"Neuendorf besaß neuerdings eine eigene Autobahnabfahrt – ‚neuerdings‘ hieß für Alexander immer noch: nach der Wende. Man kam direkt auf die Thälmannstraße (hieß immer noch so). Die Straße war glatt asphaltiert, rote Fahrradstreifen zu beiden Seiten. […] Aber man brauchte nur einmal links abzubiegen und ein paar hundert Meter dem krummen Steinweg zu folgen, dann noch einmal links – hier schien die Zeit stillzustehen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult."
Für den Einstieg in seinen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" wählt Eugen Runge das Straßenbild als Metapher für den Wandel der Zeit und schlägt eine Brücke zwischen Gestern und Heute. An den Straßen unserer Städte können wir den Zeitverlauf ablesen, sie sind Spiegelbild unserer Fortbewegung: Schmale Nebenstraßen rufen Erinnerungen an unbeschwerte Streifzüge vergangener Kindheitstage hervor, während glatt asphaltierte Verkehrsadern ausgerichtet sind am ungebremsten Fluss einer beschleunigten Gesellschaft. Aus den Fahrzeugen unserer modernen, hochtechnisierten Fortbewegung heraus können wir uns heute nur noch schwer vorstellen, wie über Jahrhunderte hinweg die Geschwindigkeit des Zu-Fuß-Gehens den Takt der Stadt bestimmte. Ein radikaler Wandel vollzog sich mit der Erfindung des Verbrennungsmotors und der Massenmotorisierung. Das Automobil verspricht Freiheit und Unabhängigkeit, ist Ausdruck von Wohlstand und individualisierter Fortbewegung. Zugleich hat das Automobil unsere Mobilität revolutioniert und die Konfiguration unserer Städte weitreichend verändert.
Moderner Verkehr
Die Geschichte der Stadt kann als eine Geschichte unserer Fortbewegung gelesen werden. Dabei unterscheidet die Verkehrsgeschichte zwischen vormodernem und modernem Verkehr: Während in vormodernen Epochen noch Tiere oder Menschen die Fahrzeuge antrieben, ist der moderne Verkehr gekennzeichnet durch kapitalintensive Infrastruktur und mechanisierte Fortbewegungsmaschinen. Die unterschiedlichen Verkehrsmittel gaben der Stadt ein jeweils eigenes Aussehen. In der Zeit des vormodernen Verkehrs vollzog sich das Leben in jenen Vierteln, in denen die Menschen lebten und zu Fuß unterwegs waren. Die Städte waren entsprechend strukturiert: Orte zum Leben, Arbeiten und zur Versorgung befanden sich fußläufig erreichbar in der unmittelbaren Umgebung – aber auch Entfernungen von drei, vier oder fünf Kilometern wurden regelmäßig zu Fuß zurückgelegt. Die Städte waren verdichtet und sowohl baulich als auch sozial von einer kleinteiligen Nutzungsmischung gekennzeichnet. Viele historische Zentren lassen erahnen, wie kompakt die Struktur der traditionellen, europäischen Stadt zu den Zeiten des vormotorisierten Verkehrs gewesen ist.
Der moderne Verkehr brachte motorisierte Fortbewegungsmittel und leistungsstarke Infrastrukturen mit sich, ermöglichte den Transport großer Menschenmassen und erlaubte vor allem die Überwindung größerer Distanz in immer kürzerer Zeit. Für die Menschen verschwanden die Grenzen ihres bisherigen Aktionsraums. Ziele, für die man zuvor eine beschwerliche Reise auf sich nehmen musste, waren im Handumdrehen erreichbar. Damit einher ging die räumliche Entkopplung der Funktionen des Alltags. Denn der moderne Verkehr war die Voraussetzung für eine Neugliederung der Stadt. Arbeiten und Wohnen, Versorgung und Freizeit beschränken sich heute nicht mehr auf den unmittelbaren Lebensmittelpunkt der Menschen.
Die räumliche Trennung der Aktivitäten beschleunigte sich im Verlauf der Industrialisierung. Zunächst erfolgte die Ausdehnung der Stadt entlang der Infrastrukturen der neuen Massentransportmittel – wie der elektrischen Straßenbahn oder den ersten U-Bahn-Systemen – und war entsprechend linienhaft ausgerichtet. Doch erst das Automobil und eine auf den motorisierten Individualverkehr bezogene Normierung der Straße entfesselten eine flächenhafte Expansion der Stadt ungekannten Ausmaßes. Das Automobil war Bedingung für Suburbanisierung und das Ausufern der Siedlungsstrukturen (Abbildung).
Siedlungs- und Verkehrswachstum waren also eng miteinander verschränkt, wenn auch Ursache und Wirkung schwer zu bestimmen sind. Am ehesten lässt es sich als ein sich wechselseitig verstärkender Prozess beschreiben zwischen neuen Möglichkeiten individueller Raumüberwindung durch das Automobil, dem Bau von Straßen und dem Aufkommen entfernungsintensiver Lebensweisen. Auf Staubildung und Überlastung der Infrastruktur wurde mit weiterem Straßenbau reagiert, der wiederum Privatpersonen und Unternehmen dazu bewegte, sich an den neuen Standorten anzusiedeln, ihre Aktionsradien entsprechend auszuweiten und neuen Verkehr zu generieren. Die Devise "Wer Straßen und Parkplätze sät, wird Verkehr und Stau ernten" fasst diese Entwicklungsspirale zusammen. Der Zusammenhang zwischen Straßenbau und Verkehrsaufkommen wurde zwischenzeitlich empirisch bestätigt: Das Verkehrswachstum verhält sich proportional zum Straßenausbau – eine Verdopplung der Straßenlänge führt zu einer Verdopplung des Verkehrsaufkommens.
Der Siegeszug des Automobils ging weit über die Veränderungen der städtischen Konfiguration hinaus. Das Automobil war Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, eng verbunden mit wirtschaftlichem Aufstieg, wachsenden Freiheiten und Handlungsspielräumen. Schnell wurde es zum Sinnbild der Moderne, zum festen Bestandteil gesellschaftlicher Normalität, eingebettet in eine Vielzahl sozialer und sozioökonomischer Zusammenhänge: Neben Kleinfamilie, Eigenheim am Stadtrand und Urlaub im Süden war das Automobil zumindest in der Bundesrepublik ein Teil des Zeitgeistes. Wirtschafts- und Verkehrswachstum sowie eine steigende Motorisierungsrate gelten seitdem als untrennbar miteinander verbunden. Eine in Europa einzigartige Automobilindustrie sowie mächtige Interessenverbände führten schließlich zu einer ökonomischen und politischen Verfestigung der Dominanz des Automobils in der Bundesrepublik.
Das Automobil, die Straße und die Stadt von heute
Die Nutzungsansprüche im öffentlichen Raum verschoben sich mit dem Aufkommen des Automobils soweit, dass sie sich in der Rechtsauffassung manifestierten. So untermauert die Straßenverkehrsordnung eine Entmischung der Verkehrsarten, oft unter der Prämisse der Verkehrssicherheit, aber auch um dem motorisierten Verkehr einen ungebremsten Fluss zuzusichern. Die Straßenverkehrsordnung ersetzte die individuelle und situative Verständigung auf der Straße durch eine Hierarchie der Verkehrsarten.
Die Trennung von Aufenthalts- und Verkehrsflächen ist heute vielerorts kennzeichnend für den öffentlichen Raum in urbanen Zentren. Historische Aufnahmen städtischer Plätze, beispielsweise in München und Dresden, vor und einige Jahre nach der zunehmenden Verbreitung des Automobils belegen, dass eine zuvor ungeordnete und lebendige Fülle unterschiedlichster Nutzungsformen von einer linienhaften Bündelung sämtlicher Verkehrsströme abgelöst wurde. Bestimmendes Element des Straßenbildes ist nun die Fahrbahn, die dem motorisierten Verkehr vorbehalten ist. Dem Menschen zu Fuß bleibt der Seitenraum, wie der Bereich für den Gehweg im Jargon der Verkehrsplanung genannt wird. Mit der Entmischung der Verkehrsarten und der Bevorzugung des motorisierten Verkehrs, schreibt der Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel, ging dem Menschen die Straße vor dem Haus verloren: Sie wandelte sich von einem Raum der Möglichkeiten und des Aufenthalts zu einem Raum voller Unsicherheit und Belastung. Heute dienen unsere funktional gegliederten und hierarchisch aufgebauten Straßen zuallererst der Fortbewegung, sie sind zu einem Transitraum mutiert, zu einem "exklusiven Ort des Automobils". Lewis Mumford, US-amerikanischer Architekturkritiker und Historiker, beschreibt bereits in den 1960er Jahren die negative Wirkung des Automobils auf die Stadt. Die Ausweitung des Verkehrsnetzes bezeichnet er als eine außergewöhnlich primitive Lösung, die resultierende Stadtstruktur entbehre vieler "Annehmlichkeiten des geselligen Lebens". Der moderne Verkehr befreite uns Menschen von der räumlichen Enge der traditionellen Stadt, gleichzeitig wurden wir durch das Automobil auf eine neue Art gefesselt.
Wendepunkte und Persistenzen
Mit den Ölkrisen der 1970er Jahre, der Umweltbewegung der 1980er Jahre und einem langsam aber stetig wachsenden Bewusstsein für die ökologischen Konsequenzen menschlichen Handelns wurde die Vormachtstellung des Automobils und die autoorientierte Planung zunehmend kritisch begleitet. Spätestens mit der Diskussion über nachhaltige Siedlungs- und Verkehrsentwicklung auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro setzte ein Umdenken in der politischen Willensbildung ein, zahlreiche Städte initiierten Agendaprozesse. Vermehrt wurden Forderungen laut, statt eine angebotsorientierte Verkehrsplanung zu betreiben, die den motorisierten Individualverkehr begünstigt, darauf abzuzielen, Verkehr zu vermeiden und auf umweltverträgliche Verkehrsmittel zu verlagern. Der Begriff einer nachhaltigen Mobilitätsgestaltung ging aus diesen Diskussionen hervor.
Die Prinzipien nachhaltiger Mobilitätsgestaltung werden nur schwerfällig und schleppend umgesetzt und gegenüber der traditionellen Verkehrsplanung und -politik durchgesetzt. Über Jahrzehnte hinweg haben sich Strukturen verfestigt, die einseitig den motorisierten Individualverkehr begünstigen. Langfristig etablierte Planungsroutinen der Stadtverwaltung und die Alltagspraxis vieler Menschen (zum Teil mangels Alternativen) sind ausschlaggebend für eine tiefgreifende Persistenz und Pfadabhängigkeit unserer Stadt- und Siedlungsstrukturen. Die Sozialwissenschaften umschreiben diese kaum aufzulösende Verankerung als ein um das Automobil herum konstruiertes soziotechnisches System, welches das Mobilitätsgeschehen in unserer Gesellschaft maßgeblich prägt. Daraus erklärt sich die Beharrungstendenz der motorisierten Fortbewegung, die in menschlicher und politischer Hinsicht nachvollziehbar sein mag, wenn sie auch wenig vernünftig und zukunftsfähig erscheint.
Abkehr vom Automobil und Boom des Fahrrads?
Für einen wachsenden Teil der Bevölkerung wird das Automobil indessen überflüssig. Studien zum Mobilitätsverhalten verweisen darauf, dass immer mehr Menschen auf ein eigenes Automobil verzichten und zu einer multimodalen Mobilität übergehen, also einer an die jeweiligen Anforderungen angepassten Verkehrsmittelnutzung. Dieser Trend zeichnet sich insbesondere in größeren Städten ab, denn dort erschweren zäher Verkehr und Parkplatznot die Verwendung eines Pkws, vor allem aber existieren mit einem ausgebauten öffentlichen Verkehr echte Alternativen zum motorisierten Individualverkehr.
Digital gestützte Mobilitätsdienstleistungen beschleunigen die Zunahme multimodaler und situativ angepasster Verkehrsmittelnutzungen: Smartphone-Anwendungen weisen uns den Weg, ordern Taxen im Handumdrehen, informieren in Echtzeit über Verspätungen und öffnen Car-Sharing-Autos allein durch einen Fingerzeig. Wer gelernt hat, die verschiedenen Fortbewegungsmöglichkeiten zu nutzen, wer in einer Gegend lebt, in der sich der Alltag über kurze Wege bewältigen lässt, und wer auch bei ungünstigem Wetter auf das Fahrrad steigt, für den hat das eigene Automobil ausgedient. Dass sich die Verkehrsmittelnutzung in den Städten verschiebt, spiegelt die Statistik zur Ausstattung privater Haushalte wieder: 2003 waren in Hamburg 60,5 Prozent aller Haushalte mit mindestens einem Pkw ausgestattet, bis 2013 sank der Anteil auf 52,6 Prozent – im selben Zeitraum stieg hingegen die Ausstattung mit Fahrrädern von 74,6 auf 77,0 Prozent. In Berlin fallen die Zahlen noch deutlicher aus, hier reduzierte sich die Pkw-Ausstattung zwischen 2003 und 2013 von 57,6 auf 47,4 Prozent, während die Ausstattung mit Fahrrädern von 65,5 auf 74,2 Prozent zunahm.
Das Fahrrad erlebt somit eine Renaissance, es hat in den vergangenen Jahren für die Alltagmobilität der Menschen in der Stadt immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die Mobilitätsforscherinnen Martin Lanzendorf und Annika Busch-Geertsema verweisen in ihrer Arbeit zur Förderung des Fahrradverkehrs darauf, dass insbesondere diejenigen Städte ihren Fahrradverkehrsanteil spürbar erhöhen können, die sich bewusst von den Strukturen der autogerechten Stadt lösen und in denen die praktizierte Verkehrspolitik gemeinsam mit der Stadtverwaltung die Ziele einer nachhaltigen Mobilitätsgestaltung verfolgen.
Paradigmenwechsel in der Verkehrsgestaltung
Die Verkehrsplanung ist in der Lage, die vom Automobil vorgegebene Pfadabhängigkeit unserer Stadt- und Siedlungsstrukturen aufzubrechen. Städte wie Kopenhagen, Amsterdam oder Freiburg im Breisgau engagieren sich seit Langem für eine nachhaltige Gestaltung urbaner Mobilitätssysteme und verdeutlichen damit, welche Handlungsspielräume bestehen. Seit Anfang des neuen Jahrtausends dienen sie immer mehr Städten als Vorbild. Dabei lässt sich beobachten, wie sich eine Planungsphilosophie herausbildet, die die Verantwortung für ein konfliktfreies Miteinander möglichst oft an die Menschen im öffentlichen Raum überträgt und gegenseitige Rücksichtnahme und Verständigung fördert. Infrastrukturell finden diese Entwicklungen ihren Ausdruck in Begegnungszonen und Shared-Space-Konzepten sowie der Öffnung von urbanen Plätzen – wie dem Times Square in New York – für Menschen, die umherschlendern, verweilen und sich begegnen können.
Unter der Maxime "Cities for People" plant und gestaltet das von Jan Gehl in Kopenhagen gegründete Architekturbüro öffentliche Plätze und Straßen, die zu einer Vielzahl von Bewegungs- und Aufenthaltspraktiken einladen – wie etwa zum Flanieren und Innehalten. Die zugrundeliegende Planungsphilosophie orientiert sich an den zeitlichen und räumlichen Maßstäben, die der Mensch vorgibt, weniger an Fortbewegungsmöglichkeiten, die auf Effizienz und schnelle Distanzüberwindung ausgerichtet sind. Das eigentliche Mobilitätsgeschehen ergibt sich durch die zahlreichen Aneignungs- und Aushandlungsprozesse, die sich im Wechselspiel der Menschen immer wieder aufs Neue ergeben. Funktionieren kann das nur, wenn sich Geschwindigkeiten sowie Straßen- und Platzzuschnitte an einem menschlichen Maß orientieren – Langsamverkehr, Nahmobilität und Platz für Begegnungen zwischen Menschen sind daher die zentralen Bestandteile lebenswerter Städte.
Automatisierte urbane Mobilität?
In der Bild- und Zeichensprache der technikorientierten Zukunftsentwürfe städtischer Mobilität steht allerdings wieder das Automobil im Zentrum. Die Technik verspricht ein Utopia der Fortbewegung auf bestehenden Pfaden: Wie von Geisterhand gesteuert überqueren autonom fahrende Kapseln schnell und kollisionsfrei innerstädtische Kreuzungen, selbstfliegende Taxi-Drohnen und Minikopter erschließen den Luftraum als dritte Dimension der Städte und Metropolen. Zudem sehen sich die Städte schon heute eingebunden in einen globalen Wettbewerb, bei dem Effizienz und Geschwindigkeit des örtlichen Verkehrssystems eine entscheidende Rolle einnehmen. Um hier mithalten zu können, seien "die Beschleunigung und Verbesserung der städtischen Verkehrsflüsse ein zentraler Faktor der Mobilitätsentwicklung". Dieser Logik folgend wären die Stadtverwaltungen darauf angewiesen, "die Kapazität ihrer bestehenden Straßeninfrastruktur durch die Nutzung neuer Technologien zu steigern". Mobilität sollte derart automatisiert und optimiert ablaufen, dass die technologiegestützten Systeme reibungsfrei und weitgehend unbeeinträchtigt von menschlichen Fehlern funktionieren.
Die Technologie- und Mobilitätskonzerne verschweigen allerdings die Folgen ihrer Zukunftsentwürfe. Ähnlich wie das Automobil eine Flut an Gesetzen und Normierungen nach sich zog, wird die Automatisierung unserer Fortbewegung ein neues Maß der Regulation hervorbringen. Einen Vorgeschmack darauf gibt aktuell die Verordnung zur Regelung des Betriebs von unbemannten Fluggeräten. Möchte man den Luftraum mit Drohnen nutzen, ist seit dem 1. Oktober 2017 eine Bescheinigung zum Nachweis ausreichender Kenntnisse und Fertigkeiten zum Betrieb von Flugmodellen erforderlich – damit führt der Gesetzgeber nach einigen Jahren der unregulierten Nutzung einen Führerschein für Drohnen ein.
Bereits die Zunahme automobiler Fortbewegung war begleitet von Regularien, die die Menschen in den Seitenraum der Straße verwiesen, das Queren der Fahrbahn nur noch im rechten Winkel an den dafür vorgesehenen Stellen erlaubten und anderweitige Straßennutzungen als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld sanktionierten. Es bleibt nicht auszuschließen, dass sich der Gesetzgeber die Einführung autonomer Verkehrssysteme zum Anlass nimmt, die Komplexität des Verkehrsgeschehens weiter zu reduzieren. In einer automatisierten Zukunft ist der Mensch das unberechenbare Element, entzieht er sich doch der Programmierung. Warum sollten Zäune nicht künftig die Menschen daran hindern, die Fahrbahn zu betreten und den reibungslosen Betrieb autonomer Systeme zu unterbrechen? In einem Beitrag über die technologiegestützte Verbesserung der Verkehrssicherheit in Schweden wird das Denkmuster technikorientierter Planung so zusammengefasst: "Weil Menschen jeden Alters zu blöd sind, sich im Verkehr durchgängig vernünftig zu verhalten, muss das System eben komplett idiotensicher gemacht werden".
Kritische Stimmen zeichnen bereits die Dystopie einer Metropolis der Klassen mit einer fabrik- und fließbandartigen Organisation der Fortbewegung. Wenn wir stattdessen die Wiederbelebung oder auch nur den Erhalt lebendiger Städte in den Vordergrund stellen wollen, ist es erforderlich, autonome Verkehrssysteme mithilfe von Planungsvorgaben und Gesetzen so zu gestalten, dass sie erstens vielfältige Fortbewegungs- und Begegnungsformen ermöglichen und zweitens die Lebens- und Aufenthaltsqualität urbaner Räume nicht noch mehr einschränken. Dieser Sichtweise folgend käme der Regulation autonomer und digital gestützter Mobilität gerade nicht die Aufgabe zu, allein Effizienz, Geschwindigkeit und Kapazität zu maximieren, sondern im Gegenteil die Verkehrsarten zuerst hinsichtlich ihrer Umwelt- und Sozialverträglichkeit zu priorisieren. Dies könnte beispielsweise mithilfe von differenzierten Zugangs- und Bepreisungsmechanismen geschehen.
Pfade aus der Pfadabhängigkeit
Im Spannungsfeld zwischen der technikgetriebenen Entwicklung unserer Fortbewegungsmittel und Infrastrukturen einerseits und andererseits dem Planungsziel lebenswerter Städte, das ohne Entschleunigung und eine Umverteilung der Raumnutzung nicht auskommt, eröffnet sich ein weites Handlungsfeld zur Gestaltung künftiger Verkehrssysteme. Hier kann die Suche nach dem passenden Weg Stadtverwaltungen und kommunale Verkehrspolitik orientierungslos zurücklassen. Die Städte stehen vor zwei großen Aufgaben: Sie müssen ein erhebliches Verkehrsaufkommen bewältigen, wie es etwa durch das Arbeitspendeln entsteht. Gleichzeitig sollen sie für lebenswerte Quartiere sorgen, die sich nur herstellen lassen, wenn die Menschen ihren Alltag möglichst ohne motorisierte Fortbewegung bewältigen.
Pendelverkehre müssen effizient, pragmatisch und mithilfe leistungsfähiger Steuerungstechnologien organisiert sein, allein um die schier unendliche Masse an Pendlern zu bewältigen. Dabei hat der motorisierte Individualverkehr bewiesen, dass er sich dem Effizienzversprechen entzieht. Die Beschleunigungs- und Entlastungseffekte eines flächendeckenden und leistungsfähigen Ausbaus des öffentlichen Verkehrs sind dagegen nicht vollständig ausgeschöpft.
Im Quartier belegt das Automobil im Privatbesitz den öffentlichen Raum, der für die Menschen benötigt wird. Deswegen hat es als Ausstattungsmerkmal von Haushalten ausgedient. Noch beschränkt sich eine an menschlichen Maßstäben orientierte und weitgehend auf den Kraftfahrzeugverkehr verzichtende Siedlungs- und Verkehrsgestaltung auf wenige Sonderbereiche, wie die Fußgängerzonen in den Innenstädten oder wenige autoreduzierte Wohnquartiere wie das Französische Viertel in Tübingen. In andere Bereiche dringt die alternative Planungsphilosophie nur spärlich vor. Oberstes Gebot vieler Stadtverwaltungen ist nach wie vor der Fluss des motorisierten Individualverkehrs – schnell, effizient, ungebremst. Nur ist es nicht vielmehr so, dass eine Quartiersgestaltung mit einer Vielzahl an Aufenthalts- und Nutzungsangeboten die Notwendigkeit, schnell entlegene Orte aufsuchen zu müssen, in einem gewissen Maß überflüssig macht?
Die Mobilitätsforschung, die zusehends über Disziplinen hinweg zusammenarbeitet, ist sich einig: Die Verkehrsplanung und Siedlungsentwicklung sollte sich auf die Struktur der kompakten, europäischen Stadt mit ihrer Nutzungsmischung und langsamen Geschwindigkeiten zurückbesinnen – auf eine Stadt der kurzen Wege. Um dies zu erreichen, schlagen Akteure aus Wissenschaft und Praxis etwa vor, Zielkorridore und Strategien im Sinne einer ganzheitlichen und reflektierten Herangehensweise zu entwickeln.
Fazit
Die Verkehrsplanung der vergangenen Jahrzehnte passte unsere Städte an das Automobil an, der öffentliche Raum wurde zugunsten des motorisierten Verkehrs umverteilt; der Fuß- und Fahrradverkehr wurde erst verdrängt und spielte später kaum mehr eine Rolle in der Planung. Eine Förderung nachhaltiger Mobilität kann deswegen nur mit Einschnitten bei den Privilegien des motorisierten Individualverkehrs einhergehen. Dies gilt sowohl für die Aufteilung des Raumes – hier ist es vor allem der Platz, den abgestellte Automobile blockieren, der für nachhaltige Mobilität und Aufenthalt benötigt wird – als auch für die Neubewertung von Zeit, und zwar hinsichtlich von Geschwindigkeiten und Freigabezeiten an geregelten Kreuzungen. Einschnitte und Restriktionen für den Automobilverkehr sind für die Gestaltung nachhaltiger Mobilität unabwendbar. Allerdings enthalten gerade Restriktionen gegenüber dem Automobilverkehr politischen Sprengstoff. Politiker und Stadtplanerinnen müssen ein erhebliches Maß an Mut und Durchsetzungskraft aufbringen, wollen sie Städte für Menschen schaffen.