Einleitung
Im Frühjahr 2002 wurden im indischen Bundesstaat Gujarat 2000 Menschen bei kommunalistischen, d. h. sich über Gruppenidentitäten definierende Ausschreitungen ermordet. Fast alle, die starben, waren Muslime, und die Zahl der Toten liegt wahrscheinlich viel höher als die offiziellen Schätzungen. Drei Tage hatte der Ministerpräsident von Gujarat, Narendra Modi, der "verständlichen Wut" der Hindus gegeben. Zwei Monate wütete die Gewalt, unterstützt von der Polizei, gerechtfertigt von führenden Politikern Indiens.
Die Ausschreitungen gegen die Muslime in Gujarat galten als "Reaktion" auf den Brand in einem Zug, bei dem 57 "Freiwillige" (kar sevaks) der hindu-nationalistischen Organisation VHP (Vishwa Hindu Parishad - Welthindurat) umkamen. Obwohl eine forensische Kommission feststellte, dass das Feuer wohl innerhalb des Zuges ausbrach und nicht von außen gelegt wurde, gilt der Brand noch immer als Rechtfertigung für eine Welle der Gewalt, die den letzten Höhepunkt in einem sich seit Jahren an Brutalität steigernden Konflikt bildet.
Der Zug der Freiwilligen kam aus Ayodhya, der Stadt, in der nach dem Willen der VHP ein Tempel für den Gott Ram gebaut werden soll. Dort stand bis vor einigen Jahren die Babri Moschee, von der heute nur noch einige Trümmer übrig sind. Denn am 6. Dezember 1992 hatten 300 000 Freiwillige, die dem Aufruf der VHP und einiger Politiker wie z. B. des gegenwärtigen Innenministers und Vize-Premiers Advani gefolgt waren, die Moschee dem Erdboden gleichgemacht. Die hindu-nationalistischen Organisationen beanspruchten das Land, von dem sie behaupten, es sei der Geburtsort Rams. Die Zerstörung der Moschee hat die bis dahin schwersten kommunalistischen Unruhen in Indien seit der Unabhängigkeit 1947 ausgelöst. Auch damals waren die meisten Toten Muslime.
Der Streit um das Land in Ayodhya schwelt seit Jahrzehnten. Das Oberste Gericht hat inzwischen jegliche religiösen Aktivitäten auf dem Gelände untersagt, bis gerichtlich geklärt ist, wem das Land rechtmäßig gehört. Die VHP behauptet jedoch, der Streit um das Land sei nicht gerichtlich zu entscheiden, denn hier ginge es um tiefste religiöse Gefühle, und was Sache des Glaubens sei, könne nicht verhandelt werden. Der Glaube, dass der Gott dort geboren wurde, heiligt den Ort. Und er heiligte das Anliegen, die Moschee zu zerstören. Wie so oft wird ein Stück Land - also ein eigentlich teilbares Gut - sakralisiert, das heißt zum Symbol eines angeblich unteilbaren Wertes.
Freilich ist es nicht so, dass es Unverhandelbares und Unteilbares einfach gibt. Der Blick auf zahlreiche Konfliktverläufe, auf den in Indien ebenso wie den in Jugoslawien oder Nordirland, zeigt auch das Gegenteil: Nicht die Unverhandelbarkeit erzeugt den Konflikt, sondern Konflikte, aus welchen Interessen auch immer entstanden, erzeugen Unverhandelbarkeiten. Diese sind oft nicht die Quelle von Konflikten, sondern ein Mittel, das den Konflikt auf Dauer am Leben hält. Die Annahme, dass es in Konflikten vornehmlich darum gehe, sie zu lösen, übersieht, dass Konflikte oft um ihrer selbst oder um der sozialen Dynamiken willen geführt werden, die über sie mobilisiert werden. Das liegt daran, dass es in vielen Konflikten Personen gibt, die mehr vom Konflikt selbst haben als von seiner Lösung. Dies beschränkt sich nicht auf die viel zitierten Kriegsgewinnler, die ökonomisch an - insbesondere gewalttätigen - Konflikten verdienen.
Konflikte mobilisieren; sie generieren die Themen, um die sich soziale Bewegungen gruppieren. Sie konstituieren Gegner, aber auch Gemeinschaften. Und so gilt es auch den Konflikt in Indien zu deuten: Die Konstruktion - und gewalttätige Verwirklichung - der Feindschaft von Hindus und Muslimen, von Hinduismus und Islam ist Teil eines nationalistischen Projekts, das über die Abgrenzung nach außen auf die Vereinigung nach innen zielt. Die Muslime werden dabei zu den Ersatz-Feinden, zu den operationalen Anderen. Es ist die Unterscheidung in Freund und Feind, die hier - wie bei Carl Schmitt - die Identität eines Volkes konstituiert.
Kommunalistische Gruppenkonflikte sowie religiös-nationalistische Bewegungen sind zumeist als eine - defensive - Reaktion auf gegebene Umstände betrachtet worden. Fremdheitserfahrungen, anomische Zustände, relative Deprivation scheinen ihr Entstehen zu erklären. Soziologische Ansätze in der Tradition Emile Durkheims haben immer wieder rapiden sozioökonomischen Wandel, Urbanisierung, Individualisierung, die Abwertung von Tradition und Religion (Max Webers "Entzauberung der Welt") und die Moderne als solches (als Prozess sozialer Differenzierung) für Anomie-Erfahrungen und folglich für die wachsende Bedeutung von Identitätspolitik verantwortlich gemacht.
Vielfach wurde so auch die Ausbreitung des Hindu-Nationalismus und die kommunalistische Gewalt in Indien als eine Reaktion auf oder Abwehr von "fremden Ideen" wie des Säkularismus,
Ayodhya, der Bau des Ram-Tempels und die Zerstörung der Babri Moschee sind mehr als religiöse Symbole. Sie sind zentrale Symbole für Einheit und Ausgrenzung, für die Bestimmung derer, die nach den Vorstellungen des Hindu-Nationalismus legitimiert sind, am indischen Gemeinwesen teilzuhaben, und derer, die "fremd" sind. Die Moschee steht für die Eroberung Indiens durch den (muslimischen) Moghul-Herrscher Babur - und somit für die angebliche Fremdheit der Muslime, ihre Aggression und den Angriff auf den Hinduismus. Ram, für den der Tempel gebaut werden soll, ist die Figur, die im Pantheon des Hindu-Nationalismus ein geeintes Hindutum repräsentiert, geeint über Kastengrenzen hinweg im gemeinsamen Kampf gegen die Bedrohung von außen. Ayodhya ist (noch?) kein Projekt der Hindus, es ist ein Projekt der Sangh Parivar, der so genannten "Familie" von hindu-nationalistischen Organisationen, der die VHP, die RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh - die Nationale Freiwilligen Vereinigung) und eben auch die gegenwärtige Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Partei - Nationale Volkspartei) angehören.
Der Hindu-Nationalismus
Hindutva (Hindutum), das zentrale Postulat des Hindu-Nationalismus, fordert die Einheit aller Hindus über die Unterschiede im Ritus, in den spezifischen Glaubensformen unterschiedlicher jatis (Kasten) und Sekten hinweg.
Die Vorstellung von der Einheit in der Vielfalt hat in Indien viele Formen gefunden: eine republikanische in Nehrus Staatsverständnis, eine eher multikulturelle bei dem bengalischen Dichter Tagore. Doch im Hindu-Nationalismus, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von seinen Gründungsvätern Hedgewar und Sarvarkar formuliert worden ist, wurden mit dem Ruf nach Einheit und Harmonie soziale Konflikte innerhalb des Hinduismus, wie zum Beispiel Kastenkonflikte, geleugnet und ihre politische Artikulation vehement bekämpft. Seit der Gründung der RSS ist die Harmonie der Hierarchie, das organische Nationenverständnis vom brahmanischen Kopf, den Kshatriya-Armen (Kriegern), dem Vaishwa-Bauch (Kaufleuten) und den Shudra-Füßen (Arbeitern) der Hindu-Gesellschaft zentrales Element der hindu-nationalistischen Ideologie. Die Beschwörung der Einheit und Einigkeit richtet sich also auch immer gegen die politische Repräsentation von Gleichheitsforderungen innerhalb der Gruppe, die über die Kategorie "Hindu" definiert wird.
Die Genealogie des Hindu-Nationalismus hat den historischen Prozess einer Konsolidierung und beginnenden Kanonisierung des Hinduismus als Hintergrund. Die Entwicklung der religiösen und sozialen Ordnung des indischen Subkontinents von einer sehr vielfältigen religiösen Landschaft mit unklaren Grenzen hin zu einem klarer definierten und gegen andere Religionen abgegrenzten Gebilde namens Hinduismus
An der Definition einer einheitlichen Kategorie hatte die koloniale Verwaltung mit ihrem Klassifizierungsbedarf Anteil.
Administrative, kulturell-religiöse und im engeren Sinne politische Projekte verstärkten sich in der Konsolidierung der Gruppengrenzen also gegenseitig. Verwaltungskategorien nahmen - selektiv - die Klassifizierungen der religiösen Selbstrepräsentationen auf. Die aus diesen von administrativen Interessen und politisch motivierten (und somit spezifischen) Repräsentationen der indischen Gesellschaft hervorgegangenen kolonialen Kategorien gingen ihrerseits wieder in Formen der politischen Organisation ein. Denn der koloniale Staat privilegierte manche Formen der sozialen Organisation und machte andere unmöglich. Gerade kommunitäre und religiöse Formierungen hatten - auf Grund der Annahme, sie seien letztlich nicht politisch und darüber hinaus dem "Wesen" des Orients zutiefst eigen - oft mehr Möglichkeiten, im öffentlichen Raum zu agieren, als strikt nationalistische oder klassenorientierte Veranstaltungen.
Die koloniale Privilegierung des Religiösen und Kommunitären wäre allerdings nicht möglich gewesen, hätte sie nicht an existierende Gruppendifferenzen anknüpfen können.
Mit der religiösen Note, die Gandhi seit den zwanziger Jahren in die Unabhängigkeitsbewegung einbrachte, verschärften sich - trotz seiner Bemühungen um ökumenische Harmonie - die Befürchtungen muslimischer Eliten, in einem unabhängigen Indien von der politischen Mitsprache ausgeschlossen zu werden. Die Muslim League konsolidierte sich als politische Vertreterin der Muslime und verschärfte ihre Forderungen nach eigenständiger politischer Repräsentation innerhalb Indiens.
Das unabhängige Indien verankerte den Säkularismus in seiner Verfassung (Art. 27 und 28). Es verpflichtete sich der Religionsfreiheit (Art. 25) und richtete einen Minderheitenschutz ein (Art. 29 und 30). Es übernahm das Prinzip des Personalstatuts und im Hindu Civil Code auch die breite Definition von Hinduismus, die Jains und Sikhs rechtlich in diese Kategorie einschloss.
Das Säkularismusverständnis der Hindu-Rechten lehnt sich daran an: Der Hindu-Nationalismus beansprucht, wahren Säkularismus zu repräsentieren. Abgeleitet von dem Gedanken, dass der Hinduismus "keine Religion, sondern eine Lebensform" sei und deswegen Menschen aller Glaubensrichtungen integrieren könne, ohne sie zu missionieren, wird die Toleranz gegenüber dem "Anderen" als das Grundprinzip des Hinduismus gesehen. Diese Auffassung beansprucht die Vertretung aller Bürger Indiens, begrenzt aber die Zugehörigkeit zu Indien gleichzeitig über die Religion. Denn diese wird im Hindu-Nationalismus seit Sarvarkars Schrift "Wer ist ein Hindu" von 1923 über die Einheit von punyabhoomi, "Heiligem Land" und pitribhoomi, "Vaterland", definiert. Sarvarkar nahm damit Sikhs, Jains und Buddhisten in den Kreis der legitimen Bürger Indiens auf, da ihre heiligen Stätten auf dem Gebiet Indiens lägen. Christen und Muslime wurden dagegen qua Definition von der legitimen Teilhabe am Gemeinwesen ausgeschlossen. Die indische Nation war für die RSS, die zentrale Organisation des heutigen Hindu-Nationalismus, von Anfang an Hindu Rashtra, das Land der Hindus.
Die Konstruktion des "Anderen"
Die Idee, die Muslime Indiens seien fremd, knüpfte an die Eroberung des Subkontinents durch die Moghuln an. Diese politische Geschichte wurde zum religiösen Charakteristikum stilisiert: der Aggression und Missionsaufgabe des Islam. Der Essentialisierung des Islam wurde die Essentialisierung des Hindutums spiegelbildlich gegenübergestellt: War der Islam wesentlich aggressiv, so war der Hinduismus wesentlich tolerant. Der Glaubenssatz "Islam ist Aggression und Hinduismus ist Toleranz" mischt sich regelmäßig mit dem Aufruf an die Hindus, sich zu verteidigen. Denn auf Grund seiner angeborenen Toleranz sei der Hindu zugleich unfähig, sich selbst und seine Kultur gegen diejenigen zu verteidigen, die angeblich so ganz anders sind: eben die Muslime, deren Religion aggressiv, hegemonial und intolerant sei. Die inhärente Toleranz der Hindus wird zu ihrer Schwäche, die überwunden werden muss. Die Überwindung der angeblichen Schwäche des Hinduismus durch disziplinierte Gewalt bedeutet im Selbstverständnis der hindu-nationalistischen Organisationen - und eines weiten Kreises der indischen Mittelklasse - nie die gleichzeitige Auflösung des Wesensmerkmals "Toleranz".
Die hindu-nationalistische Gewalt wird in einem Verteidigungsdiskurs neutralisiert. Schon Gründer Hedgewar hatte die RSS und den Drill in ihren lokalen Vereinen, den Shakhas, mit der angeblich notwendigen Verteidigung Indiens gegen die Angriffe der Muslime begründet. "In every single case it is they who start them and go on the offensive".
Der Defensivdiskurs ist die rhetorische Figur par excellence, um die kognitive Dissonanz zwischen Toleranz und Aggressivität aufzulösen. Schließlich kann man prinzipiell gewaltlos sein, auch wenn man auf das Recht auf Notwehr nicht verzichten will. Hier wird die Notwehr quasi kollektiviert und generalisiert: Jeder Muslim wird zum Sinnbild der Bedrohung, und so kann auch der Angriff auf einzelne, wehrlose Muslime gerechtfertigt werden; gleichzeitig wird jeder noch so geringe Konflikt zum Sinnbild der angeblich existenziellen Bedrohung der Hindus und des Hinduismus.
Die Verallgemeinerung der behaupteten Bedrohung macht es auch möglich, dass sich das Feindbild "Muslim" inzwischen diversifiziert hat: Heute ist Hindusthan allein durch die Präsenz der Muslime, durch ihre angebliche Illoyalität, durch "ihren" Terrorismus, aber auch durch ihre vielen Kinder und ihre Armut bedroht. Diese Faktoren eines existenziellen Konfliktes, in dem jede Form des alltäglichen Lebens der Muslime zum Symptom der Bedrohung wird, können die unterschiedlichsten Interessenlagen als Feindbild bedienen.
Im Mittelpunkt steht die Konstruktion, die Muslime Indiens hätten den indischen Staat "erobert": Die Hindu-Nationalisten behaupten, die indischen Regierungen unter der Congress-Partei würden die Minderheiten verwöhnen ("pampering minorities"); sie würden ihnen Sonderrechte einräumen, weil die Muslime als Wahlvolk nützlich seien. So würden die Rechte der Hindus vernachlässigt, geradezu verraten und verkauft.
Die Verschmelzung des antimuslimischen mit dem Anti-Staats- oder Anti-Congress-Diskurs ist zentral. Im Verteidigungsdiskurs wird die rechtmäßige politische Ordnung mit dem Besitzanspruch der Hindus auf Indien gleichgesetzt; die hindu-nationalistischen Organisationen werden zu Verfechtern dieser - religiös-kulturell legitimierten - Ansprüche, während alle anderen politischen Parteien und die gegenwärtige säkulare Ordnung zu "Verrätern" werden. Im Majoritarismus verschmilzt das Integrations- mit dem Repräsentationsprojekt. Der Majoritarismus des Hindu-Nationalismus definiert die Einheit, die er zu vertreten beansprucht;
Der parlamentarische Aufstieg des Hindu-Nationalismus
An der zeitlichen Verortung des parlamentarischen Aufschwungs des Hindu-Nationalismus sieht man deutlich, wie zentral die Verschmelzung von Vereinigungs- und Repräsentationsprojekt ist. Die hindu-nationalistischen Organisationen unter der Schirmherrschaft der RSS weiteten ihren parlamentarischen Einfluss und ihre Anhängerschaft in dem Moment massiv aus, als nach Jahrzehnten der Dominanz die Herrschaft des Congress in den achtziger Jahren zu bröckeln begann. Das so genannte Congress-System
Auf diese Wählerschaft blieb die Partei für einige Zeit beschränkt.
Die Plausibilisierung hindu-nationalistischer Positionen
Doch warum sollten soziale Konflikte, welche die Menschen tagtäglich betrafen, die sie in ihren Chancen und Möglichkeiten bestimmten, in ihrer Relevanz hinter einen Konflikt zurücktreten, der relativ irreal oder zumindest im Alltag irrelevant war? Die Erfahrung von Kastengewalt
Das wird am deutlichsten in den gewalttätigen Aktionen: Gewalt setzt genau die Einheit durch, die Anliegen des Konfliktes ist. Gewalt übergeht individuelle Identifikationen; sie unterscheidet selbst in Freund und Feind (und manchmal noch die Dritten, das Publikum). So hat die kommunalistische Gewalt in der indischen Geschichte, insbesondere die Erfahrung der Teilung, die Wahrnehmung eines existenziellen Konflikts zwischen Hindus und Muslimen immer wieder bestätigt und wahr gemacht. Nach jeder Ausschreitung segregieren sich die Wohnviertel weiter;
Doch die Verwirklichung des Konflikts ist es nicht allein, die diesen plausibilisiert. Gewalt kann darüber hinaus auch deswegen Einheit stiften, weil sie unterschiedlichste Interessenlagen und soziale und politische Belange anzusprechen vermag, unterschiedlichste Konflikte unter dem Mantel des Freund-Feind-Schemas subsumiert und darüber neue politische Allianzen stiftet. Dies wird am Beispiel der Shivsena, einer der militantesten hindu-nationalistischen Parteien, besonders deutlich, die vor allem im Bundesstaat Maharashtra etabliert ist und dort eine zentrale Rolle bei der Integration armer und niedrigkastiger Bevölkerungsgruppen in das Projekt des Hindu-Nationalismus spielt.
Die Shivsena vertritt einen gewaltorientierten, gewaltzelebrierenden Aktionismus. Sie hat sich seit ihrer Gründung 1966 immer als Protest-Bewegung stilisiert. Unter dem Slogan, der Staat bzw. die Congress-Regierungen seien für den "Ausverkauf" der Interessen der Hindus verantwortlich, übernahm die Shivsena die Rolle, den Staat für seine legitimen Bürger wiederzuerobern und ihn vor dem Zugriff der "Fremden" (hier auch der gebürtigen Italienerin und Präsidentin der Congress-Partei Sonia Gandhi) zu bewahren.
Das wesentliche Organisationsprinzip der Shivsena ist ihre starke lokale Verankerung in einem relativ dichten Netz von Vereinen, den Shakhas. Diese übernehmen zahlreiche kulturelle und sozialarbeiterische Aufgaben, welche die ineffiziente Infrastruktur des Staates komplementieren. In ihren Ortsvereinen bieten sie aber nicht nur Hilfe; sie organisieren auch kulturelle Aktivitäten, in denen ihr spezifisches Verständnis des Hinduismus verbreitet wird, ihre Anliegen popularisiert und mit den religiösen und kulturellen Symbolen der Alltagskultur vermischt werden. Nachbarschaftsfeiern erhalten die Note territorialer Besitzansprüche und reproduzieren Ausgrenzungskriterien; die zahlreichen Kampfsportgruppen, die mit vielen dieser Ortsvereine verbunden sind, werden zu mehr als einer bloßen Freizeitaktivität, sie gewinnen die Aura der "nationalen Verteidigung". Gleichzeitig sind all diese Aktivitäten eben nicht ausdrücklich um die politische Botschaft zentriert, gerade deswegen aber viel wirksamer: sie verquicken ihre politische Agenda erfolgreich mit den Institutionen und Praktiken, die das lokale Alltagsleben prägen.
In dieser lokalen Verankerung und der Konzentration auf - gewalttätige - Aktionen, auf unmittelbare Intervention eher als auf langfristige Projekte suggeriert die Shivsena Machbarkeit. Der Kult der Tat und der Effektivität begründet die Ablehnung der parlamentarischen Form der Politik, des "ideologischen Geredes". Die Shivsena bietet über ihre Politik der direkten Aktion daher nicht nur Identitätskonstrukte, sondern Räume realer, praktischer Handlungschancen und lokale Macht. Über ihre lokalen Wahlerfolge, die sowohl auf dem Angebot sozialer Dienste als auch auf kommunalistischer Mobilisierung gründeten, hat die Shivsena Personen aus sozialen Gruppen den Aufstieg in die Politik ermöglicht, die vorher weitgehend davon ausgeschlossen waren. Politische Mobilität war in Maharashtra lange Zeit durch das Monopol der Congress-Partei auf politische Posten und Aufstiegsmöglichkeiten blockiert gewesen. Das so genannte "Congress System", in dem in Maharashtra einige einflussreiche Familien der Maratha-Kaste dominierten,
In ihren Aktionen und Agitationen integrierte die Shivsena unterschiedlichste und teilweise gegensätzliche Konflikte und Unzufriedenheit gegenüber dem Staat sowie gegenüber der mit dem Staat so eng identifizierten Congress-Partei und besetzte immer wieder ganz unterschiedliche lokale und regionale Konflikte.
Die Shivsena gebärdet sich als Hüterin der "gerechten Ordnung": Sie behauptet, die eigentlich legitime Ordnung zu schützen, indem sie die "illegitimen" Gesetze einer "illegitimen" Regierung in zahlreichen Agitationen bricht. Die Kritik an einem ineffizienten und korrupten Staatswesen wird so zur Legitimation der majoritären Ansprüche, die nicht nur den Staat, sondern auch die Normen von Legalität und Legitimität, die in ihm prinzipiell gelten, ersetzen.
Es sind genau die unterschiedlichen gewalttätigen Aktionen und die spezifische Form, in der Gewalt begründet und organisiert wurde, die zur Ausbreitung des Hindu-Nationalismus und der hindu-nationalistischen Organisationen führte. Die über dieses Feindbild organisierte Gewalt vermochte es erstens, lokale soziale Konflikte zu kommunalisieren und unter dem "Religions-Konflikt" zu subsumieren. Gewalt vermochte es, zweitens, die unterschiedliche und oft gegensätzliche Unzufriedenheit mit dem indischen Staat zu integrieren und auch die Kritik am Staat zu kommunalisieren. Gewalt vermochte es, drittens, Angebote an Partizipation und "Emanzipation" zu verwirklichen und Handlungsräume zu eröffnen, die parlamentarische Formen der Politik nicht realisieren können.
Zwar wird deutlich, dass sich die sozialen Konflikte, die das Einigungsprojekt erst notwendig machen, nicht dauerhaft verdrängen lassen und immer wieder in ihrer Eigenlogik hervorbrechen. Doch bleibt das hindu-nationalistische Staatsverständnis vom Einigungsprojekt zurück. Das heißt, die hindu-nationalistische Mobilisierung und die Omnipräsenz majoritärer Legitimationsmuster können zwar nicht die erwünschte Einigkeit herstellen, sie haben aber doch eine nachhaltige Verschiebung von Legitimität, Normalität und der Berechtigung pluraler und partikularer Ansprüche bewirkt. Sie haben das republikanische Staatsverständnis durch einen religiös codierten Majoritarismus ersetzt.
Die Politik der Unverhandelbarkeit
Der essenzialistische Nationalismus der hindu-nationalistischen Gruppierungen und die darüber organisierte kommunalistische Gewalt setzt klare Abgrenzungen von Freund und Feind durch; sie trennt legitime von illegitimen Bürgern. Der Konflikt kann also auch deswegen Einheit stiften, weil er inhaltlich so vage ist. Konkret sind in ihm nur die Opfer und die Grenze zwischen Freund und Feind. Vage ist er, weil er darüber hinaus letztlich inhaltsleer ist. Er hat kein spezifisches Thema außer dieser Grenzziehung. Die Vagheit des binären Schemas, die vage Militanz, welche die rhetorische und praktische Grenzziehung kennzeichnet, macht ideologische Inkonsistenzen und Widersprüche in den Belangen der unterschiedlichen Gruppen innerhalb eines "Lagers" irrelevant.
In Indien ist oft debattiert worden, ob die kommunalistische Gewalt Ausdruck einer hindu-nationalistischen Massenbewegung sei oder aber geschickt von den hindu-nationalistischen Organisationen manipuliert und orchestriert würde.
Pogrome, wie sie in Gujarat geschahen, passieren nicht auf Grund von strukturellen Imperativen oder sozialen Zwängen; sie passieren nicht, weil Sentimente des Hasses "ausbrechen". Kommunalistische Gewalt, wie sie Gujarat erschütterte, als "Unruhen" oder gegenseitigen Hass zweier religiöser Gruppen zu bezeichnen hieße nicht nur, die eklatante Asymmetrie zwischen den Gruppen, eine Asymmetrie in den Opferzahlen, aber vor allem auch in der Unterstützung durch staatliche Instanzen zu leugnen, sondern auch den Ausschreitungen ihren systematischen Charakter abzusprechen.
Diese konzertierten Gewaltaktionen sind zum einen ein weiteres Mittel, den Besitzanspruch auf Indien, das majoritäre Vorrecht, und die "Illegitimität" der Muslime zu behaupten. Sie sind zum anderen ein Ausdruck dafür, wie weit sich dieser Besitzanspruch schon verbreitet hat, wie selbstverständlich er für unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen geworden ist. Dies zeigte sich vor allem in der Beteiligung der staatlichen Instanzen, der Polizei, die nicht eingriff, die teilweise Muslime, auch Frauen und Kinder, den Angreifern auslieferte, die der Feuerwehr kein Geleit bot, um die Feuer zu löschen; aber freilich auch in der fehlenden Bereitschaft der BJP-Regierung, die Pogrome durch klare Anweisungen an Polizei und Armee zu beenden.
Wenn es in einem Konflikt nicht allein um die Verhandlung eines Problems mit dem Gegner geht, sondern auch und oft noch viel mehr darum, eine Gruppe als Gruppe zu konsolidieren und zum Wortführer und Repräsentanten ihrer wesentlichen Belange zu werden, so eignen sich dazu Unverhandelbarkeitspostulate. Sie verlagern eine Regelung des Anliegens in irreale Welten oder Zeiten.
Der Essenzialismus der Feindschaft, der über Gewalt noch vertieft wird, macht es auch möglich, den Konflikt immer wieder neu zu formulieren, ihn den lokalen und momentanen Gelegenheiten anzupassen, vor allem also auch Kontinuität über die Zeit hinweg zu stiften, den Konflikt immer wieder neu zu konkretisieren. Ayodhya ist nur eines der Symbole des angeblich essenziellen und daher unverhandelbaren Konflikts zwischen Hinduismus und Islam. Solche gewählten Symbole sind in ihrer Zahl - potenziell - unendlich: Die hindu-nationalistischen Organisationen haben 3 000 weitere Moscheen auf ihren Listen, und sie werden auch andere Symbole als Moscheen für den Konflikt finden.