I. Gericht und Grundrecht
Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht
Diese Darstellung beschränkt sich jedoch auf die Meinungsfreiheit als das für jedermann wichtigere Grundrecht. Das Gericht hat nicht nur die Meinungsfreiheit zu einem der Kerninhalte des materiellen Rechtsstaates gemacht, sondern gleichzeitig auch den formellen Rechtsstaat weiterentwickelt. Es hat aus dem Verfassungstext die Verfassungswirklichkeit entscheidend mitgeformt. In der Auseinandersetzung, wie die Meinungsfreiheit zu begründen sei, hat das Gericht einen eigenen Weg beschritten. Es verknüpft in seiner "Doppelbegründung" die Motive der individuellen Entfaltung und der gemeinschaftlichen Entwicklung als Kennzeichen des demokratischen Verfassungsstaates.
Das eingangs Formulierte greift die berühmte Formel des Gerichtes auf, in der es 1958 in der unter dem Namen des Beschwerdeführers . . . Lüth bekanntgewordenen Entscheidung erstmals die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie als "schlechthin konstituierend"
Auf das Lüth-Urteil folgte 1969 die Blinkfuer-Entscheidung zur Chancengleichheit im Meinungsbildungsprozess und dem Verbot wirtschaftlichen Drucks
Als Einführung wird zunächst die Rechtsprechung zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit skizziert, gefolgt von der Diskussion über Werturteile und Tatsachenbeshauptungen. Die verfassungsrechtlichen Auswirkungen der unter dem Begriff der Informationsgesellschaft zusammengefassten Entwicklungen sollen einen zweiten Schwerpunkt bilden. Abschließend folgt ein kurzes Fazit der wechselnden Wirkung von Bundesverfassungsgericht und Meinungsfreiheit zueinander.
II. Werturteil oder Tatsachenbehauptung
1. Urteilsverfassungsbeschwerden
Das Grundgesetz nennt in den Artikeln 18, 21, 41, 61, 93, 98, 99, 100 und 126 die verschiedenen Verfahren, in denen das Verfassungsgericht tätig werden kann. Die meisten Entscheidungen zur Meinungsfreiheit ergingen in Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, die eine oder mehrere Personen gegen ein straf- oder zivilgerichtliches Urteil einlegte.
Eine Kammer hat drei Entscheidungsmöglichkeiten: Entweder sie lehnt die Beschwerde als nicht zulässig oder nicht begründet ab, dann ist das Verfahren endgültig beendet. Oder sie nimmt die zulässige Beschwerde als begründet unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung an. Damit hebt die Kammer das zugrundeliegende Urteil auf und verweist das Verfahren an das urteilende Fachgericht zurück. Dadurch ist das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beendet, der Senat wird nicht eingeschaltet. Oder die Kammer erkennt die Beschwerde als zulässig an und verweist sie zur Entscheidung an den zuständigen Senat.
Weder die Kammer noch der Senat entscheidet abschließend über das Verständnis und damit die Zulässigkeit einer Äußerung, sondern beide beurteilen nur, ob bei der Auslegung und Anwendung von Normen das urteilende Fachgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben eingehalten hat. Das Verfassungsgericht entscheidet nicht im Detail, warum eine Aussage verfassungsgemäß oder wie sie genau zu verstehen ist. Es ist keine "Superrevisionsinstanz", die an Stelle eines Gerichtes ein eigenes Urteil fällt, sondern es verweist den Fall an das Fachgericht zurück. Das Gericht kann dabei restriktiv argumentieren, dass die vom Fachgericht vorgenommene Deutung unvereinbar mit dem Grundrecht war. Damit untersagt es dem Fachgericht, diese Interpretation als verfassungsgemäß zu bewerten. Es kann auch konstruktiv begründen, dass das Fachgericht eine Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung der Äußerung, die also den Schutz der Meinungsfreiheit bewirkte, nicht bedacht oder zumindest nicht nachvollziehbar in seiner Urteilsbegründung erwogen hat, und dies nachholen muss.
2. Wechselwirkungslehre
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wirken meist über den konkreten Fall hinaus. So ist das schon zitierte Lüth-Urteil von 1958 eines der folgenreichsten Urteile des Gerichts. Gegenstand des Verfahrens war die Verfassungsbeschwerde des Vorsitzenden des Hamburger Presseclubs Lüth gegen das zivilgerichtliche Verbot seines Boykottaufrufes gegen einen Film des Regisseurs Veit Harlan, der während des Nationalsozialismus populäre Propagandafilme gedreht hatte.
Das Grundgesetz garantiert in Art. 1 Abs. 1 die Menschenwürde und enthält in Art. 1 Abs. 3 auch die ausdrückliche Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte. Die Weimarer Reichsverfassung enthielt zwar auch Grundrechte, diese waren nach Interpretation der Mehrheit der Weimarer Staatsrechtslehrer jedoch nur Festschreibungen des Gesetzesvorbehaltes: Es ist der Legislative vorbehalten, durch ein Gesetz den Inhalt des Grundrechtes zu beschränken und dadurch festzulegen. Nach der damals herrschenden Meinung bewirkte ein Grundrecht weder eine unmittelbare Bindung aller staatlichen Gewalt noch die Einklagbarkeit durch eine gerichtliche Überprüfung. Stattdessen lag die Bestimmung seines Inhalts in den Händen der Legislative, sodass die Hervorhebung als Grundrecht nur deklaratorischen oder appellativen Charakter hatte.
Gegen beliebige Einschränkungen sichert das Grundgesetz alle Grundrechte durch die in Art. 19 Abs. 2 garantierte Wesensgehaltsgarantie. Danach darf der Gesetzgeber ein Grundrecht nicht so einschränken, dass das Maß dem Anlass nicht mehr entspricht oder das Grundrecht leerläuft.
Dies war besonders folgenreich für die so genannten "Generalklauseln" des Zivilrechts wie den im Lüth-Fall entscheidenden § 826 BGB zur vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. Aus der generellen Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte leitete das Verfassungsgericht sein konkretes Recht ab, auch zivilgerichtliche Urteile daraufhin zu überprüfen, ob in ihnen diese Ausstrahlungswirkung beachtet worden sei. Damit war die Bindung aller Staatsgewalt, auch der zivilgerichtlichen an die Grundrechte für die Grundrechtsträger überprüf- und einklagbar.
Das Lüth-Urteil enthielt als eine weitere Neuerung die so genannte Wechselwirkungslehre, die in den folgenden Jahren über Deutschland hinaus als Teil der allgemeinen Grundrechtsdogmatik anerkannt wurde. Die rein formale Sicht der Weimarer Verfassung, dass jedes Parlamentsgesetz ein Grundrecht einschränken könne, galt schon durch Art. 1 Abs. 3 GG nicht mehr. Mit der Wechselwirkungslehre verstärkte das Gericht die Wirkung der Grundrechte nochmals. Auch dort, wo die Verfassung die Beschränkung eines Grundrechtes durch Gesetz zulässt, stellt sie nach Auffassung des Gerichts an dieses Gesetz und an seine Auslegung die zusätzliche Anforderung, die grundrechtliche Garantie zugunsten des Individuums im Blick zu behalten. So muss jedes Gericht in der Güterabwägung die Gesetze, welche die Schranken eines Grundrechts konkretisieren, im Lichte seines Schutzgehaltes interpretieren. Selbst wenn also ein Gesetz geschaffen wurde, um ein Grundrecht auf der Basis der Schranken zu begrenzen, so ist von jedem Anwender und Ausleger immer zu bedenken, dass der Schutz des Grundrechtes und die Freiheit zu seiner Verwirklichung der eigentliche Zweck der gesamten staatlichen Tätigkeit ist.
In den letzten Jahren wird die Wechselwirkungslehre als zu fallbezogen und damit als zu unsicher kritisiert.
3. Tatbestandsmerkmale
Im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde prüfen das Verfassungsgericht, Kammer oder Senat, zunächst, ob die vom urteilenden Fachgericht bewertete Handlung in den Schutzbereich des Grundrechtes fällt. Nur dann kann überhaupt eine Verletzung des Grundrechtes vorliegen. Diese Frage wird grundsätzlich anhand der Tatbestandsmerkmale der Norm überprüft. Dies sind diejenigen Bestandteile einer Norm, die erfüllt sein müssen, um die Rechtsfolge auszulösen. In diesem Fall ist die Rechtsfolge der grundrechtliche Schutz. Gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG sind das "Äußern und Verbreiten" und die "Meinung" die entscheidenden Merkmale, deren Vorliegen eine Handlung zur geschützten Meinungsäußerung macht.
Die Aufzählung "Äußern und Verbreiten in Wort, Schrift und Bild" wird allgemein als beispielhaft und nicht als abschließend oder voneinander abgrenzbar angesehen.
Das Äußern und Verbreiten von . . . wird als Abgrenzung der Meinungsfreiheit von den Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gesehen, die die über Presse, Rundfunk und Film verbreiteten Inhalte schützen. Es wird traditionell zwischen Individual- und Massenkommunikation unterschieden, und die Medienfreiheiten gelten nicht als Unterfälle der Meinungsfreiheit.
Das Tatbestandsmerkmal "Meinung" besteht für das Verfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil grundsätzlich aus Werturteilen, nur unter besonderen Voraussetzungen auch aus Tatsachenbehauptungen. Am besten geschützt ist danach, was nach Ansicht des Verfassungsgerichts im engen Sinn als Meinung zu verstehen ist. "Meinung" im engen Sinn wird danach gekennzeichnet durch "die im Werturteil zum Ausdruck kommende eigene Stellungnahme des Redenden, durch die er auf andere wirken will."
Mit den Jahren hob das Gericht diesen subjektiven Bezug immer deutlicher als nicht objektiv überprüfbar hervor. Während der 2. Senat in einem Beschluss zur Meinungsfreiheit eines Strafgefangenen 1972 noch formulierte, dass es "keine entscheidende Rolle"
Eine Äußerung darf sachlich oder emotional oder auch in Form einer Frage sein.
Ebensowenig ist "Schmähkritik" vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst. Sie ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts eine herabsetzende Äußerung, die nach dem Willen des Äußernden nicht der sachlichen Auseinandersetzung dienen, sondern die genannte Person kränken und diffamieren soll.
Das Tatbestandsmerkmal "Meinung" umfasst nach ständiger Rechtsprechung prinzipiell keine Tatsachenbehauptungen, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes nicht generell geschützt sind, sondern nur, "weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen"
Die begrifflich scheinbar klare Trennung zwischen der persönlich-subjektiven Meinung und der persönlich-objektiven Behauptung einer Tatsache ist im realen Kommunikationsprozess nur schwer möglich. Gegen eine formale Trennung spricht auch, dass das Äußern einer Tatsache in der jeweiligen Kommunikationssituation immer auch das Motiv hat, zur Meinungsbildung der anderen beizutragen. Beide Formen werden oft in einer Äußerung vermischt. Wenn die beiden Bestandteile nicht ohne Sinnentstellung getrennt werden können, gilt im Zweifel der weitere Schutz der Meinungsäußerung.
Aus der Ausrichtung auf die Förderung des Kommunikationsprozesses folgt eine Abstufung zwischen wahren und unwahren Tatsachenbehauptungen. Auch unwahre Tatsachenbehauptungen können Grundlage einer Meinungsbildung sein, deswegen reicht die funktionale Differenzierung nicht aus. Das Gericht sieht den Prozess der Meinungsbildung im Kern als Erkenntnisgewinn. Daher sind unwahre Tatsachenbehauptungen als unrichtige Informationseingaben nur schützenswert, wenn sie in gutem Glauben aufgestellt worden sein können. Die Anforderung an den Äußernden, Wahrheit oder Unwahrheit seiner Aussage zu kennen, darf aber nicht zu hoch gestellt werden, weil das den Kommunikationsprozess als Ganzen behindern würde.
4. Grundrechtsschranken
Hat das Verfassungsgericht bei seiner Prüfung entschieden, dass eine Meinungsäußerung vorliegt, prüft es im nächsten Schritt, ob ein staatlicher Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechtes gegeben ist. Diese Frage ist bei Gerichtsurteilen durchgehend zu bejahen, weil dort der Staat in Gestalt der Judikative handelt und ein Urteil immer Verbote, konkrete Hinderungen oder einen Eingriff ins Eigentum in Form einer Geldstrafe enthält.
Schwieriger zu prüfen ist, ob der staatliche Eingriff in das Schutzgut verfassungswidrig ist. Dieses Korrektiv ist notwendig, da sonst jedes Gerichtsurteil als Grundrechtseingriff verfassungswidrig und damit aufhebbar wäre. Die Gründe und Formen eines Eingriffs, die eine Verfassungsordnung für angemessen hält, formuliert sie in den so genannten Schranken eines Grundrechtes. In Art. 5 GG sind diese im 2. Absatz enthalten und umfassen die allgemeinen Gesetze, das Recht zum Schutz der Jugend und das zum Schutz der persönlichen Ehre.
Während der Jugendschutz eine relativ unproblematische Schranke ist, die hauptsächlich durch das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte ausgefüllt wird, galt den anderen beiden Alternativen immer wieder große Aufmerksamkeit. Die Rechtswissenschaft stritt seit der Weimarer Republik über verschiedene Auslegungen des Begriffs des allgemeinen Gesetzes. Eine Auffassung stellte die Zielrichtung des Gesetzes, die andere das Gewicht des der Meinungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgutes in den Mittelpunkt.
III. Meinungsfreiheit oder Persönlichkeitsschutz
1. Meinung oder Ehre
Über das Persönlichkeitsrecht und besonders die persönliche Ehre als dritte Schranke der verfassungsrechtlichen Verbürgung von Meinungsfreiheit wurde immer wieder gestritten. In den letzten Jahren wurde die vom Gericht vorgenommene Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der persönlichen Ehre grundlegend kritisiert. Wer sich beleidigt fühle, aber vor einem Fachgericht nicht Recht bekomme, und wer als Beleidiger verurteilt werde und dagegen Verfassungsbeschwerde einlege, könne in Deutschland kaum vorhersagen, wie das Verfassungsgericht urteilen werde. Durch die Idee der in der Verfassung verkörperten objektiven Wertordnung und der daraus abgeleiteten Ausstrahlungs- und Wechselwirkung der Grundrechte könne das Gericht seine Auslegung zu stark variieren.
Dies liegt an der vom Gericht entwickelten Doppelbegründung der Meinungsfreiheit. Es sieht seit 1958 die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung. So verknüpft es beide Aspekte untrennbar miteinander. Aufgrund der Bedeutung für die Demokratie bestehe kein absoluter Vorrang, aber eine grundsätzliche Vermutung zugunsten der freien Rede. Die gesellschaftliche und staatliche Ordnung wird vom Gericht als Rahmen der Persönlichkeitsentfaltung nur auf diese hin, nicht als unabdingbarer Gesamtnutzen geschützt.
Die meisten Kritiker gewichten das Persönlichkeitsrecht vor allem in Gestalt des Ehrenschutzes gegenüber der Meinungsfreiheit anders als das Gericht, weil sie den demokratischen Prozess weniger stark hervorheben oder die Bedeutung der Ehre für den demokratischen Prozess betonen.
Dieser Einwand überzeugt nicht. Die Tatsache allein, dass Rechtsprechung veränderlich ist, führt nicht zu Rechtsunsicherheit. Implizit unterstellt solche Kritik eine politisch motivierte oder anders willkürliche Veränderung der Rechtslage, die das Prinzip der Gewaltenteilung verletze, weil sie nur dem Gesetzgeber zustehe. Die Ausstrahlungswirkung hat den Vorteil, realweltliche Veränderungen einbeziehbar zu machen. Das Gericht kann durch sie die Veränderungen der sozialen Rahmenbedingungen in seiner Rechtsprechung berücksichtigen.
2. Ehrenschutz per Gesetz
Der Vorwurf, das Verfassungsgericht nehme den Ehrenschutz weniger wichtig als die Zivil- oder Strafgerichte, wird von Kritikern schon seit der Strafgefangenen-Entscheidung 1972 erhoben.
Diese Auffassung löste starken Widerspruch aus. Vor allem die Interpretation des 2. Senates, die inhaltliche Vorgabe "Recht der persönlichen Ehre" mit der formalen Vorgabe "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" zu kumulieren, wird von weiten Teilen der Rechtswissenschaft abgelehnt.
Die Kritiker des Verfassungsgerichts wenden darüber hinaus ein, der Lebensbereich des persönlichen Ehrenschutzes sei vom Gesetzgeber absichtlich nicht abschließend normiert, sondern im Zivil- und Strafrecht nur teilweise geregelt, ansonsten reiche auch Gewohnheitsrecht.
Diese Kritik war jedoch unberechtigt, denn mit seiner Forderung nach gesetzlicher Ausgestaltung setzt das Verfassungsgericht unabhängig von der Formulierung und Interpretation des Absatz 2 nur um, was nach herrschender Meinung für jede Grundrechtsbeschränkung zwingend ist.
3. Leugnen als unrichtige Information
Die Senatsentscheidung zur "Auschwitz-Leugnung" betraf 1994 die Frage, ob die Behauptung einer nachgewiesen falschen Tatsache unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen kann. Das Gericht überprüfte eine Auflage für eine Veranstaltung der NPD, durch welche die Exekutive das Leugnen der Judenverfolgung im Dritten Reich unterbinden wollte. Das Gericht sah dieses Leugnen als unrichtige Information, die nichts zum verfassungsrechtlich geschützen Prozess der Meinungsbildung beitrage.
Dem Beschluss folgte im gleichen Jahr eine inhaltlich zustimmende, aber formell fragwürdige Änderung des § 130 StGB durch den Deutschen Bundestag. Der Gesetzgeber wollte mit einer Neuregelung des strafrechtlichen Verbotes der Volksverhetzung sicher gehen und schuf in § 130 Abs. 3 StGB Ende 1994 ein ausdrückliches Verbot des Leugnens und Verharmlosens nationalsozialistischer Verbrechen.
4. Ehre als persönliches Rechtsgut
Im Herbst 1995 löste der 1. Senat mit seinem Beschluss "zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurteilen über Soldaten"
In allen Fällen ging es um Äußerungen wie "Soldaten sind Mörder" oder "Soldaten sind potenzielle Mörder", die sich auf einen Artikel von Kurt Tucholsky beziehen, den dieser 1931 veröffentlichte und in dem er das enge räumliche Nebeneinander des Verbotes und Gebotes von Mord während des Ersten Weltkrieges glossierte, u. a. mit der Aussage: "Soldaten sind Mörder."
Auch unter dem Grundgesetz prüften Strafgerichte zwischen 1989 und 1991, ob Angeklagte sich einer Beleidigung strafbar gemacht hatten, einige bejahten dies. Mehrere Verurteilte reichten daraufhin Verfassungsbeschwerden ein, weil sie sich in ihrer Meinungsfreiheit verletzt fühlten. Vor dem umstrittenen Senatsbeschluss gab es 1992 und 1994 zwei Kammerentscheidungen, in denen die Verfassungsbeschwerden Erfolg hatten.
Kernpunkt der Auseinandersetzung auch im verfassungsgerichtlichen Prozess vor dem 1. Senat war die Frage, ob die Bezeichnung als Mörder eine "Schmähkritik" sei. Diese genießt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts nicht den Schutz der Meinungsfreiheit, weil "die Diffamierung der Person im Vordergrund steht"
Diese Entscheidung wurde sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der Öffentlichkeit heftig kritisiert.
Das Verfassungsgericht mache sich zum alleinigen Verfassungsinterpreten, habe durch das Grundgesetz aber nur die Stellung des letzten Wortes. Die abstrakten Regelungen der Grundrechte sollten vor allem vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber ausgefüllt werden.
5. Kritik am Verfassungsgericht
Die Kritik an der Soldatenentscheidung wurde vielfach verbunden mit der an der kurz vorher vom 1. Senat getroffenen "Kruzifix-Entscheidung"
IV. Internationalisierung und Digitalisierung
1. Übernationales Recht
Eine Prognose zur weiteren Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichts zur Meinungsfreiheit muss die Entwicklung des übernationalen Rechts und der Medientechnik berücksichtigen. Die Internationalisierung der Kommunikation wird vor allem durch Computernetze vorangetrieben, deren Basis das Internet mit seiner speziellen Datenübertragungstechnik ist. Es ermöglicht nicht nur neue Formen wie die Datenangebote des World Wide Web (www), sondern verändert auch alte Formen wie Telefon oder Rundfunk, die auf seiner Technologie aufbauend betrieben werden. Während der Rundfunk bisher auf nationale Territorien ausgerichtet war und durch zwischenstaatliche Vereinbarungen geregelt wurde, überwinden seine Inhalte nun alle Grenzen. Nationalstaatliches Recht verliert an Wirksamkeit, wenn aufgrund der Internationalität eigene Normen nicht mehr effektiv durchgesetzt werden können. Dadurch gewinnen internationale Übereinkünfte und Normen an Bedeutung und wirken auf die grundgesetzliche Ordnung zurück.
Die 1950 in Kraft getretene Konvention wurde aufgrund der Beitritte der Staaten Mittel- und Osteuropas in ihrem formalen Teil reformiert. Seit Herbst 1998 müssen sich alle Unterzeichnerstaaten der Individualbeschwerde stellen, die in einem beschleunigten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verhandelt wird. Dies gibt der Rechtsprechung des Gerichtshofes neues Gewicht. In Art. 10 EMRK gewähren die Unterzeichnerstaaten allen Personen das Recht der freien Meinungsäußerung in einem umfassenden Sinn: Der englische Originaltext nennt "freedom of expression", der französische "liberté d'expression".
Nach der Rechtsprechung des EGMR umfasst dies die individuelle und mediale Äußerung, die Suche und Aufnahme von Meinung und Information.
Die EU-Grundrechtecharta in ihrer in Nizza verabschiedeten Form wird voraussichtlich trotz einiger inhaltlicher Fortschritte keine bedeutsamen Auswirkungen auf die grundrechtliche Ausgestaltung der Meinungsfreiheit in Deutschland haben, weil eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit fehlt. Art. 11 der Deklaration gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung als Menschenrecht und umfasst explizit auch die grenzüberschreitende Informations- und Meinungsfreiheit gegenüber Behörden und anderen staatlichen Stellen. Art. 7 der EU-Charta schützt neben dem Privat- und Familienleben auch die Kommunikation jeder Person und modernisiert durch diesen umfassenden Begriff die in Art. 8 EMRK geschützte "Korrespondenz"
2. Technische und soziale Medienentwicklung
Die soziale Realität menschlicher Kommunikation ist immer auch geprägt von technischen Bedingungen. Die grundgesetzliche Ausgestaltung der Meinungsfreiheit spiegelt den Stand der Medientechnik im Jahr 1949. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG beschränkt sich auf die individuelle Meinungs- und Informationsfreiheit, während Satz 2 die Medienfreiheiten gewährt und Art. 10 die Post- und Fernmeldenutzung als technisch definierte Sonderfälle der Individualkommunikation schützt. Die technologischen Neuerungen bei der Verbreitung, der Netztechnologie und den Endgeräten bewirken nun soziale Veränderungen bei der Beteiligung und Rezeption, die die Annäherung oder Verschmelzung von Individual- und Massenkommunikation wiederum beschleunigen. Diese Konvergenz war bei der Schaffung des Grundgesetzes nicht abzusehen, muss aber heute bei seiner Interpretation berücksichtigt werden.
Die in den Grundrechten bisher erkennbare Trennung basierte auf einer lebensweltlich wahrgenommenen Unterscheidung zwischen Individual- und Massenkommunikation. Nun scheinen die Entwicklungen, die unter "Neue Medien" oder "Multimedia" zusammengefasst werden, sowohl die Medien- als auch die Meinungsfreiheit zu berühren, indem sie Realität und Bedingungen des Kommunikationsangebotes und -verhaltens verändern.
Für den Medienbereich ist diese Veränderung leicht nachweisbar, weil aufgrund der Vervielfachung der Kanäle zusätzlich zum bisher im bundesdeutschen Rundfunk üblichen Verteildienst, bei dem ein Anbieter den Zeitpunkt und Inhalt seines Angebotes selbst festlegt, auch andere Arten angeboten werden. Dies sind Zugriffsdienste, bei denen der Anbieter seine Inhalte zu verschiedenen Zeiten startet und der Abnehmer den Zeitpunkt in gewissem Rahmen selbst festlegt. Beim Abrufdienst kann der Abnehmer aus einem Inhaltsangebot den Zeitpunkt absolut frei auswählen, die Daten werden speziell für ihn versandt.
Basis dieser Veränderungen im Medienbereich ist neben der Digitalisierung der Daten und der verstärkten Nutzung von Computern die Veränderung der Telekommunikationsinfrastruktur. Als "Fernmeldeeinrichtungen" wurde sie ausschließlich zur Individualkommunikation genutzt, jetzt bildet sie die Grundlage der meisten neuen Möglichkeiten. Die bisherige Differenzierung zwischen Individual- und Massenkommunikation ist damit unmöglich. Aber nicht nur medial, sondern auch inhaltlich sind Meinungs- und Medienfreiheit verknüpft.
Grundlage aller Zielvorgaben, mit denen bisher die Medienfreiheit ausgestaltet wurde, war die Meinungsfreiheit des Individuums.
V. Fazit
Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine Rechtsprechung den Schutz der Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik gestärkt. Im Lüth-Verfahren, das den Streit um Meinungsfreiheit und die zivilrechtliche Generalklausel der guten Sitten zum Gegenstand hatte, entwickelte das Gericht seine Auffassung von der Verfassungsordnung als Wertordnung, in der die Grundrechte eine Ausstrahlungswirkung in die gesamte Rechtsordnung haben. Die ebenfalls seit dem Lüth-Urteil entwickelte Theorie der "Wechselwirkung" stärkt ebenfalls den Gehalt der Grundrechte. Durch diese beiden grundlegenden Formeln festigte das Gericht alle Grundrechte, besonders aber das der Meinungsfreiheit, und auch seine eigene Position als Hüter der in der Verfassung verkörperten Werte.
Es hat sowohl den hohen Wert der Meinungsfreiheit für die individuelle Entfaltung der Persönlichkeit anerkannt als auch die Bedeutung für das freiheitlich-demokratisch organisierte Gemeinwesen. Die Verknüpfung dieser beiden Motive in der so genannten "Doppelbegründung" ergibt nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eine grundsätzliche Vermutung zugunsten der freien Rede, die aber keinen absoluten Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber anderen Grundrechten wie etwa dem Persönlichkeitsrecht bewirke. Jedes Gericht, auch das Verfassungsgericht, muss aufgrund der Ausstrahlungswirkung in jedem Fall die Abwägung vornehmen, wie die betroffenen Rechtsgüter am besten zu schützen sind.
Das Gericht hat eine Differenzierung herausgearbeitet, in welchem Maß Werturteile und Tatsachenbehauptungen den Schutz der Meinungsfreiheit genießen. Werturteile als subjektives Dafürhalten stehen unter nahezu vollständigem Schutz. Den Schutz von Tatsachenbehauptungen bemisst es danach, welchen Beitrag zum Meinungsbildungsprozess sie leisten können.
In den Fällen, die das Gericht im Laufe der Jahrzehnte zu entscheiden hatte, hat diese Betonung und Absicherung der Meinungsfreiheit zu einer als freiheitsförderlich einzuschätzenden Rechtsprechung geführt. Jedoch waren einige Entscheidungen des Gerichts, in denen es das Recht der persönlichen Ehre mit der Meinungsfreiheit abwog, umstritten. Die heftig kritisierte Entscheidung zum "Soldaten sind Mörder"-Zitat führte bis zur Unterstellung, dass Gericht wolle bestimmte inhaltliche und damit politische Positionen fördern oder schwächen und missbrauche dazu seine Stellung im Institutionengefüge. Diese Fundamentalkritik führte zu einer Debatte, die einen vorübergehenden Ansehensverlust des Gerichts bewirkte, aber auch die Überlastung des Gerichts öffentlich machte.
Noch ist unklar, ob und wenn ja wie das Gericht bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 1 GG die gravierenden Veränderungen der Kommunikationstechnologie berücksichtigt wird und seine Rechtsprechung nicht nur zur Medien-, sondern auch zur Meinungsfreiheit darauf ausrichten wird. Soll, wie im Blinkfuer-Beschluss zugrunde gelegt, die Auswirkung wirtschaftlicher oder sozialer Macht auf die Realisierung der Meinungsfreiheit berücksichtigt werden, rückt die kommunikative Chancengleichheit als Zielvorgabe der Meinungsfreiheit in den Blick.