I. Das 20. Jahrhundert als "Jahrhundert der Jugend"
Das 20. Jahrhundert kann man aus unterschiedlichen Gründen als "Jahrhundert der Jugend" bezeichnen. Zum einen konnte sich im 20. Jahrhundert "Jugend" als Lebensphase des Aufwachsens in Deutschland so durchsetzen, dass sie zum allgemeinen biografischen Muster für fast alle Heranwachsenden wurde. Noch im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert traten viele junge Menschen direkt aus der Kindheit in ein arbeitsbelastetes Erwachsenenalter ein. Nur wenige junge Menschen erlebten den Luxus eines Moratoriums der Jugendzeit, in dem viele Zwänge der Kindheit entfielen, aber das eigene Leben und vor allem die Existenzsicherung noch nicht selbstverantwortlich gestaltet werden musste. Nur Heranwachsenden aus gut situierten Verhältnissen (und dann wiederum noch einmal überwiegend den männlichen Heranwachsenden) war es erlaubt, eine Zeit der (Schul-)Ausbildung ohne Erwerbsarbeit zu verbringen, sich in begrenzten Freiräumen mit Gleichaltrigen zu treffen und ein gemeinsames Jugendleben zu genießen, aber gleichzeitig noch den Schutz und die Unterstützung des Elternhauses haben zu können. Das änderte sich dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit der steigenden Prosperität ab den fünfziger Jahren rapide. Jetzt waren alle Heranwachsenden "Jugendliche", wenn auch noch immer unterschiedlich lang, mit unterschiedlichen Freiräumen und Möglichkeiten ausgestattet, von materiellen und sozialen Ressourcen abhängig und je nach Geschlecht ungleich behandelt.
Mit dieser Durchsetzung der "Jugend für alle" im zwanzigsten Jahrhundert ging allerdings keine Standardisierung der Jugendzeit als biografisches Muster einher. Die "Jugendzeit" als Lebensphase wechselte im 20. Jahrhundert mehrfach ihre Gestalt, differenzierte sich zudem aus und grenzte sich immer diffuser vom Erwachsenenalter ab, sodass im 20.'Jahrhundert, kaum dass sich die "Jugend" etabliert hatte, schon wieder vom "Ende der Jugend" die Rede war . Diese Entwicklung der Ausbildung und der Ausdifferenzierung der Jugend vollzog sich unter verschiedenen gesellschaftlichen Einflüssen. Dazu zählen etwa Schulreformen mit tendenzieller Angleichung von Lebenschancen und der Verlängerung der Ausbildungszeiten , Wertewandel , Kommerzialisierung und Durchdringung der Lebenswelt mit Medien , politische Umwälzungen und nicht zuletzt auch jugendspezifische Einflüsse.
So entstanden seit Anfang des Jahrhunderts vielerlei Jugendkulturen, mit denen sich Jugendliche von der Erwachsenenwelt absetzten und eigene ästhetische Stile, Lebensmuster und Werte kreierten . Die Vielfalt und das Expandieren dieses jugendkulturellen Lebens können als zweiter Grund dafür aufgeführt werden, das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert der Jugend zu erklären. Ihr Einfluss auf die gesamte Sozialkultur Deutschlands wie der gesamten (westlichen) Welt war und ist prägend; Kunst, Mode, Musikrichtungen, Lebensziele und Werte allgemein orientieren sich im 20. Jahrhundert immer stärken an jugendkulturellen Vorgaben, und die Freizeitindustrie sowie der Konsumsektor haben sich darauf eingestellt. Und schließlich lässt sich noch ein dritter Grund anführen, nämlich die Durchsetzung von Jugendlichkeit als universale und normative Sozialkulturvorgabe in Deutschland und allen anderen modernen Gesellschaften. Waren ehemals die Phasen Kindheit und Jugend untergeordnete "Statuspassagen" ins Erwachsenenleben, so erringt die Jugendzeit im 20. Jahrhundert "eigenes Recht" , d. h. einen hohen Eigenwert und eine starke Attraktivität für die Heranwachsenden. Für junge Menschen verliert damit das Erwachsenenalter als Zielwert an Bedeutung; sie wollen möglichst lange Jugendliche bleiben. Und viele Erwachsene, auch wenn sie schon längst nicht mehr als "Postadoleszente" bezeichnet werden können, pflegen weiterhin den Habitus der Jugendlichkeit, indem sie sich modisch-jung geben. Vergleicht man etwa Fotoaufnahmen von 40-Jährigen der letzten 100 Jahre, so sind - jedenfalls in äußerlicher Wahrnehmung - aus ehemals fast schon "alten" Menschen gegen Ende des 20. Jahrhunderts späte Jugendliche geworden .
Diese Vorgänge haben sich auch auf die Beschäftigung mit und die Beachtung der Jugend ausgewirkt. Nie zuvor wurde Jugend so stark thematisiert und erforscht, über Jugend so intensiv diskutiert wie im vergangenen 20. Jahrhundert; und nie zuvor konnte sich aus der Alterspanne Jugend (die außerhalb des klassischen Erwachsenenalters liegt!) eine so universale Idealfigur für fast alle Erwachsenen entwickeln. Langsam beginnend mit dem Anfang des Jahrhunderts setzte nach und nach die "Karriere" von Jugend als eigenständige Lebensphase bzw. Jugendlichkeit als Lebenshaltung ein; bis sich das, was Friedrich Tenbruck schon früher als "Puerilismus der Gesamtkultur" beschrieben hatte , ab den siebziger Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts über nationale Grenzen hinweg als normativer Maßstab für ein "gutes" bzw. attraktives Erwachsenenleben durchsetzen konnte. Das Ganze trägt leicht paradoxe Züge, wurden doch die Menschen im 20. Jahrhundert einerseits immer älter (verbunden mit einem steigenden Anteil von Alten in der deutschen Bevölkerung) und suchten sich dennoch immer jugendlichere Idealbilder, an denen sie sich in körperlicher, ästhetischer und kultureller Hinsicht auszurichten bemühten.
Jugend als Begriff und Konzept zeigt also Flexibilität und lässt sich, wie oben angedeutet, sogar auf "junge Alte" übertragen. Auch sonst wurde und wird der Begriff Jugend im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch keinesfalls einheitlich verwendet. Er kann junge Menschen zwischen 13 und 18 bzw. 21 Jahren als Personengruppe meinen, sich also auf eine Zeitspanne der Biografie beziehen, die Jugend genannt wird; Jugend kann ein historisch entstandenes soziales Phänomen bezeichnen oder den jeweiligen Möglichkeitsraum der Entwicklung, den eine Gesellschaft der nachwachsenden Generation von Jugendlichen bietet. Jugend kann als Erziehungsaufgabe, als gesellschaftliches Problem oder auch entwicklungspsychologisch als Reifephase mit spezifischen psychosozialen Entwicklungsaufgaben verstanden werden, und schließlich ist Jugend auch ein juristischer Terminus. In allen Fällen geht es nicht um etwas naturhaft Vorgegebenes. Denn obgleich heute vielen die Jugendphase wie eine Naturkonstante erscheinen mag, ist sie - historisch gesehen - noch relativ jung. Auch das hat die intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit Jugend im 20. Jahrhundert gelehrt: Sogar der historische Rückblick auf das 20. Jahrhundert lässt sowohl geschichtliche Relativität, gesellschaftliche Bedingtheit, aber auch gewisse Konstitutiva eines Gleichaltrigenlebens Heranwachsender erkennen, das wir Jugend nennen. Zu den notwendigen gesellschaftlichen Vorbedingungen einer peerorientierten und kulturell je besonderen Lebensphase Jugend gehören Institutionen wie z. B. die Schule, die als Kristallisationskerne von Gleichaltrigenkulturen wirken ; weiter werden Heranwachsende erst über eine gewisse Freistellung von Arbeit, Familie, Ehe, Verantwortlichkeit und über eine gewissen Autonomie der Lebensführung zu Jugendlichen. Diese Voraussetzungen für Jugendlichkeit und eine im heutigen Sinne charakteristische Jugendphase waren zu Beginn des Jahrhunderts längst nicht für alle jungen Menschen gegeben. Region, Geschlecht und Sozialstatus trennten die Heranwachsenden (eigentlich während der gesamten 100 Jahre) in unterschiedliche Varianten des Jungseins, für die, entsprechend der sozialen und historischen Differenzphänomene, auch unterschiedliche Jugendsemantiken gebraucht wurden.
Diese verschiedenen Jugendsemantiken und gesellschaftlichen Vorstellungen über Jugend durchziehen das gesamte 20. Jahrhundert . Zwar entspricht dabei das unterschiedliche Reden über Jugend in gewisser Weise auch den unterschiedlichen empirischen Jugendphänomenen. Jugendsemantik muss jedoch strukturell vom realen Jugendleben unterschieden werden, sie besitzt einen konstruktiv-virtuellen Charakter, erlangt dann jedoch im Diskurs über die Jugend wiederum Realität. Nach 1900 konnten sich über die vielfältigen Entdeckungen der Jugend durch Politik, Wissenschaft, Konsum, Medien etc. die unterschiedlichsten Jugendsemantiken ausbilden, die jede für sich wiederum Rückwirkungen auf Jugendliche gezeigt hat - pädagogische, sozialpolitische oder rechtliche. Wenn man also die historische Entwicklung der Jugend von 1900 bis 2000 in den Blick nimmt, dann handelt es sich sowohl bei jugendtheoretischen Aufrissen als auch bei empirischen Fakten um Realgeschichte. Die Bilder der Jugend und die konkreten Lebensumstände Jugendlicher haben seit 1900 in wechselseitiger Verschränkung die Geschichte der Jugend bestimmt.
Im Weiteren lehnen sich die Ausführungen an den Band Jugend im 20. Jahrundert an . Die folgenden Kapitel dieses Beitrages können natürlich nicht den gesamten thematischen Umfang des zugrunde liegenden Jugendbandes nachzeichnen, vielmehr beschränke ich mich hier auf die Darstellung der wissenschaftlichen Sicht der Jugend in Deutschland (Sichtweisen von Jugend im 20. Jahrhundert), wobei ich mich auf zwei spezielle Aspekte konzentriere, nämlich auf die Orientierung Jugendlicher in Deutschland an Vorbildern und auf das Phänomen Armut und Verwahrlosung von Jugend, das auch in der Bundesrepublik Deutschland als Wohlstandsgesellschaft an der Wende zum 21. Jahrhundert noch immer von Belang ist.
II. Sichtweisen der Jugend im 20. Jahrhundert
"Jugend" im 20. Jahrhundert ist nicht nur ein empirischer Tatbestand, der objektivistisch untersucht und abgebildet werden könnte. Vielmehr kommt es in den Anfängen des 20. Jahrhundert nach der Etablierung von Pädagogik, Psychologie, Soziologie und auch des Rechts als moderne wissenschaftliche Disziplinen zu verschiedenen Etikettierungen von Jugend. Die "Jugend" wird zu einer wissenschaftlichen Kategorie und damit auch zu einer wissenschaftlichen Konstruktion. Diese wissenschaftlich-disziplinären Wirklichkeitskonstruktionen über "Jugend" basieren auf unterschiedlichen Logiken der Disziplinen; in ihnen verstecken sich normative Setzungen über Jugend, sie werden geführt von Theorieströmungen, etwa
"Großtheorien" wie der Psychoanalyse (Freud), den entwicklungspsychologischen Stufentheorien (Piaget, Erikson u. a.), des strukturalen Funktionalismus als Gesellschaftstheorie (Parsons), aber auch von reformpädagogischen Annahmen, Anthropologien, kulturtheoretischen Perspektiven, Delinquenz- und Devianztheorien. So entwirft die Wissenschaft im 20. Jahrhundert unterschiedliche Jugendbilder, die letztendlich auch von dem zur Verfügung stehenden Methodenrepertoire beeinflusst werden. "Jugend" wird als "Problem", als zu "erziehende Größe", als "Moratorium", als "Ergebnis der Verhältnisse", als "Entwicklungsaufgabe", als "Motor für gesellschaftlichen Progress und Kreativität" oder als "labile Phase der Identitätsbildung" stilisiert.
Diese Jugendmetaphern der Wissenschaft werden nun einerseits interdisziplinär gehandelt, sie verlassen andererseits aber auch die Sphäre der Wissenschaft und erlangen praktische Relevanz. Die Politik, die Rechtsprechung, die schulische und außerschulische pädagogische Praxis, die mediale Úffentlichkeit, das Alltagsdenken und letztendlich auch das Selbstverständnis von Jugendlichen werden dadurch beeinflusst. So finden sich z. B. entwicklungspsychologische Stufentheorien der Reifung im Jugendalter in der Praxis des Erziehungssystems wieder, sozialisatorische Außeneinflüsse werden von jugendlichen "Delinquenten" als Legitimation ihres Handelns bemüht, der Kinder- und Jugendschutz wird institutionalisiert, die deutsche Politik des 20. Jahrhunderts instrumentalisiert in den verschiedenen Phasen von Staatssystemen immer wieder die Rolle der Jugend als Hoffnungsträger und Gestalter einer "neuen Zeit" (besonders radikal im Nationalsozialismus), und Eltern orientieren sich zunehmend an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erziehungsmaximen. Zwar erscheinen im Rückblick viele wissenschaftliche Jugend-Kategorisierungen als zu grobschlächtig (etwa die an Karl Mannheim ausgerichteten Generationstypiken), spekulative Jugendbilder (wie die von Eduard Spranger ) wurden durch empirische Beschreibungen jugendkulturellen Lebens (etwa durch die Shell-Jugendstudien ) ersetzt, und gegen Ende des Jahrhunderts wird die Jugend, für die die Grammatik lediglich den Singular vorsieht, in ein plurales Bild vieler "Jugenden" verwandelt . Trotzdem behält die Wissenschaft weiterhin den Status einer bestimmenden Größe für das, was unter "Jugend" verstanden wird.
1. Das Jugendbild der Pädagogik
Die Vorstellungen und Konzepte, die sich die Pädagogik im 20. Jahrhundert von Jugendlichen machte, thematisiert Wilfried Ferchhoff . "Jugend" war am Anfang des 20. Jahrhunderts kein pädagogisch gängiger Begriff zur Bezeichnung von Heranwachsenden - es gab allerdings die "Jugend" im heutigen Sinne auch noch nicht. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts verwendete man zur Bezeichnung von (männlichen) Jugendlichen den Begriff "Jüngling" . Mit dem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann allgemein durchsetzenden "Jugend"-Konzept waren freilich andere Vorstellungen verbunden als die idealistischen Bilder vom "deutschen" oder "christlichen Jüngling" - ein neuer Begriff musste demnach qualifiziert werden: der des Jugendlichen. Dieser Begriff des Jugendlichen ist zunächst in der Rettungshausbewegung des 19. Jahrhunderts vorgeprägt und betont vor allem die devianten und pädagogisch zu bearbeitenden Aspekte einer in materieller und seelischer Not aufwachsenden Jugend. Vor allem entwicklungspsychologische Forschungen haben dann im 20. Jahrhundert das Bild der Jugend als einer gefährlichen oder doch problematischen Altersphase entmythologisiert und darauf verwiesen, dass man Heranwachsenden pädagogisch am besten mit Toleranz, Verständnis und vor allem Geduld begegnen solle. Der "Jugendliche" wechselte also zu einer neutralen oder sogar positiven Figur, obgleich mit Jugendlichkeit auch weiterhin Gefährdung, Abweichung, Unberechenbarkeit und Probleme assoziiert wurden.
Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen lässt sich der Wandel der pädagogischen Jugendkonzepte vom Jüngling des 19. bis zum Jugendlichen am Ende des 20. Jahrhunderts verfolgen. Folgenreich war die Tatsache, dass die pädagogische Jugendkunde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr neues Jugendbild am Normal-Lebenslauf von großstädtischen Gymnasiasten entwickelte und die arbeitende Jugend jahrzehntelang überhaupt nicht in den Blick nahm. Vor allem Eduard Spranger beeinflusste mit seiner "Psychologie des Jugendalters" von 1924 die Pädagogik bis in die sechziger Jahre .
Mit dem Nationalsozialismus wurden dann neue pädagogische Jugendbilder bedeutsam, die bis zum Verbot der bündischen Jugend mit deren Jugendkonzepten konkurrierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden in der pädagogischen Diskussion über Jugend zunächst alte Traditionslinien wieder aufgenommen, jedoch neuere psychologische Erkenntnisse und zunehmend auch sozialwissenschaftlich-empirische Studien einbezogen. Mit der Pluralisierung der (jugendlichen) Lebenswelten im Zuge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse . . . differenzieren sich auch die Jugendszenen aus, so dass auch das Bild der Pädagogik von der "Jugend" (bzw. den "Jugenden") immer facettenreicher ausfällt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist es dann zunehmend von diesen Pluralisierungen geprägt. Die Vielfalt der Jugendkulturen wird in vielerlei empirischen Studien aufgezeichnet (vgl. z. B. die Shell-Studien), und es entsteht ein breiter jugendkultureller Diskurs, der nicht nur die pädagogische Faszination über die Jugend widerspiegelt, sondern auch die Sorge, inwieweit die Verselbstständigung der Jugend eine soziale Integration Heranwachsender, eine Partizipation an gesellschaftlichen Institutionen oder die Beteiligung an Politik beeinträchtigen könne. Schließlich kommt es auch zu einer pädagogischen Skepsis gegenüber den ansonsten eher positiv bewerteten Formen jugendkultureller Selbstorganisation. Gerade die Verbreitung der rechten Jugendkulturen in den achtziger und neunziger Jahren enttäuschte viele Pädagoginnen und Pädagogen, die bis dahin in der langen Tradition seit Gustav Wyneken im festen Glauben an die Kraft der Jugend als gesellschaftliche Erneuerer gestanden haben.
2. Das Jugendbild der Soziologie
Ab der Mitte des 20. Jahrhundert, so lässt es sich auch aus dem Beitrag Die "Jugend" der Soziologie von Heinz Abels ablesen, nimmt sich die Soziologie (zuerst und prominent durch Schelsky ) verstärkt der Jugend als gesellschaftstheoretisches Thema an und dominiert den jugendtheoretischen Diskurs. Auch die pädagogischen Jugenddebatten und Jugenduntersuchungen richten sich immer stärker an sozialwissenschaftlichen Standards und Methoden aus; Jugend wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vornehmlich als eine gesellschaftliche Größe interpretiert und diskutiert. Verbunden mit dieser Tendenz ist eine Politisierung des Jugenddiskurses. Da Jugend nun als Transmissionsphase gesellschaftlicher Reproduktion erscheint und die gesellschaftlichen Orientierungen, Werthaltungen und Handlungsmuster der Jugend demnach als wichtige Einflussgrößen für die Kontinuität bzw. den Wandel sozialer Ordnung von den Erwachsenen (mehr oder minder skeptisch) betrachtet werden, wird der soziologische Blick auf die Jugend auch immer durch die Sorge gelenkt, die Jugend würde die Perpetuierung des Sozialen "von Generation zu Generation" unterminieren. Je nach gesellschaftspolitischer Verortung der Betrachtenden oder der zugrunde liegenden Theorien galt in zyklischer Wiederkehr die Kontinuität der gesellschaftlichen Ordnung entweder durch Generationenkonflikte oder durch eine oppositionelle oder deviante Haltung der Jugend gefährdet; man war sich nicht sicher, ob die Heranwachsenden genügend Engagement und Leistungsbereitschaft zeigen würden; oder ob sie bereit seien, den Prozess sozialen Wandels hinreichend zu unterstützen. Eher die Ausnahme stellten positive sozialwissenschaftliche Einschätzungen über die Jugend dar, z. B. in den Reformphasen der alten Bundesrepublik. Politikabstinenz, Institutionenmüdigkeit, die "stille Revolution" des Wertewandels, rechtsradikale Tendenzen und Jugendgewalt überschatteten jedoch die letzten Jahrzehnte - trotz einer neuen Variante ethnografischer Jugendsoziologie in dieser Zeit, die'sich weniger theoretisch gibt, sondern eher feuilletonistisch-begeistert und phänomenologisch-beschreibend die verschiedenen jugendkulturellen Entäußerungen, Moden und Trends katalogisiert.
Dieser ambivalente soziologische Blick auf die Jugend erzeugt eine geschichtliche Folge von Jugendbildern der Soziologie, die um eine adäquate theoretische Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Bedeutung von Jugend ringen mussten, und zwar sowohl gegeneinander konkurrierend als auch im Widerstand gegen die Uneindeutigkeit und Differenziertheit jugendlicher Phänomene.
3. Das Jugendbild der Psychologie
Neben der Soziologie wurde der wissenschaftliche Jugenddiskurs im 20. Jahrhundert wesentlich durch die Psychologie bestimmt. Die Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts ging, so Rainer Dollase, "vom Kinde aus", d. h., die Psychologie beschäftigte sich zuerst mit den Entwicklungsprozessen in der Kindheit, um sich dann auch auf die Jugendphase zu erweitern. Hier gibt es Parallelen zur Pädagogik, die in ihren Anfängen auch auf Kindheit und auf die Erziehung von Kindern ausgerichtet war, um dann, mit der Entdeckung und Entstehung der Jugend, diese anschließende Lebens-phase in ihre Theoriemodelle und Praxis aufzunehmen. Allerdings hat die Psychologie keine universitäre Disziplin einer Jugendpsychologie ausgebildet, sondern die Jugendphase innerhalb entwicklungspsychologischer Analysen als eine Entwicklungsphase neben anderen verstanden und nicht gesondert behandelt. Trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen nach 1945 haben sich die theoretischen und methodischen Zugänge der Psychologie zur Jugend in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik nicht wesentlich unterschieden. Psychologische Systematisierungen können also sowohl für west- wie auch für ostdeutsche Verhältnisse betrachtet werden. Maßgeblich für beide war für die Psychologie der Jugend ein empirischer Zugang, der ein breites Spektrum von Einflüssen auf die Reifung und Entwicklung innerhalb der Jugendphase multifaktoriell-quantifizierend erheben und analysieren will, sodass auch spezifische kultur- und zeitabhängige Variablen nur als Dimensionen des jeweiligen multifaktoriellen Verursachungssets erscheinen. Paradigmatische bzw. thematische Schwerpunkte, an denen sich die "Jugend" der Psychologie in wechselnden Intensitäten und Schwerpunktsetzungen ausgerichtet hat, betreffen dabei Fragen wie: Welches entwicklungs- bzw. sozialpsychologische Verhältnis besteht zwischen Jugend und Gesellschaft? Ist die Jugendphase eher als konfliktbehaftete oder als "normale" Lebensphase der Entwicklung zu verstehen? Welche Position ist der Jugendphase in der gesamten Lebensspanne zuzuordnen und welche interne Periodik zeichnet die Jugendphase aus? Welche empirisch erhobenen Jugendphänomene lassen sich Alterseffekten zuordnen, sind demnach jugendspezifisch? Welche Phänomene müssen als historisch, also zeitabhängig angesehen werden, und welche Rolle spielen dabei Kohorten (Generationen)? Mit welchen Methoden (in der Spannbreite von phänomenologisch-selbsterkundenden, quantitativen bzw. qualitativen Zugangsweisen) erforscht die Psychologie die Jugend bzw. sollte sie'erforschen? Und schließlich: Wodurch werden psychische Dispositionen Jugendlicher bestimmt (Anlage, Umwelt, das Individuum selbst)?
4. Das Jugendbild des Rechts
Im sozialwissenschaftlichen Jugenddiskurs wird häufig übersehen, dass Jugend auch eine juristische Größe ist bzw. dass das Verhältnis zwischen Jugendlichen, Erwachsenen und der Gesellschaft resp. ihren Teilbereichen und Institutionen auch rechtliche Dimensionen besitzt . Das Rechtssystem mit seinen Bewertungen von Jugendlichen in der Rechtsordnung und seinen Jugendgesetzen spiegelt hierbei, so Detlev Frehsee in seinem Beitrag Die "Jugend" des Rechts, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wider, in die Jugendliche im 20. Jahrhundert eingebunden waren. Politik, Wirtschaft und Verwaltungen, Eltern, der Bildungs- und Erziehungsbereich, aber auch der Konsum- und Freizeitsektor wirken mit ihren Interessen und Ordnungsvorstellungen auf die rechtliche Stellung von Jugendlichen ein, und es hat den Anschein, als ob Jugendliche im 20. Jahrhundert innerhalb dieser Gemengelage von widerstreitenden Interessen die geringste Rolle gespielt haben und sich nicht als Agenten "ihrer" Rechte emanzipieren konnten. Das Jugendrecht des 20. Jahrhunderts bzw. das Jugendbild des Rechts in diesem Zeitraum ist gekennzeichnet von einem traditionellen Verständnis, in dem Jugend, ähnlich wie Kindheit, als eine zu bestimmende, disziplinierende und zu regelnde Größe verstanden wird. Ohne die Fortschritte der Jugendgesetzgebung negieren zu wollen, zieht sich doch durch die letzten 100 Jahre eine deutliche Kontinuität eines deutschen Rechtsverständnisses, bei dem Elterninteressen, ordnungspolitische Kalküle sowie ein autoritatives und an Prävention vor Verwahrlosung und Delinquenz ausgerichtetes Jugendbild dominieren. Die rechtliche Situation der Jugendlichen vergibt und begrenzt (Maß-)Regelungsbefugnisse an Eltern, Erziehungsanstalten, Behörden und Institutionen; und auch am Ende des Jahrhunderts konkurriert das Recht von Jugendlichen auf ein adäquates Aufwachsen unter angemessenen sozialisatorischen Verhältnissen, auf Selbstbestimmung und die Möglichkeit, relevante Interessen z. B. auch gegen Eltern autonom vertreten zu können, noch immer mit gegenläufigen Tendenzen, die sich eher an elterlicher, polizeilicher oder staatlicher Gewalt ausrichten. Die rechtliche Jugenddebatte bewegt sich während des gesamten Jahrhunderts zwischen den Kategorien von Hilfe, Fürsorge, Kontrolle, Strafe, Erziehung oder Besserung.
Werden nach 100 Jahren Rechtspraxis und Rechtsdiskussion eher Rechte an Jugendliche oder für Jugendliche vergeben? Eine häufig nur vermeintliche Liberalisierung des rechtlichen Umgangs mit Jugendlichen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts kann auf diese Frage keine eindeutige Antwort geben - ebenso wenig wie darauf, ob im Jugendbild des Rechts der Straf- und Züchtigungsgedanke, wie schon zu Beginn des Jahrhunderts mit der Herausbildung eines eigenständigen Jugendstrafrechts diskutiert wurde, durch eine präventive und unterstützende Haltung ersetzt worden sei. Im historischen Ausblick gibt es jedenfalls keinen Anlass, das 20. Jahrhundert als einen Zeitrahmen zu verstehen, in dem sich das deutsche (Jugend-)Recht eindeutig von einer autoritären, bewahrenden und erzieherisch-züchtigenden Tradition lösen konnte. In vielen Bereichen der Gesellschaft werden am Ende des 20. Jahrhunderts wieder "klare Verhältnisse" gegenüber einer Jugend gefordert, die sich unter schwierigen Lebensumständen und unsicheren Zukunftsaussichten noch immer delinquent verhält und für viele Erwachsene "irrationale" und damit unerklärliche Formen von Abweichung und Gewalt hervorbringt. Hier droht die Gefahr, dass die Jugendbilder des Rechts auch weiterhin gesellschaftliche Einstellungen widerspiegeln werden, die sich über das 19. und 20. Jahrhundert hinweg konservieren könnten.
III. Jugendliche in Deutschland und ihre Orientierung an Vorbildern
Eine Sorge um die Jugend wurde im 20. Jahrhundert eine Zeit lang durch die Frage ausgedrückt, ob sich Heranwachsende an den "richtigen" Vorbildern orientieren würden. Der implizite Schluss dabei war (und ist noch immer): Personale Vorbilder können die sittliche und moralische Entwicklung Heranwachsender anleiten, aber eben nicht nur positiv, sondern auch negativ, bewertet jeweils in der Perspektive der betreffenden Erwachsenen. Auch pädagogisch sind Vorbilder immer instrumentalisiert worden, vom Struwwelpeter bis Ernst Thälmann. Als abschreckendes Beispiel respektive als Leitfigur dienten und dienen diese pädagogisierten Personalisierungen (Vorbilder) dann dazu, abstrakten Werten oder Erziehungszielen ihren Konstruktcharakter zu nehmen, sie für Jugendliche anschaulich und auf das konkrete Leben übertragbar zu machen. Aber es sind eben nicht immer die erwünschten Vorbilder, an denen sich Jugendliche ausrichten. Jugendliche bilden sich eigene Idole, machten "Systemfeinde" wie Che Guevara (in Westdeutschland) oder die Beatles (in Ostdeutschland) zu Ikonen, formten über "suspekte" Figuren wie Elvis Presley ihre Jugendkulturen oder drücken Sympathien (und Antipathien gegen die Gesellschaft) durch Symboliken aus dem Giftschrank der deutschen Geschichte (Hakenkreuze etc.) aus. Weiterhin werden Jugendliche ab der Mitte des Jahrhunderts verstärkt durch synthetische Projektionsfolien aus den Medien und der Kulturindustrie versorgt. Der Urwalddoktor Albert Schweitzer, einst Leitfigur für Humanismus und Altruismus, scheint heute seine Entsprechung in musikalischen Live-Aid-Aktionen zu finden, die "Gutes" mit Spaß, Pop-Prominenz und Eventcharakter verbinden.
Hartmut M. Griese beschäftigt sich mit diesem Thema, und er geht nicht nur auf jugendliche Leitbilder und Idole ein, sondern rekonstruiert auch die (idealen) Jugendbilder der Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, über die jugendliche Orientierungen kontrastiert und eventuell auch beeinflusst werden. Es stellt sich hierbei die berechtigte Frage, ob der Modernisierungsprozess im 20. Jahrhundert überhaupt noch ganzheitliche personale Orientierungen Jugendlicher unterstützt oder ob nicht individualisierte und biografisierte Lebensmuster an die Stelle personaler Orientierungen getreten sind. Verschiedene Jugenduntersuchungen und Studien geben einen empirisch fundierten Blick in die Thematik frei. Diese Quellen legen den Schluss nahe, dass für die identitäre Selbstsicht Jugendlicher zum Ausgang des Jahrhunderts personale Vorbilder eine immer geringere Rolle spielen und durch die Orientierungsgrößen jugendlicher Gruppenstile sowie durch gesellschaftlich vorgegebene Lebensziele (Erfolg, Schönheit, Jugendlichkeit usw.) ersetzt werden. Dabei kommt es zu einer sich komplex verschränkenden und widerstreitenden Tendenz: Die (idealen) Jugendbilder von Erwachsenen (z. B. Eltern oder Pädagogen) treffen als Konstrukte auf differente Selbstbilder von Jugendlichen, und die von Jugendlichen konstruierten Bilder und Typiken der sie umgebenden Erwachsenenwelt treten in eine strukturgleiche Opposition sowohl zu den Selbstkonstruktionen von Erwachsenen als auch den idealisierten jugendlichen Vorstellungen über ein zukünftiges Leben. Der moderne Generationenkonflikt, so hat es den Anschein, könnte sich zukünftig in der Arena widerstreitender Orientierungen Erwachsener und Jugendlicher als Konflikt der "Konstrukte" abspielen.
IV. Ein dauerhaftes Phänomen in Deutschland: Jugend und Verwahrlosung
Das Bild der Jugend in Deutschland wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend durch die stark angestiegene Prosperität einer Konsum- und Wohlstandsgesellschaft geprägt. Relativer Wohlstand und selbstverständlicher Rückgriff auf materielle Ressourcen (trotz postmaterieller Werthaltungen), kulturelle und Konsumautonomie Ju-gendlicher (trotz lang andauernder wirtschaftlicher Unselbstständigkeit) bestimmen die globale Gestalt einer verlängerten Jugendphase. Allerdings trüben ambivalente Tendenzen wie z. B. ein sich verknappender Jugendarbeitsmarkt, Konkurrenz im Bildungs- und Ausbildungswesen, Jugendarmut oder Orientierungsprobleme dieses Bild einer saturierten Jugend. Und an den "Rändern" der integrierten, materiell gut gestellten Jugend befinden sich noch immer die Gruppierungen, die als verwahrloste Jugend bezeichnet werden.
In historischer Kontinuität seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, so beschreibt es Titus Simon , war ein Teil der Jugend auch immer charakterisiert durch Phänomene von Armut, Deklassierung, Außenseitertum, Kriminalität oder Sucht. Folgt man dem Gang durch 100 Jahre "verwahrloster", "asozialer" Jugend, dann erkennt man, dass unterschiedliche Gründe dazu geführt haben, warum Jugendliche entweder auf der Straße oder in Abbruchhäusern leben, nicht zur Schule gehen, sich sozialen Regeln widersetzen, mit ihrer Andersartigkeit stören oder provozieren. Armut, (sub-)proletarische Herkunft, Widerstand gegen den Staat, Verelendung, Drogen, broken-home-Verhältnisse, jugendkulturelle Lust an dem Leben als Outlaw und viele andere Gründe erzeugen immer wieder jugendliche Ausreißer und Vagabunden, konfrontieren die Úffentlichkeit mit dem "Störfaktor" Jugend. In dieser Beziehung haben sich auch die Bundesrepublik und die DDR nicht unterschieden. Auch der Sozialismus kannte Jugendliche als "Krawallmacher", "Halbstarke" und "Arbeitsverweigerer". Zu einer Integration oder Akzeptanz dieser Jugend ist es eigentlich nie gekommen, zu gravierend unterschieden sich ihre Lebensmuster von gesellschaftlich akzeptierten Normalentwürfen. Die unterschiedlichen historischen Phasen des Jahrhunderts und die unterschiedlichen politischen Verhältnisse in Deutschland brachten lediglich unterschiedlich abgestufte Präventions- und Interventionsformen gegen Verwahrlosung hervor. Akzeptanz konnten und können die betreffenden Jugendlichen nur dosiert erwarten, vermeintlich etwa durch den sozialromantischen Blick der sechziger und siebziger Jahre, in dem jugendliche Außenseiter- und Drogenmilieus als Anzeichen eines revolutionären Aufbruchs in eine neue Zeit missgedeutet wurden, oder durch die kontrovers diskutierte heutige akzeptierende Sozialarbeit. In den neunziger Jahren dagegen werden die Verhältnisse für die "verwahrlosten" Jugendlichen anscheinend wieder härter. Auch in die soziale Arbeit mit der Klientel dringen zunehmend regulative und ordnungspolitische Tendenzen, deren Hauptanliegen es ist, die "verwahrloste" Jugend aus dem Erscheinungsbild der Úffentlichkeit in Deutschland - wie es eigentlich schon immer versucht wurde - zu eliminieren.
V. Ausblick und Tendenzen: Jugend in Deutschland im 21. Jahrhundert
Zehn Jahre nach der Vereinigung der ehemals getrennten Gesellschaftssysteme Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik hat sich zwar eine weitgehende Anpassung Jugendlicher in den allgemeinen Lebens- und Wertehaltungen sowie in jugendkulturellen, materiellen und konsumptiven Orientierungen ergeben . Innerhalb der bundesdeutschen Jugend wird die alte Systemtrennung jedoch noch weiterhin fortleben, auch wenn sich die "Jugend in der DDR" wie die DDR überhaupt im zunehmenden zeitlichen Abstand ihrer ehemaligen Existenz zu einer historischen Episode, zu etwas Geschichtlichem wandelt. Differenzen leben jedoch insofern weiter, als sich gesellschaftliche Problemlagen wie Strukturkrisen, Ausbildungschancen und Arbeitslosigkeit stärker auf die Jugendlichen in den neuen Bundesländern auswirken. So bleibt auch die Jugend in der Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts noch eine Zeit lang getrennt nach Ost und West, und es steht zu befürchten, dass sich parallel zu den objektiv unterschiedlichen Lebensbedingungen Jugendlicher auch Mentalitätsdifferenzen halten bzw. weiter ausbilden werden.
Für alle Jugendlichen in Deutschland sind heute und werden zukünftig die Mediatisierung und Kommerzialisierung des Lebens ausschlaggebend sein. Das ausgehende 20. Jahrhundert war dadurch geprägt, dass sich die Medien zu einer mächtigen Sozialisationsinstanz, neben den traditionellen Erziehungsinstitutionen wie Elternhaus, Gleichaltrigengruppen und Schule, entwickelt haben. Jugendliche erfahren und "lernen" aus den Medien fast mehr als über die Schule und das Elternhaus, und mit Medien verbringen Jugendliche auch einen Großteil ihrer Freizeit. Damit verbunden ist die Kommerzialisierung des Jugendalters. Damit ist nicht nur gemeint, dass Geld und Materielles für Jugendliche eine immer größere Rolle spielen. Darüber hinaus werden die unterschiedlichen Lebensbereiche der Jugend auch zunehmend ökonomisiert. In der Freizeit, bei jugendkulturellen Statussymbolen wie Kleidung oder Accessoires, bei Events oder Reisen sind diejenigen Angebote für Jugendliche attraktiv, die gekauft und bezahlt werden müssen. Jugendliche werden dadurch zu einer umworbenen Konsumentengruppe, und die nicht kommerzielle außerschulische Jugendarbeit verliert an Bedeutung . Der Trend an sich verwundert kaum, werden die Jugendlichen in Deutschland doch durch eine Gesellschaft des kommerziellen Konsums geprägt und erzogen.
Problematisch kann diese Tatsache allerdings durch eine eklatante Disparität des Jugendlichenstatus werden. So wird sich in Zukunft noch der Widerspruch einer frühen komsumptiven Selbstständigkeit Jugendlicher und einer gleichzeitigen langen Phase der ökonomischen Unselbstständigkeit verstärken. Bis Heranwachsende heute wirtschaftlich autonom sind und bis ihnen überhaupt die Möglichkeit eröffnet wird, für sich und andere volle Verantwortung zu übernehmen, verstreicht eine lange Zeit. Die ehemals klassischen Einstiegsereignisse in das Erwachsenenalter wie Berufseintritt, Heirat oder Elternschaft verschieben sich zeitlich nach hinten, während ebenso klassische biografische Ûbergangsereignisse in das Erwachsenenalter wie die Selbstbestimmung der Sexualität, die Autonomie der Lebensführung, Konsummöglichkeiten oder eine eigene Wohnung heute schon auf das Jugendalter zutreffen und sich in der Lebenszeit verfrüht haben. Diese Liberalisierung und Autonomisierung der eigenen Lebensführung Jugendlicher trifft allerdings fast überwiegend für Bereiche zu, in denen Verantwortlichkeit für andere, Sorge für die Zukunft, Partizipation an gesellschaftlich oder politisch relevanten Entscheidungen ausgeblendet bleiben. Die Jugendlichen in Deutschland werden auf Grund struktureller Ursachen demnach immer stärker von gesellschaftlicher Verantwortung und einer lebenspraktischen Besorgung der eigenen Existenz abgekoppelt. Daraus folgt, dass in Deutschland aktuell und auch weiterhin eine Jugend heranwächst, die über die ersten zwei bis drei Jahrzehnte ihres Lebens in einer zwangsweisen Unselbstständigkeit gehalten wird, gleichzeitig aber weit reichende Autonomieerfahrungen macht, in eine selbstverständliche Anspruchshaltung "hineinsozialisiert" wird und zudem lernt, die Verheißungen und Verlockungen einer reichen Konsumgesellschaft auf die eigene Sinnerfüllung zu beziehen. Es darf deshalb nicht verwundern, wenn unter Jugendlichen die Bereitschaft nachlässt, sich langfristig und kontinuierlich zu engagieren, wenn politisch-gesellschaftliche Verantwortung über den Rahmen kurzfristigen Engagements abnimmt oder Parteien, Gewerkschaften, Vereine etc. über die Institutionenmüdigkeit der Jugendlichen klagen . Denn wenn eine Gesellschaft ihre nachwachsenden Generationen über eine immer längere Jugendzeit von vielen lebenspraktischen Verantwortungen "befreit", muss sie auch in Kauf nehmen, dass Jugendliche immer weniger oder zufälliger gesellschaftliche Belange als "ihre" Belange sehen und dementsprechend demotivierter werden, dafür aktiv einzutreten.
Internetverweise des Autors:
www.leske-budrich.de
www.juventa.de
www.dji.de
www.jugendforschung.de