Politische Krisen auf europäischer Ebene sind so alt wie das europäische Integrationsprojekt selbst.
Jahrzehnt voller Krisen
Der Krisenbegriff wird häufig bemüht, ohne genau festzustellen, durch was eine krisenhafte Situation gekennzeichnet ist. Auch in der wissenschaftlichen Debatte existiert eine Vielzahl konkurrierender Definitionen parallel. Ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie eine Krise in der Regel als eine akute Bedrohungslage für zentrale Werte oder vitale Systeme verstehen, die eine rasche Reaktion erfordert und durch große Ungewissheit gekennzeichnet ist. Krisen bergen großes Schadenspotenzial und treten zumeist so unvermittelt und in unerwarteter Geschwindigkeit auf, dass ein Verfahren zur Bewältigung des Problems nicht besteht. Vor diesem Hintergrund sieht sich die politische Führung in einer Krisensituation enormem Druck ausgesetzt, in kürzester Zeit kritische Entscheidungen von erheblicher Reichweite ohne genaue Kenntnis über die Konsequenzen treffen zu müssen.
Auf EU-Ebene sind Krisen zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie transnationalen Charakter haben, also direkt oder indirekt mehr als einen Mitgliedsstaat betreffen. Diese transnationale Dimension ist zum Teil Ergebnis der Globalisierung, zum Teil Folge vorangegangener Schritte in der europäischen Integration, die eine besonders große Interdependenz zwischen den EU-Staaten hervorgebracht hat. Diese wechselseitige Abhängigkeit der Länder und die Einsicht, dass bestimmte Krisen durch einen Staat alleine nicht zu lösen sind, ist schließlich oft ausschlaggebend dafür, dass EU-Mitgliedsstaaten einem "Problemlösungsinstinkt" folgen und versuchen, eine gemeinsame, konzertierte Antwort auf gemeinschaftlicher Ebene zu finden.
Der Blick auf Schlüsselthemen der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass die politischen Entscheidungsträger mit einer ganzen Serie von erheblichen Herausforderungen – sowohl endogener als auch exogener Ursache – befasst waren, die nach wie vor aktuell sind. Zur Illustration werden im Folgenden die Euro-, Ukraine- und die sogenannte Flüchtlingskrise sowie der Brexit untersucht.
Eurokrise
In Folge der 2007 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise setzte in der EU im Jahr 2010 die Eurokrise ein. Um dem akut bevorstehenden Zusammenbruch vitaler Teile des Bankensektors vorzubeugen und den Zahlungsausfall überschuldeter Eurostaaten abzuwenden, übernahmen die europäischen Staats- und Regierungschefs sowie ihre Finanzminister eine Führungsrolle im Krisenmanagement – nicht zuletzt in neugeschaffenen institutionellen Formaten wie dem Euro-Gipfel, der nur die Euro-Mitgliedsstaaten umfasst. Unter dem Eindruck eines möglichen Auseinanderbrechens des gemeinsamen Währungsraums, einem Kernprojekt der europäischen Integration, und dessen weitreichenden wirtschaftlichen und politischen Folgen einigten sich die nationalen Vertreterinnen und Vertreter immer wieder zeitkritisch auf Rettungspakete und Maßnahmen für die Konsolidierung angeschlagener Haushalte.
Insbesondere richteten die Euro-Mitgliedsstaaten im Zuge der Krise 2010 zunächst einen befristeten Rettungsschirm und 2012 den permanenten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ein. Neben dem sogenannten Europäischen Fiskalpakt, der die Haushaltsdisziplin der Vertragsparteien sicherstellen soll und aufgrund mangelnden Konsenses unter den EU-Mitgliedsstaaten außerhalb des EU-Vertragswerkes eingerichtet wurde, wurden in den "Sixpack" und "Twopack" genannten Gesetzespaketen weitere Maßnahmen zur Überwachung der Haushalte und makroökonomischer Ungleichgewichte beschlossen.
Diese unmittelbaren und verstetigten Rettungs- und Überwachungsmaßnahmen wurden allesamt im Grundsatz durch den Europäischen Rat beziehungsweise auf dem Euro-Gipfel, also auf Ebene der Staats- und Regierungschefs, eingeleitet. Sie wurden unterstützt durch die Europäische Zentralbank (EZB), die zu Beginn der Krise schneller auf die Finanzmärkte wirken konnte, als es nationalen Regierungen möglich war: Das Ankaufprogramm für Staatsanleihen in notfalls unbegrenztem Umfang, die Herabsetzung des Leitzinses auf einen historischen Tiefstand und die Rolle bei den Verhandlungen mit überschuldeten Euroländern machten die EZB zu einem zentralen Krisenmanager.
Nach den Reaktionen auf die unmittelbaren Bedrohungen einigte man sich auf EU-Ebene auf Reformen, um ein Wiederaufflammen des Krisenkomplexes zu verhindern. Schließlich galt die Eurokrise auch als eine institutionelle Krise, die strukturelle Defizite der Wirtschafts- und Währungsunion offengelegt hatte, die es zu beheben galt und gilt. Eine wichtige Innovation in diesem Zusammenhang ist die Bankenunion, die eine gemeinsame Bankenaufsicht und einen gemeinsamen Rahmen für die Sanierung und Abwicklung von "signifikanten" Kreditinstituten etabliert und nach mehreren zuvor erfolglosen Initiativen der Europäischen Kommission schließlich vom Europäischen Rat beschlossen wurde. In diesem Zusammenhang fand ein Machtzuwachs für die EZB statt sowie eine "wohl nur mit der Einführung der einheitlichen Währung selbst vergleichbare Machtverlagerung auf die europäische Ebene".
Ukrainekrise
Im Gegensatz zur Eurokrise, die die EU im Inneren betraf, ist die Ukrainekrise eine Herausforderung, die sich zwar in geografischer Nähe zur EU, jedoch außerhalb der EU-Außengrenze befindet. Ausgangspunkt der Krise waren Bürgerproteste insbesondere auf dem Kiewer Maidan-Platz ab November 2013, die auf das Nichtzustandekommen des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine reagierten. Es folgten inner-ukrainische Auseinandersetzungen und eine Ausweitung der Proteste, die schließlich in der Absetzung des Präsidenten Wiktor Janukowitsch mündeten. Gleichzeitig sorgten separatistische Bewegungen und kriegerische Auseinandersetzungen in der Ostukraine und die Annexion der Krim durch Russland im März 2014 für eine Destabilisierung des Landes. Obwohl die EU mit den Geschehnissen – nicht zuletzt aufgrund des geplanten Assoziierungsabkommens – verbunden war, trafen sie die Entwicklungen in der Ukraine unerwartet. Besonders unter den östlichen Mitgliedsstaaten der EU verursachten das militärische Vorgehen Russlands und die Aktivierung russischsprachiger Bevölkerung Sorgen über die eigene Integrität.
Anders als vertraglich angelegt, trat die EU nach außen zunächst nicht als einheitlicher Akteur auf, der durch die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini oder den Präsidenten des Europäischen Rats Donald Tusk repräsentiert wurde. Vielmehr koordinierten sich die EU-Staaten intern auf Grundlage der Beratungen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des damaligen französischen Staatspräsidenten François Hollande, die im sogenannten "Normandie-Quartett" in Minsk mit dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten Lösungen für den Konflikt erörterten.
Flüchtlingskrise
Obwohl die europäischen Mittelmeeranrainerstaaten bereits seit Jahren über die großen Lasten durch irregulär Einreisende klagten, wurde die sogenannte Flüchtlingskrise erst ab Mitte 2015 als transnationales Problem in Europa wahrgenommen. Die Zahl der Geflüchteten, die das Gebiet der EU vor allem aus den Gebieten des syrischen Bürgerkriegs und dem Nahen Osten über den Seeweg zwischen der Türkei und Griechenland erreichten, hatte im Laufe des Frühjahrs drastisch zugenommen und führte im Sommer 2015 zu dem Eindruck, dass ein scheinbar nicht endender Zufluss von Asylbewerberinnen und -bewerber auf der sogenannten Balkanroute nach Zentraleuropa strebte. Vor dem Hintergrund der humanitären Notlage für die Flüchtlinge und dem staatlichen Kontrollverlust über zahlreiche europäische Grenzen sprach die deutsche Bundeskanzlerin die unilaterale Aussetzung des Dublin-Abkommens aus, die den Flüchtlingen die legale Einreise nach Deutschland ohne vorherige Registrierung an der EU-Außengrenze gestattete. Da in der öffentlichen und politischen Debatte eine mutmaßliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch die Einreisenden mit dem grenzkontrollfreien Verkehr in Europa – einer zentralen Errungenschaft des europäischen Einigungsprojekts – in Verbindung gesetzt wurde und sich erhebliche Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit den Flüchtlingen zwischen den Mitgliedsstaaten Bahn brachen, geriet die Flüchtlingskrise rasch zu einer existenziellen Frage für die EU.
In einer ersten Reaktion auf die Entwicklungen beschlossen die Mitgliedsstaaten nach kontroverser Debatte, insgesamt 160 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien auf die gesamte EU zu verteilen. Gegenstimmen bei der Abstimmung im Ministerrat, Klagen gegen den Rechtsakt vor dem Gerichtshof und eine schleppende Umsetzung belegen jedoch den begrenzten Nutzen dieser Notfallmaßnahme. Um der schwierigen Situation insbesondere in Griechenland Abhilfe zu schaffen, beschloss der Europäische Rat zudem in einer außerplanmäßigen Sitzung die Einrichtung von Erstaufnahmestellen, eine Erhöhung der finanziellen Unterstützung von internationalen Hilfsprogrammen in Syriens Nachbarländern und den Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Parallel zu den gesamteuropäischen Bemühungen schlugen einzelne Mitgliedsstaaten nationale Wege ein. So schlossen verschiedene Länder auf der Balkanroute ihre Grenzen, setzten Tageskontingente durch oder führten in zeitweiser Aussetzung des Schengen-Abkommens interne Grenzkontrollen ein.
Neben dem EU-internen Krisenmanagement versuchte man darüber hinaus in der vertieften Zusammenarbeit mit Drittstaaten, allen voran der Türkei, die Fluchtmigration zu kontrollieren.
Brexit
Im Gegensatz zu den voran diskutierten Ausnahmeherausforderungen ist die unter dem Begriff "Brexit" geführte Krise um den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und dessen weitere politische Auswirkungen eine Krisensituation, die ihren Ursprung innerhalb der EU hat. Ausganspunkt des Prozesses war das Referendum in Großbritannien und Nordirland im Juni 2016, in dem sich eine knappe Mehrheit der Wählerinnen und Wähler gegen den Verbleib in der EU entschied. Nachdem die britische Regierung im März 2017 offiziell ihre Absicht erklärte, aus der Europäischen Union austreten zu wollen, wurden im Juni 2017 schließlich die Austrittsverhandlungen aufgenommen, die die beiden Scheidungsparteien mindestens bis 2019 beschäftigen werden. Der Brexit ist mit tieferliegenden Problemen verbunden, vor denen die Europäische Union aktuell steht, insbesondere einer weiter gefassten Vertrauens- und Legitimitätskrise und der erstarkten EU-Skepsis in den Bevölkerungen zahlreicher Mitgliedsstaaten. Vor diesem Hintergrund stellte das britische Votum auch die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts als Ganzes infrage und schien zumindest anfangs das Potenzial zu besitzen, einen Prozess des Auseinanderfallens der EU in Gang zu setzen.
Als rasche Reaktion auf den unerwarteten Ausgang des Referendums hatten die bleibenden Mitglieder des Europäischen Rates das Format der EU-27 ohne das Vereinigte Königreich geschaffen und eine Nachdenkphase angestoßen, die zunächst als "Bratislava-Prozess" nach dem Gipfel im September 2016 Fahrt aufnahm.
Obwohl der Brexit-Verhandlungs- und Austrittsprozess noch nicht weit fortgeschritten ist, zeigen sich in der Diskussion um die richtigen Antworten auf die Krise bereits Strukturen, die das Potenzial haben, auch die nächsten Jahre zu prägen. Erstens überlassen es die Mitgliedsstaaten der EU-27 auf Grundlage einer geschlossenen, gemeinsamen Position gegenüber dem Vereinigten Königreich der Europäischen Kommission, die Austrittsverhandlungen auf der technischen Ebene zu führen. Zweitens bahnt sich die Wiederbelebung des deutsch-französischen Gespanns als Motor der europäischen Integration an, wie es sich aus den Äußerungen des neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Merkel herauslesen lässt.
Phasen, Muster und Akteure des EU-Krisenmanagements
Trotz der Vielfältigkeit der unterschiedlichen existenziellen Krisen, die die Agenda der Europäischen Union in den vergangenen Jahren dominierten und weiterhin prägen, sind einzelne wiederkehrende Phasen und Muster ihrer Verarbeitung auf EU-Ebene zu erkennen.
Was die zeitliche Abfolge im Krisenmanagement betrifft, so geht einer gemeinsamen Reaktion auf europäischer Ebene zunächst stets die individuelle Prüfung der Situation durch die Mitgliedsstaaten voran, ob es sich bei der Herausforderung tatsächlich um ein europäisches oder um ein individuelles nationales Problem handelt und ob die Lösung auf europäischer oder auf nationaler Ebene zu suchen sei. Die Einsicht, dass es sich um eine europäische Krise handelt, ist dabei noch kein Garant dafür, dass die Mitgliedsstaaten ausschließlich eine europäische Antwort präferieren – siehe Flüchtlingskrise. Die Herstellung eines Konsenses zwischen Mitgliedsstaaten und EU-Institutionen ist somit stets der Schlüsselmoment in der Krisenbewältigung, und zwar sowohl in Bezug auf die unmittelbaren Notfallreaktionen als auch die strukturellen Anpassungen, die dem Wiederaufflammen der jeweiligen Krise vorbeugen sollen. Während in der Euro-, der Ukraine- und der Brexit-Krise die Mitgliedsstaaten auf – mitunter überraschend – klare Weise eine gemeinsame Linie verfolgten, zeigte sich im Fall der Flüchtlingskrise deutlich, dass Einstimmigkeit bei der Suche nach EU-weiten Regelungen nicht immer einfach herzustellen ist. Dies gilt insbesondere bei großem zeitlichen Druck und Abwesenheit etablierter Reaktionsstrukturen, wie es in Krisensituationen der Fall ist. In diesem Zusammenhang zeigen sich vier große Linien:
Erstens ist Krisenmanagement auf europäischer Ebene und vor allem die Verabschiedung von Notfallmaßnahmen die Domäne der Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsstaaten der EU, das heißt in erster Linie das Feld des Europäischen Rats und damit der ranghöchsten Mitglieder der nationalen Exekutiven. Dass diese bei allen beleuchteten Krisen den Führungsanspruch als zentraler Krisenmanager beanspruchten, hängt nicht nur mit dem institutionellen Gleichgewicht im EU-System zusammen,
Zweitens kann es im Europäischen Rat aufgrund der Schwierigkeit der Einbindung aller Mitgliedsstaaten und EU-Akteure in einem oft sehr engen Zeitrahmen zur Herausbildung einer außerordentlichen (manchmal nur temporären) Führungsgruppe kommen, die das Problem federführend zeitsensibel und in der Regel in Kooperation mit relevanten EU-Institutionen bearbeitet. Das deutsch-französische Tandem im Normandie-Format mit Vermittlungsversuchen in der Ukrainekrise oder die institutionell eingebundene deutsche Führungsrolle bei der Aushandlung der EU-Türkei-Erklärung zur Flüchtlingspolitik sind Beispiele dafür. Das deutsch-französische Duo erweist sich traditionell als wichtiger Motor für die Erarbeitung von europäischen Lösungen, wie es auch die angestoßene Debatte um die Zukunft der EU nach dem Brexit zeigt. Aufgrund der in wesentlichen Politiken sehr unterschiedlichen Präferenzkonstellation beider Mitgliedsstaaten stellen die bilateral ausgehandelten Kompromisslösungen eine gute Diskussionsgrundlage für die Verhandlungen mit und zwischen den anderen Mitgliedsstaaten dar. Alternativ zu einer Führungsgruppe werden im Zuge des EU-Krisenmanagements auch häufig angepasste institutionelle Formate geschaffen, in denen Lösungsvorschläge beraten und beschlossen werden können, so etwa der Euro-Gipfel oder das EU-27-Format für die Vorbereitung der Brexit-Verhandlungen.
Drittens übernehmen die EU-Institutionen, insbesondere der Präsident des Europäischen Rats, die Europäische Kommission und die EZB, bei der Konsenssuche in Krisensituationen immer wieder wichtige Aufgaben bei der Erarbeitung und Vermittlung europäischer Lösungen. So nahm beispielsweise der Präsident der EZB regelmäßig an relevanten Sitzungen des Europäischen Rats teil. Auch die Lösungsvorschläge der Kommission im Bereich der Flüchtlingspolitik und zur Zukunft der Europäischen Union wurden durch die Mitgliedsstaaten in wesentlichen Teilen aufgenommen. Einmal einbezogen in das akute Krisenmanagement, werden die Expertise der EU-Institutionen und ihre vermittelnde Rolle oft auch im Anschluss durch dauerhafte Koordinierungs- oder Überwachungsaufgaben festgeschrieben, so etwa beim Europäischen Semester oder der Bankenunion. In diesem Sinne folgt im EU-Krisenmanagement auf die erste Phase der intergouvernementalen Entscheidungsfindung also eine Umsetzung der Beschlüsse mit starken supranationalen Elementen, in deren Folge ein für alle (teilnehmenden) Mitgliedsstaaten verbindliches Regelwerk geschaffen und/oder supranationale Instanzen gestärkt werden. In diesem Zusammenhang sind auch die Stärkung der gemeinsamen Grenzschutzagentur Frontex in Reaktion auf die Flüchtlingskrise oder aktuelle Überlegungen zur Fortentwicklung einer europäischen Verteidigungsunion in Reaktion auf die Brexit-Krise zu sehen.
Viertens führt die Kombination aus unbekannter Krisensituation und der Schwierigkeit der Konsensbildung dazu, dass Lösungen manchmal übergangsweise, manchmal dauerhaft außerhalb des bestehenden vertraglichen EU-Rahmens gefunden werden. Das klarste Beispiel dafür ist der Europäische Fiskalpakt zur Haushaltskontrolle und Sanktionierbarkeit von übermäßigen Staatsschulden, der bis heute außerhalb des gemeinsamen Rechtsrahmens steht. Dennoch sind die in Reaktion auf eine Krise gefundenen Instrumente in der Regel der Ausgangspunkt für einen substanzielleren Fortentwicklungsschritt des EU-Systems. Dies geschieht oft dadurch, dass notfallmäßig eingeführte Maßnahmen verstetigt und um Warnsysteme ergänzt werden, damit bei erneutem Auftreten derselben Problematik ein institutionalisiertes Reaktionsverfahren zur Verfügung steht. Diese langfristigen Verfahren werden in das bestehende EU-System überführt und eingebettet, wodurch Kompetenzen auf die EU-Ebene verlagert und weitere EU-Institutionen eingebunden werden.
Dieser Vorgang der Institutionalisierung dient nicht nur der Festigung der Prozesse, sondern auch der dauerhaften Legitimierung der Entscheidungen. Schließlich sieht sich die EU aufgrund des faktischen Übergewichts nationaler Exekutiven in der ersten Phase des Krisenmanagements vor die Herausforderung gestellt, die Maßnahmen auf EU-Ebene aus Demokratie- und Legitimitätsgesichtspunkten nachvollziehbar zu gestalten. Schließlich kann die Kurzfristigkeit, mit der die Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs getroffen werden, die im regulären Politikbetrieb gegebenen Einflussmöglichkeiten nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments erheblich einschränken. Zudem wird die Durchsetzungsstärke führender Staatengruppen oder einflussreicher EU-Mitglieder wie Deutschland im Sinne einer zu starken Dominanz oder Hegemonie kritisiert.
Konsens, Kompromisse und Komplexität
Von Eurokrise bis zur EU-Zukunftsdebatte – der Blick auf die Entwicklungen in den vergangenen Jahren zeigt, wie regelmäßig und dauerhaft sich die europäischen Staaten mit Herausforderungen konfrontiert sahen, die sich für einzelne Mitgliedsstaaten und auch die Union als Ganzes sehr schnell völlig unerwartet zu existenziellen Gefahren auswuchsen. Die EU hat in Reaktion auf diese Krisen bewiesen, dass sie fähig ist, derartige Herausforderungen zu managen, ohne sie aber notwendigerweise nachhaltig zu lösen. Gleichzeitig wirken die Krisen wie ein Katalysator für weitere Integrationsschritte.
Diese Integrationsdynamik folgt dem etablierten Grundsatz in der EU, dass zentrale Entscheidungen in aller Regel im Konsens zu treffen sind. Das wird zumeist durch Kompromisse erreicht, die die vielfältigen Interessen der Mitgliedsstaaten widerspiegeln. Aus langfristiger Perspektive betrachtet ist diese europäische Maschinerie zur Konsensfindung stabil und funktioniert vergleichsweise zuverlässig. Auch wenn Krisen ungewöhnliche Verhandlungs- und Repräsentationsformate notwendig machen, gelingt es der Europäischen Union immer wieder, Einstimmigkeit zwischen ihren Mitgliedern und Institutionen herzustellen – von den einstimmig verabschiedeten Sanktionen gegenüber Russland in der Ukrainekrise bis hin zum geschlossenen Auftreten gegenüber dem Vereinigten Königreich in der Brexit-Krise. Uneinigkeit in zentralen Fragen wie im Fall der EU-internen Flüchtlingsverteilung belegen jedoch auch, dass das Kompromissfindungssystem mitunter an seine Grenzen stößt.
Anstelle eines offenen Dissenses steht als Ergebnis des EU-Krisenmanagements jedoch meistens eine Lösung, die das EU-System im Sinne von erweiterten EU-Kompetenzen und einer Stärkung europäischer Institutionen fortentwickelt; und zwar aufgrund des Konsensgebots nicht selten mit einer Lösung von erheblicher Komplexität. Diese Komplexität jedoch kann, wie es nicht zuletzt wachsender Euroskeptizismus und die Brexit-Krise nachweisen, auch Auslöser weiterer Krisen sein. In diesem Sinne lässt sich auf EU-Ebene ein der Sachlogik folgender "Spillover" beobachten.
Vor dem Hintergrund dieser Dynamik muss auch in Zukunft mit krisenhaften Situationen gerechnet werden, denen die EU und ihre Mitgliedsstaaten ausgesetzt sein werden, zumal zahlreiche der krisenauslösenden Probleme nicht ursächlich gelöst werden konnten, sondern weiterhin bestehen und nur im Rahmen von verstetigten Notfallmaßnahmen abgemildert wurden. Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass Krisen ihren Auslöser häufig außerhalb der EU finden, sodass selbst umfangreiche präventive Strukturen und etablierte Notfallsysteme nur bedingt das Ausbrechen oder Überschwappen von essenziellen Herausforderungen in die EU verhindern können.
In der Konsequenz wird die EU auch in Zukunft Wege finden müssen, auf akute Krisensituationen antworten und Probleme bearbeiten zu können, die zu groß für einen einzelnen Mitgliedsstaat sind. Es darf erwartet werden, dass dabei auch in Zukunft die beschriebenen Muster des EU-Krisenmanagements und dessen Auswirkungen auf die EU-Systementwicklung sichtbar werden, so beispielsweise in Form der Rolle des deutsch-französischen Tandems. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass die EU sich weiterhin entlang der von ihren Institutionen eingebrachten Vorschläge weiterentwickelt, beispielsweise den Szenarien der Europäischen Kommission, und die flexiblen Elemente innerhalb des bestehenden Vertragsrahmens nutzen wird – sowohl in Reaktion auf Krisen als auch zur Prävention vor alten und neuen Gefahren.