheit weniger zu einer Vereinheitlichung als vielmehr zu einer starken Differenzierung in der Verteilung der Schultypen und, wie manche vermuten, auch in der Qualität der Abschlüsse geführt. Dabei spielen neben der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder auch politisch-ideologische Präferenzen eine Rolle. Zu fragen wäre, ob es hier über eine stärkere Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes und eine Umverteilung der Finanzierungslasten, wie sie gegenwärtig ja auch für die Finanzierung der Kinderbetreuung im Gespräch ist, zu einer gewissen Einheitlichkeit kommen könnte. Immerhin hat die zuständige Bundesministerin auf der jüngsten Sitzung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) zugesagt, die Länder beim Ausbau der Ganztagsschulen zu unterstützen, und dafür für die kommenden vier Jahre vier Milliarden Euro in Aussicht gestellt.
Schließlich dürfte der Übergang zu einer Ganztagsbetreuung an deutschen Schulen auch insofern ein besonderes Gepräge haben, als es hier historisch gewachsen eine Vielzahl freier Träger für Erziehungsaufgaben und Freizeitgestaltung gibt, die in eine solche Neuorientierung eingebunden werden müssten, wenn man Synergiepotenziale nutzen will. Bisher fehlen weitgehend Konzepte, wie eine solche Einbindung aussehen könnte. Vor allem sind hier vermutlich vor Ort zunächst Kommunikationsstrukturen notwendig, die eine Verständigung der potenziellen Träger ermöglichen. Auch müsste hier ein neues Gleichgewicht zwischen bürgerschaftlichem Engagement und professioneller Arbeit gefunden werden. Mit der schlichten Indienstnahme von ehrenamtlicher Arbeit, so zeigen die bisher vorliegenden Untersuchungen, wird jedenfalls eine Orientierung auf Ganztagsschulen nicht zu realisieren sein. Immerhin liegen aus Rheinland-Pfalz Beispiele für Kooperationsvereinbarungen zwischen freien Trägern und Ganztagsschulen vor.
IV. Fazit: Gegen Kurzschlüsse in der aktuellen Diskussion - Plädoyer für ein erweitertes Verständnis von Bildung
Wir haben argumentiert, dass die Halbtagsschule als reine Unterrichtsschule in Deutschland seit gut hundert Jahren historisch verankert und bis heute im Sozialsystem und dem politischen System der Bundesrepublik fest "vertäut" ist. Gleichwohl gibt es gute Gründe, von diesem einmal eingeschlagenen Pfad abzuweichen. Denn nicht erst das schlechte Abschneiden deutscher Schüler und Schülerinnen in der PISA-Studie, auch weitere Gründe signalisieren, dass Deutschland hier im Vergleich zu anderen Ländern einen Modernisierungsrückstand hat: Dies sind der Wandel der Lebensformen, die erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen, die zunehmende Multikulturalität unserer Gesellschaft, die Angleichserfordernisse nach der Wiedervereinigung. Allerdings, so das hier vorgetragene Argument, bedarf eine solche Umorientierung struktureller Veränderungen in und zwischen verschiedenen Politikbereichen, einschließlich neuer Abstimmungen zwischen kommunaler, Länder- und Bundesebene. Sie eignet sich daher nicht für kurzfristige politische Erfolge.
In der aktuellen Diskussion erfolgt darüber hinaus der Ruf nach Reformen im Bereich von Bildung und Erziehung oft in einem verkürzten Interpretationshorizont. Im Vordergrund stehen nicht selten der wirtschaftliche Nutzen und der effiziente Einsatz von Bildungsressourcen. Wenn von der Befähigung durch Bildung die Rede ist, dann werden häufig im selben Atemzug Markt, Konkurrenz und der Standort Deutschland genannt. Anders gesagt: Bildung wird mit marktgängigem Wissen gleichgesetzt. Dabei geht freilich verloren, dass es eine grundsätzliche Differenz zwischen Ökonomie und Bildung, zwischen Geld und Geist, zwischen Marktprozessen und Lernprozessen gibt. Zwar ist es richtig, dass die Schule auf das Leben und damit auch auf die Behauptung auf dem Arbeitsmarkt vorbereiten soll; auch kann es sinnvoll sein, Arbeiten und Lernen näher aneinander zu rücken. Dennoch bleibt Bildung ein Lernprozess, in dem es um die Entwicklung von Persönlichkeit geht - und dies ist nicht vergleichbar mit einem Marktprozess, in dem man eine Dienstleistung erbringt. Es ist ja gerade ein Charakteristikum der Moderne und eine soziale Errungenschaft dazu, dass die Sphären der Erwerbsarbeit auf der einen und die der Bildung und des Lernens auf der anderen Seite unterschiedlichen Prinzipien folgen und in der Regel räumlich, zeitlich und institutionell getrennt sind.
Nicht nur ökonomische und soziale Gründe sprechen dafür, bei dieser Trennung und zugleich auch bei einer öffentlichen Verantwortung für Bildung und Erziehung zu bleiben. Denn öffentliche Erziehung erfüllt nicht nur die Aufgabe, die Arbeitskräfte von morgen, sondern auch die Väter und Mütter, die Bürger und Bürgerinnen von morgen auszubilden. Eine demokratische Gesellschaft ist in Zeiten enger Verteilungsspielräume und großer sozialer Spannungen nicht nur auf "Menschen als Humankapital", sondern auch auf "Menschen, die zu Gemeinschaft und Solidarität fähig" sind, angewiesen. Was wir brauchen, ist daher weniger eine Vermarktlichung der Bildung als vielmehr eine "bildungsgesättigte" Marktgestaltung, d. h. eine Gestaltung von Gesellschaft, die an gleichen Teilhabechancen und an Verständigung orientiert ist.