I. Vorüberlegungen
Verfolgt man die Diskussion über die Bestimmung des Standorts Deutschland in Europa und in der Welt sowie über die größere "internationale Verantwortung" des wiedervereinigten Deutschlands, so fällt auf, dass deutsche Politiker, Publizisten und Wissenschaftler die machtpolitischen Kategorien Gleichgewicht und Hegemonie nicht verwenden. Mit Erstaunen oder gar mit Erschrecken nahm und nimmt man in Deutschland zur Kenntnis, dass im Ausland - in Frankreich und Großbritannien zumal - das macht- und ordnungspolitische Grundproblem immer wieder thematisiert wurde und wird. Es lautet: Wie sind Deutschland und Europa zu organisieren, damit Deutschland in Europa existieren und sich entfalten kann, ohne einen bestimmenden Einfluss in Europa zu erlangen bzw. auszuüben; also ohne eine deutsche Hegemonie in Europa zu schaffen?
Weltpolitisch ist nach dem Ende des "Gleichgewichts des Schreckens" die Grundproblematik von Hegemonie und Gleichgewicht dadurch auf neue Weise aktuell geworden, dass nach dem Zerfall der einen Supermacht die verbleibende Supermacht USA als "hyperpuissance" (Außenminister Hubert Védrine) eine herausragende machtpolitische Position im internationalen System einnimmt und ihre Hegemonialpolitik bei anderen großen Mächten eine Balancetendenz hervorruft. Diese Tendenz wird vor allem in Frankreich klar formuliert, während in Deutschland die schöne und gut gemeinte Rede von der transatlantischen "Partnerschaft" und der atlantischen "Gemeinschaft" vorherrscht
Die Vernachlässigung des Denkens in Kategorien der Machtbalance im Bereich der Außenpolitik gründet in Deutschland in einer zweifachen Tradition. Sie steht einerseits in jener ideengeschichtlichen Traditionslinie, die Politik als Verwaltung begreift, wodurch sie machtpolitisch gereinigt erscheint und sich somit das Balanceproblem gar nicht erst stellt. Andererseits eliminiert die gegenläufige Traditionslinie einer kruden, ungezähmten Machtpolitik erst recht den Balancegedanken. Indem sich die Deutschen nach 1945 von den Machtexzessen des Dritten Reiches distanzierten, wollten sie aus der bisherigen Geschichte der Neuzeit, die sich im Spannungsfeld zwischen Gleichgewicht und Hegemonie (Ludwig Dehio) bewegte, aussteigen
II. Die globale Grundfiguration
Um die Einordnung Deutschlands in das internationale System unter dem Aspekt des Gleichgewichts (mit seinen kooperativen und integrativen Varianten) diskutieren zu können, muss man sich der globalen Grundfiguration vergewissern, die nach dem revolutionären Zusammenbruch der bipolaren Welt in den neunziger Jahren evolutionär entstanden ist. Manche Autoren haben argumentiert, das neue System sei durch eine unipolare Machtverteilung gekennzeichnet und werde in absehbarer Zukunft unipolar bleiben
Eindeutig besteht eine voll ausgeprägte Multipolarität im geoökonomischen Bereich; genauer gesagt eine Tripolarität, denn die ökonomischen Potentiale konzentrieren sich auf die drei Regionen Nordamerika, Europa und Südostasien mit den großen Wirtschaftsmächten USA, EU und Japan als Kernmächten, zwischen denen eine ungefähre Balance besteht (beim Welthandel rangiert die EU sogar vor den USA). China dürfte demnächst ebenfalls zu einer führenden Wirtschaftsmacht werden. Im Zuge der "Globalisierung" (die im Kern eine Regionalisierung ist) wird der "neue Regionalismus", die Vitalisierung schon bestehender Integrationsverbände (wie die EG/EU) und die Entstehung neuer Regionalorganisationen, flächendeckend zu einem strukturierenden Prinzip der neuen geoökonomischen Weltordnung
In der Zusammenschau ergibt sich, dass - gesamtpolitisch betrachtet - die USA, Russland, China, Japan und die EU (mit den Führungsmächten Frankreich, Deutschland, Großbritannien) eine Spitzengruppe bilden. Diese gesamtpolitische Konfiguration der Fünf kann am besten dadurch bildlich veranschaulicht werden, dass man (statt der üblichen pentagonalen Figur) die USA in der Mitte eines Vierecks aus Russland, China, Japan und der EU einzeichnet (wie es von dem chinesischen Politikwissenschaftler Feng Zhong Lin angeregt wurde). Ein solches Bild macht die zentrale, herausragende Position der USA und die multipolare Gesamtstruktur augenfällig. In diesem gesamtpolitischen Zusammenhang ist das Dreieck USA-EU-Japan mit der geoökonomischen Triade identisch, in der die USA eine balancierende Mit-Führungsmacht sind. Indes, nur die USA sind in allen Teildreiecken vertreten. Sie sind die herausragende globale Zentralmacht in der Spitzengruppe, aber ihre Position wird relativiert durch die politische und ökonomische Multipolarität.
Unter den skizzierten strukturellen Bedingungen entsteht einerseits die Tendenz der USA, die Chancen der gobalen Zentralmachtposition hegemonial zu nutzen (mit der Neigung zum Unilateralismus), und andererseits die Gegentendenz der anderen Mächte, die Ansätze der Multipolarität zu stärken und auszubauen. Das Ergebnis ist eine gemäßigte Hegemonialpolitik der USA und eine kooperative Balancepolitik der vier anderen Mächte - wobei die EU der einzige Machtpol ist, der nicht von einem Staat, sondern von einem regionalen Staatenverbund gebildet wird. Anders als in der Ära des Ost-West-Konflikts, als der bipolaren Machtverteilung eine relativ stabile Zweierkonfiguration entsprach, bilden sich jetzt auf der Basis der beschriebenen gesamtpolitischen Grundstruktur, der Konfiguration der Fünf, von Fall zu Fall und im Zuge "fließender Veränderungen"
III. Deutschland im integrativen Gleichgewichtssystem der EU
Deutschland ist heute "Zentralmacht" in Europa
Schon die "alte" Bundesrepublik hatte im Laufe der Zeit sowohl in Westeuropa "strukturierende Macht" gewonnen als auch in Ost-/Mitteleuropa im Zuge des Osthandels eine herausragende Spitzenposition erlangt (manche Autoren sprachen so-gar von einer ökonomischen Hegemonialposition Deutschlands)
Bekanntlich war der Erhalt und die Vertiefung dieses integrativen Gleichgewichts und die weitere aktive Mitgliedschaft und Mitwirkung Deutschlands - die Bundeskanzler Kohl durch die Einwilligung in die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion überzeugend begründete - die Voraussetzung für die Zustimmung Frankreichs zur Wiedervereinigung. So wie es einst bei der westeuropäischen Integration darum ging, den deutschen Weststaat mit seiner Wirtschaftskraft einzubinden und damit eine potentielle Hegemonie zu verhindern, so geht es jetzt um die gesamteuropäische Integration des gesamtdeutschen Potentials. In diesem Konzept konvergieren bzw. entsprechen sich die Interessen Deutschlands und diejenigen der anderen europäischen Staaten. Deutschland ist in seine europäische Mittellage zurückgekehrt, will und soll aber nicht die traditionelle Mitteleuropapolitik betreiben. Es hat - wie die mittel-/osteuropäischen Staaten aus ihrer eigenen Interessenlage heraus - ein vitales Interesse daran, dass das politische Europa seine westeuropäische Beschränkung aufgibt, die ihm durch den weltpolitischen Ost-West-Konflikt aufgezwungen worden war. Zudem besteht ein gemeinsames Interesse an der "Europäisierung" des deutschen wirtschaftlichen Engagements in Mittel- und Osteuropa, wo die deutsche Wirtschaft bereits "marktstrategische Positionen" (Hans-Martin Burkhardt) aufgebaut hat
Deutschland hat sich gemäß dieser Interessenlage zum Fürsprecher der mittel-/osteuropäischen Beitrittskandidaten gemacht. Dass mit der Osterweiterung nicht nur einer möglichen Gegenmachtbildung von außen gegen Deutschland vorgebeugt wird, sondern auch eine für Deutschland günstige Veränderung der internen Balance der EU entsteht, ist schon bei der Erweiterung um die "Nordstaaten" und um Österreich von Außenminister Klaus Kinkel in ungewöhnlicher Offenheit zum Ausdruck gebracht worden: Die Bundesregierung wolle durch die Nord- und Osterweiterung "die Gemeinschaft innerlich stärker ausbalancieren" und die "Balance Europas" wiederherstellen, damit das vereinigte Deutschland nicht "das östliche Grenzland der Europäischen Union" bleibt, sondern "auch politisch wieder in die Mitte Europas" rückt und seine Mittellage "mit großem Gewinn" nutzen kann
Denn die Erweiterung zu einem Europa der 27 setzt eigentlich die Vertiefung der EU voraus, wenn denn das integrative Gleichgewichtssystem erhalten und nicht in Richtung auf ein bloß kooperatives Gleichgewicht revidiert werden soll. Zumindest ist eine Parallelität der beiden Prozesse notwendig. Anders ausgedrückt: Ob Erweiterung und Vertiefung erfolgreich sind oder nicht, entscheidet über das Schicksal des integrativen Gleichgewichtes in Europa. Und damit wird zugleich über den außenpolitischen Handlungsrahmen Deutschlands entschieden. Nirgendwo ist das klarer ausgedrückt worden als in dem erwähnten Schäuble-Lamers-Papier. Indes, Frankreich konnte nicht dazu bewogen werden, eine klare Positionsentscheidung zugunsten der Kombination von einem vertieften, föderalen Europa als "hartem Kern" und einer erweiterten EU zu treffen.
Der Unionsvertrag von Maastricht markiert eine Zwischenposition; er ist ordnungspolitisch ein Zwitter - eine Mischung aus integrativ-gemeinschaftlichen und kooperativ-intergouvernementalen Elementen (integratives und kooperatives Gleichgewicht)
Dass die Europäische Währungsunion nur elf EU-Staaten umfasst, verweist auf eine Entwicklung, die unter dem Stichwort der differenzierten Integration bzw. der Flexibilisierung zukunftsträchtig ist. Die Generalklausel des Amsterdamer Vertrages, dass eine Mehrheit der Mitgliedstaaten der EG, bereichsspezifisch in unterschiedlicher Zusammensetzung, "untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit" begründen und betreiben können
IV. Deutschland in den Gleichgewichtssystemen der multipolaren Welt
Mit der europäischen Integration wurde von Anfang an neben den beschriebenen Binnenwirkungen eine Außenfunktion angestrebt, nämlich im globalen System ein Gleichgewichtsfaktor, eine force d'équilibre (Monnet) zu werden. Die EG/EU hat diese Funktion im Lauf der Zeit in zunehmendem Maße ausgeübt - in der Zeit des Ost-West-Konflikts vor allem als Bestandteil der westlichen Gegenmachtbildung gegenüber dem Osten im antagonistischen "Gleichgewicht des Schreckens", aber auch als relativ eigenständiges Gewicht im Westen, um im Rahmen des Atlantischen Bündnisses die Hegemonie der USA zu dämpfen oder gar langfristig abzubauen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich an dieser Politik der "Europäisierung" beteiligt, soweit damit die amerikanische Schutzfunktion nicht beeinträchtigt wurde, nach dem Motto "In dubio pro America".
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Bipolarität ist das Spannungsverhältnis zwischen europäischer Integration im ökonomischen Bereich und atlantischer "Integration" im sicherheitspolitischen Bereich nicht aufgehoben, aber doch erheblich gemindert worden. Das wiedervereinigte Deutschland, das ja sowohl in der EG als auch in der NATO verblieben ist, hat weiterhin eine Politik des Sowohl-als-auch betrieben und demgemäß parallel zur Entwicklung der EG den Aufbau kooperativer transatlantischer Strukturen gefördert. Deutschland hat vor allem im ökonomischen Bereich initiativ an der Quasi-Institutionalisierung eines ausgewogenen europäisch-amerikanischen Verhältnisses durch die "Transatlantische Erklärung" (1990) mitgewirkt und spielt seither im interregionalen "Transatlantischen Dialog" (in dessen Rahmen 1995 die "Transatlantische Agenda" ausgearbeitet wurde) auf der EU-Seite eine konstruktive Rolle. Auch an der Organisation des transnationalen "Transatlantic Business Dialogue", mit dem die Spitzenmanager Europas und Amerikas die intergouvernementalen Konferenzen begleiten und in dem die von der Globalisierung gestiftete "neue Partnerschaft" zwischen Wirtschaft und Regierung ihren Ausdruck findet, arbeiten maßgebliche Vertreter der deutschen Wirtschaft und transnationaler Konzerne mit, und zwar in führender Funktion (z.Z. ist Jürgen Schrempp von Daimler-Chrysler der europäische Ko-Vorsitzende).
Desgleichen ist seit 1996 die europäisch-asiatische Seite der Triade in einem bi-regionalen Kooperationsgremium organisiert worden (nachdem bereits 1989 die asiatisch-pazifisch-amerikanische Seite mit der APEC ein interregionales Dialogforum erhalten hatte, von dem bezeichnenderweise auf Drängen der USA die EU ausgeschlossen blieb). Das "Asia Europe Meeting" (ASEM), das nunmehr regelmäßig auf verschiedenen Ebenen stattfindet, wird einerseits von der EU und andererseits von ASEAN plus China, Japan und Südkorea (= East Asian Economic Caucus) gebildet. Und auch hier ist mit dem Europe Asia Business Forum ein transnationales Pendant geschaffen worden. Europäischerseits hat Deutschland bei der Gründung und Weiterentwicklung von ASEM und dem Europe Asia Business Forum maßgeblich mitgewirkt, um eine balancierende Entsprechung zu den beiden anderen bi-regionalen Kooperationsgremien der Triade zu schaffen. APEC, Transatlantischer Dialog und ASEM konstituieren eine wechselseitige geoökonomische Balance zwischen den drei stärksten Wirtschaftsregionen und ihren Kernstaaten
Dass die EU zahlreiche andere interregionale Beziehungen entwickelt hat und selbstverständlich auch mit den außereuropäischen Großmächten intensive bilaterale Beziehungen pflegt (z.T. mit regelmäßigen Konsultationstreffen), sei hier nur am Rande erwähnt. Dieses engmaschige Kooperationsnetz kann als bekannt vorausgesetzt werden
Die EU schlägt vor, die Partnerschaft EU-Russland im Rahmen eines "permanenten Dialogs über Politik und Sicherheit" zu entwickeln und dafür einen "ständigen Mechanismus" zu schaffen, den auf EU-Seite der "Hohe Repräsentant" der GASP wahrnehmen soll. In der "Mittelfristigen Strategie" begrüßt Russland seinerseits die sicherheitspolitische Kooperation und die Organisation der gesamteuropäischen Sicherheit durch die Europäer selbst, "sowohl ohne Isolierung gegenüber den Vereinigten Staaten und der NATO als auch ohne deren Dominanz (monopolism) auf dem Kontinent". Das heißt, Russland will seine Politik der Balancierung ("Gegengewicht zum NATO-Zentrismus in Europa") und der Multipolarität nicht konfrontativ-antagonistisch gegen die USA, sondern kooperativ gestalten - eine kooperative Gleichgewichtspolitik betreiben, Globalisierung und Regionalisierung nutzend. Der kooperative Interregionalismus der EU könnte in der neuen russischen Politik seine Entsprechung finden, wenn die innerrussischen Hemmfaktoren (autoritäre Tendenzen, Tscheschenien-Krieg) abgeschwächt oder gar eliminiert würden. Zumindest der deutsche Außenminister fordert, "dass die demokratiefördernden Ziele der EU von Russland als Grundlage der Partnerschaft angesehen werden"
Ob die EU tatsächlich über den geoökonomischen und währungspolitischen Bereich hinaus zu einer vollgültigen force d'équilibre im internationalen System wird, ist eine offene Frage. Sie entscheidet sich letztlich im Prozess der Transformation der NATO aus einer hegemonialen Allianz in ein gleichgewichtiges europäisch-amerikanisches Bündnis. Wenn dieser Prozess erfolgreich verliefe, würde das oben genannte potentielle (und häufig auch aktuelle) Spannungsverhältnis zwischen der europäischen und der atlantischen Einbindung Deutschlands aufgehoben. Über Erfolg oder Scheitern wird die deutsche Außenpolitik mitentscheiden. Frankreich ist die treibende Kraft, der Deutschland bisher nur zögerlich gefolgt ist. Die Aufstellung des Eurokorps und die sicherheitspolitischen Entscheidungen des EU-Gipfels von Köln (Juni 1999) und Helsinki (Dezember 1999) über die Integration der WEU in die EU und über den Aufbau einer ESVI sowie die kompromisshaften Ansätze für eine europäische Nutzung ihrer NATO-Streitkräfte und der NATO-Logistik (Combined Joint Task Forces-Konzept, CJTF) sind wichtige, wenngleich noch unzureichende Schritte in diesem Transformationsprozess. Vorbehalte der USA, innereuropäische Widerstände (die durch die kürzliche Kurskorrektur der Regierung Blair verringert werden), der in West- und Mitteleuropa weit verbreitete Wunsch, die USA als Balancemacht gegenüber Russland und Deutschland in Europa zu halten, und nicht zuletzt die durch fiskalische Sparzwänge erzeugte peinliche Kluft zwischen Absichtserklärung und Implementierung - alle diese Faktoren wirken zusammen und bremsen diesen Prozess. Deshalb ist eine schnelle Transformation der NATO unwahrscheinlich
Im Anpassungs- und Transformationsprozess wird sich auch herausstellen, ob das Atlantische Bündnis globale Ordnungsmacht wird. Im Neuen Strategischen Konzept der NATO vom April 1999 wird die geographische Reichweite des für die Krisenbewältigung der NATO relevanten "security environment" der "Euro-Atlantic area" nicht genau definiert. Die amerikanische Intention, die NATO zu einem "global player" zu machen, stieß und stößt nach wie vor in Europa auf Widerstand, auch in Deutschland
Resümiert man die bisherigen Ausführungen, so ist folgender Sachverhalt fundamental für die deutsche Außenpolitik: Deutschland vertritt seine geoökonomischen Interessen in Europa und in der multipolaren Welt in starkem Maße als integrierte europäische Macht, d. h. vermittelt über seine EU-Mitgliedschaft. Auf diese Weise nimmt Deutschland aktiv an interregionalen Balancesystemen teil. Deutschland ist in der EU Mit-Führungsmacht und gewichtiger Bestandteil der EU-Balancemacht nach außen. Speziell gegenüber den USA könnte Deutschland alleine weder hinreichende Balancemacht noch gleichwertiger "Partner in der Führung" sein. Im militärischen Bereich agiert Deutschland - von den genannten Ansätzen abgesehen - nicht als integrierter EU-Staat. Deutschland ist vielmehr als souveräner Staat Mitglied der NATO - integriert in die militärische Struktur der Nordatlantischen Allianz, die sich nur allmählich in ein balanciertes Bündnis zwischen Nordamerika und Europa transformiert.
Indes, Deutschland nimmt seine außenpolitischen Interessen keineswegs ausschließlich vermittelt über die EU (bzw. über die NATO) wahr. Es hat zugleich traditionelle bilaterale Beziehungen von Staat zu Staat weltweit und ist als eigenständiger Akteur in regionalen und globalen mulitlateralen Organisationen tätig, z. B. im Europarat und in der OSZE, in den Vereinten Nationen und in ihren Unterorganisationen sowie in den zahlreichen Sonderorganisationen wie Weltbank, IWF und WTO. Als Mitglied in informellen regionalen und globalen Führungsgremien nimmt Deutschland teil an regionaler und globaler Ad-hoc-Führung, an einer Art "okkasioneller Kollektivhegemonie" (Triepel) - regional z. B. in der Balkan-Kontaktgruppe und früher in der Namibia-Kontaktgruppe; global vor allem in der Gruppe der Sieben bzw. der Acht. Nicht (noch nicht) vertreten ist Deutschland in dem "Fünfer-Klub" der Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, der in Fällen der Interessenübereinstimmung informell gemeinsame Führung ausübt.
Ob diese Gleichzeitigkeit und dieses Nebeneinander von integrierter und eigenständiger kooperativer Machtausübung künftig fortbestehen oder sich in dieser oder jener Richtung verschieben wird, hängt von der strategischen Frage ab, ob sich die EU zu einem einheitlichen politischen Akteur entwickelt oder den derzeitigen Zwittercharakter beibehält (oder sich gar in Richtung auf ein bloß kooperatives Gleichgewichtssystem mit großer Freihandelszone zurückbildet). Sollte die EU infolge von Überdehnung und wegen Reformunfähigkeit scheitern, würde Deutschland "objektiv" (aufgrund seines ökonomischen Potentials) zur konkurrierenden Großmacht neben den USA und Japan im geoökonomischen "struggle for supremacy" werden, wie u. a. von Jeffrey E. Garten prognostiziert wurde
Ein kurzer Blick auf den währungspolitischen Bereich kann die Problematik nochmals verdeutlichen: Die D-Mark (bzw. die Deutsche Bundesbank) hatte in Europa eine hegemoniale Position und wurde deshalb vergemeinschaftet, d. h. in das integrierte Balancesystem der EU eingefügt. Gegenüber dem US-Dollar hatte die D-Mark jedoch weder eine hinreichende Balancemacht, noch konnte sie eine gleichrangige Währung sein oder werden. Die währungspolitische Hegemonie der USA wird erst durch die Europäische Währungsunion - so sie erfolgreich ist - abgebaut, und das war (neben der Beseitigung der hegemonialen Position der D-Mark im europäischen Binnenkontext) das entscheidende Motiv für die Einführung des Euro; es wurde in Frankreich offener beim Namen genannt als in Deutschland. Fred Bergsten hat geschätzt, daß die globale Rolle des Euro (wenn alle EU-Staaten der Währungsunion beitreten) im Vergleich zur D-Mark um ein Vielfaches (zwischen 65 und 250 Prozent) größer sein wird. Ein "bipolares Währungsregime" aus US-Dollar und Euro (mit dem japanischen Yen als Juniorpartner) wird das dollarzentrierte System des vergangenen Jahrhunderts ablösen
V. Schlussfolgerungen
Deutschland ist vornehmlich, aber nicht ausschließlich vermittelt über seine EU-Mitgliedschaft in die (sich teilweise überlappenden) internationalen Konfigurationen einbezogen: in die bipolare Konfiguration des Weltwährungssystems, die tripolare Konfiguration beim Welthandel und bei den Direktinvestitionen und die multipolare Grundfiguration mit den fünf Machtpolen im gesamtpolitischen globalen Beziehungszusammenhang (der variable informelle Führungsgruppen begünstigt). Diese internationale Vielfalt und Komplexität erfordert eine flexible Steuerung, behutsam und zugleich zielbewusst, um zu verhindern, dass die Zusammenarbeit zwischen den großen Mächten und Regionen ("kooperativer Interregionalismus") in Konfrontation und Antagonismus umschlägt. Solange kein neuer struktureller Weltkonflikt entsteht (oder einer der regionalen Konflikte eskaliert), besteht ein gemeinsames Kooperationsinteresse zwischen den Großmächten und Regionen. An der kooperativen Steuerung als integrierte und zugleich teilweise eigenständige Macht mitzuwirken, ist die größte Herausforderung für Deutschland und sollte die Grundorientierung seiner Außenpolitik sein. Anders ausgedrückt: Die Analyse über Deutschlands Einordnung in die multipolare Welt und ein Vergleich mit anderen möglichen Alternativen deutscher Außenpolitik (die ich unlängst an anderer Stelle vorgenommen habe
Ähnlich dieser Schlussfolgerung hat jüngst auch Alexander Siedschlag argumentiert, Deutschland habe die Erfahrung gemacht, dass institutionelle Einbindung nicht nur Handlungspflichten schafft und Entscheidungsspielräume begrenzt, sondern neue Handlungsressourcen eröffnet. Deshalb laute die Maxime: "Gemeinsame Handlungsgelegenheiten ergreifen und Funktionsbeiträge zur Lösung gemeinsamer Probleme leisten, die positiv auf die eigene Außenpolitik und den eigenen internationalen Status zurückwirken."
Wenn sich die deutsche Außenpolitik an dieser Perspektive orientierte, würde sie nicht in krude Machtpolitik zurückfallen. Im Gegenteil: sie würde in verantwortlicher Machtausübung zur internationalen Machtbegrenzung beitragen. Die friedens- und freiheitssichernde Wirkung integrativer und kooperativer Gleichgewichtspolitik ist empirisch und theoretisch so hinreichend begründet, dass die friedenspolitische Kritik ins Leere läuft. Schon Immanuel Kant, auf den sich die Kritiker der Gleichgewichtspolitik im Kontext der "Friedensforschung" immer wieder berufen, wusste und hat überzeugend dargelegt, dass eine freiheitliche, nichtdespotische Friedensordnung nur durch das "Gleichgewicht (der Kräfte), im lebhaften Wetteifer derselben, hervorgebracht und gesichert wird"