In zahlreichen Polizeibehörden im deutschsprachigen Raum werden derzeit softwaregestützte Prognosetechnologien zur Umsetzung vorhersagebasierter Polizeiarbeit (Predictive Policing) erprobt oder eingeführt. Gegenwärtig werden in sechs deutschen Bundesländern sowie in der Schweiz Systeme pilotiert beziehungsweise bereits im Regelbetrieb verwendet, die Verbrechen – meistens handelt es sich einzig um das Delikt des Wohnungseinbruchdiebstahls – vorhersagen sollen. Mit ihrer fest implementierten polizeilichen Nutzung in Bayern (München und Mittelfranken), Zürich, Aargau und Basel-Landschaft sowie ihrer derzeitigen Erprobung in Baden-Württemberg ist dabei die kommerzielle Prognosesoftware "PRECOBS" (Pre Crime Observation System) hiesiger Marktführer.
Seien sie nun käuflich erworben oder selbst entwickelt, mit den Prognosesystemen ist die Erwartung verbunden, durch eine intelligentere Verknüpfung und Nutzung polizeilichen Wissens effizienter operieren zu können:
Über die neuen technischen Möglichkeiten und den ökonomischen Druck hinaus ist ein weiterer Grund für das aktuell starke Interesse an polizeilichen Prognoseverfahren ein genuin politischer: Das derzeit hauptsächlich prognostizierte Delikt, der Wohnungseinbruchdiebstahl, ist aufgrund anhaltend steigender Fallzahlen in den vergangenen Jahren und gleichzeitiger Stagnation ohnehin niedriger Aufklärungs- und Verurteilungsquoten zu einem Politikum geworden. Die deutschen Sicherheitsbehörden, so der einschlägige Tenor, müssten neue, kreative Maßnahmen gegen die zunehmende Bedrohung durch professionelle Einbrecherinnen und Einbrecher und insbesondere reisende Serientäterinnen und Serientäter einsetzen.
Zwar ist die Kontextualisierung von Predictive Policing als wirksames techno-fix für Kriminalitätsprobleme durchaus keine gewagte politisch-rhetorische Strategie, wird die Pilotierung und Einführung von Predictive Policing in Deutschland doch durchaus von einem insgesamt eher wohlwollenden medialen Diskurs begleitet. Gleichzeitig ist dieser Prozess aber auch von erheblichen Missverständnissen über Methodik und Erfolgsaussichten von polizeilicher Prognosesoftware geprägt. Ziel dieses Beitrags ist es, einen grundlegenden Überblick über die Funktionsweise und den möglichen Nutzen der derzeit im Rahmen von Predictive Policing genutzten Prognosetechnologien zu geben.
"This ist not Minority Report": Grundlagen des Predictive Policing
Insbesondere die gleichsam unvermeidbare mediale Referenz zu Philip K. Dicks Kurzgeschichte "Minority Report" von 1956 beziehungsweise deren Verfilmung von Steven Spielberg aus dem Jahr 2002, in der die Polizeieinheit "Precrime" im Washington, D.C. des Jahres 2054 zukünftige Morde voraussieht und die Täter präventiv in Gewahrsam nimmt, hat in den Köpfen vieler Menschen falsche Vorstellungen von der tatsächlichen Präzision und den Gegenständen polizeilicher Prognosen geschaffen. Diese werden zum Teil auch von einschlägigen Anbietern selbst provoziert: Als "deutungsleitend" gilt beispielsweise der für den US-Markt produzierte Werbespot des IT-Unternehmens IBM von 2012, in dem ein Polizist unter Rückgriff auf eine Prognosesoftware den genauen Ort und Zeitpunkt eines Raubüberfalls vorhersieht und diesen durch seine Präsenz vor ebenjenem Supermarkt, den der Täter anvisiert hatte, verhindert.
Schaut man sich aber die genaue Funktionsweise und die hinter den Programmen liegenden Methodiken an, wird schnell augenfällig, dass es im Gegensatz zu der Polizeieinheit "Precrime" aus "Minority Report" bei der gegenwärtigen Nutzung von polizeilicher Prognosesoftware nicht um die präzise Vorhersage konkreter Taten samt Täter, Tatort und Tatzeit geht, sondern deutlich abstrakter um die Prognose von möglichen Risikogebieten (zum Beispiel einer Wohnquartiersebene mit rund 400 Haushalten) in einem spezifischen Zeitraum (zum Beispiel für sieben Tage).
Predictive Policing ist also zu verstehen als die polizeiliche Anwendung von analytisch-technischen Verfahren, um wahrscheinliche Ursprünge beziehungsweise Zeiten und/oder Orte zukünftiger Kriminalität zu prognostizieren. Aus Gründen terminologischer Präzision macht es zunächst Sinn, die Begriffskombination "Predictive Policing" mit "vorhersagebasierter Polizeiarbeit" und nicht mit "vorausschauender Polizeiarbeit" zu übersetzen. Denn auch viele andere polizeiliche Praktiken, wie etwa alle kriminalpräventiven Maßnahmen, sind vorausschauend motiviert, operieren aber nicht mit technisch generierten Prognosen. Zudem eignet sich eine solche Begriffsverwendung besser, um das probabilistische Fundament der Prognosen zu unterstreichen, als die gängige Bezeichnung "vorhersagende Polizeiarbeit".
Gleichzeitig sollte die Definition nicht per se auf die Nutzung einer eigenständigen Prognosesoftware limitiert werden, da auch weitere technische Möglichkeiten für vorhersagebasierte Polizeiarbeit existieren, etwa per intelligenter Videoüberwachung mit Kameras, die verdächtiges Verhalten registrieren und mögliche Risikopersonen vorab identifizieren sollen.
So wird bereits jetzt an einem Ausbau der prognostischen Deliktspalette gearbeitet, damit in Zukunft – so die Hoffnung – neben Wohnungseinbruchdiebstählen auch zum Beispiel Kfz-Einbrüche, -Diebstähle und Raubdelikte vorhergesagt werden können.
Gleichermaßen gibt es international bereits Bestrebungen, nicht nur räumlich gebundene Prognosen zu erstellen, sondern auch personenbezogene Vorhersagen zu generieren (Predictive Profiling).
Auch in Deutschland gibt es bereits ähnliche Bemühungen: So hat Anfang 2017 das Bundeskriminalamt sein Prognosesystem "RADAR-iTE" (Regelbasierte Analyse potenziell destruktiver Täter zur Einschätzung des aktuellen Risikos – islamistischer Terrorismus) vorgestellt, das die individuellen Risikopotenziale islamistischer "Gefährder" beziehungsweise "Relevanter Personen" auf Basis ihres beobachtbaren Verhaltens konkretisieren soll.
Varianten des Predictive Policing
Trotz dieser Bestrebungen, die Möglichkeiten des Predictive Policing weiter auszubauen und auf Personen zu beziehen, sind raumbezogene Verfahren die derzeitige Hauptform vorhersagebasierter Polizeiarbeit. Dabei wird spezielle Prognosesoftware genutzt, um auf Grundlage von statistisch fundierten, algorithmisch prozessierenden Analysen polizeilicher und zunehmend auch weiterer Daten – wie beispielsweise zur örtlichen Infrastruktur und zu sozioökonomischen Aspekten – zukünftige Risikoorte und -zeiträume von Wohnungseinbruchdiebstählen zu prognostizieren. In allen Regelanwendungen im deutschsprachigen Raum wird (bislang) rein auf polizeiliche Daten zurückgegriffen, während im baden-württembergischen Modellversuch mit "PRECOBS" bereits mit sozioökonomischen und infrastrukturellen Daten experimentiert wurde.
Bei den raumbezogenen Verfahren des Predictive Policing können drei Varianten unterschieden werden. Die Strategie des Hotspot-Policing ist eine altbekannte Methode, räumlich zuordenbare Kriminalitätsschwerpunkte gezielt mit polizeilichen Interventionen zu bedenken.
Beim Near-repeat-Ansatz basiert die Prognose auf der Annahme, dass vorherige beziehungsweise gegenwärtige Viktimisierung ein guter Prädiktor für Wiederholungstaten ist, die im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Kontext der Ersttat auftreten. Die wesentlichen kriminologischen Thesen, auf denen diese Methodik fußt, der zum Beispiel die Software "PRECOBS" bis dato im Wesentlichen folgt,
Bei der Risk-terrain-Analyse werden zukunftsbezogene räumliche Risikoprofile nicht nur auf Basis polizeilicher Falldaten kreiert, sondern zusätzlich mit Rückgriff auf etwa sozioökonomische und infrastrukturelle Daten wie Einkommensverteilung, Bausubstanz, Hauptverkehrsstraßen, Bars, Klubs oder Einkaufsmöglichkeiten erstellt.
Die Unterteilung verschiedener Varianten des Predictive Policing gemäß der Art der Prognoseerstellung soll nicht überdecken, dass Predictive Policing als ganzheitliche polizeiliche Praxis zu verstehen ist und keineswegs nur die Prognoseerstellung selbst umfasst.
Und auch wenn die Prognose noch so präzise ist – wird sie nicht adäquat vor Ort umgesetzt, indem beispielsweise nicht die geeignete Interventionsstrategie gewählt oder zu wenige Kräfte in das prognostizierte Risikogebiet geschickt werden, ist der gewünschte Effekt nicht erzielbar.
Welche Wirkung hat Predictive Policing?
Versuche, die erhofften präventiven und effizienzsteigernden Effekte von Predictive Policing empirisch zu untermauern, sind bislang ebenso vereinzelt wie umstritten. So gibt es mit Blick auf den tatsächlichen Nutzen der Prognosetechnologien derzeit noch "(m)ehr Fragen als Antworten".
Die grundsätzliche Frage, wie erfolgreich Predictive Policing als polizeiliche Strategie wirklich ist, ist ohnehin sehr schwer zu beantworten, da über die Treffergenauigkeit der generierten Prognosen keine Aussage getroffen werden kann: Prognostiziert die Software einen Einbruch in einem klar definierten Gebiet und Zeitraum und findet dieser nicht statt, ist hinterher unklar, ob die Software fehlging oder die Streifenkräfte die Tat erfolgreich verhindert haben. Die von den Anbietern kommerzieller Prognosesoftware oft prominent herausgestellten Trefferquoten sind ohne mitgelieferte Kontextinformationen nur sehr eingeschränkt aussagekräftig, da es beispielsweise erheblich auf die Größe des Referenzraumes und den Zeitraum der Vorhersagen ankommt, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie tatsächlich einzutreffen vermögen.
Ohnehin gilt für die bislang genutzten polizeilichen Prognosesysteme, die allesamt nach statistischen Maßgaben operieren, die Maxime, dass eine hinreichend große Anzahl an Fällen notwendig ist, um robuste Prognosen generieren zu können. Eine solche findet sich vor allem in dicht besiedelten Gebieten und kaum im ländlichen Raum, wo die Systeme also (derzeit) kaum sinnvoll einsetzbar sind.
Ferner gilt es bei der Verarbeitung polizeilicher Daten stets zu berücksichtigen, dass die polizeilich registrierte Kriminalität ("Hellfeld") von der tatsächlich existierenden Kriminalität abweicht und dabei durchaus strukturelle und raumbezogene Verzerrungen zum Tragen kommen können. Denn an jenen Orten, die die Polizei stark kontrolliert, werden auch zahlreiche Straftaten dokumentiert.
Gleichermaßen kann zwischen der (kurzfristigen) Senkung der Deliktzahlen, wie sie in zahlreichen Polizeibehörden vermeldet werden,
Unstrittig ist jedoch, dass polizeiliche Prognosesoftware nicht als exklusives Allheilmittel zu begreifen ist, sondern – wenn überhaupt – als zusätzliches Hilfsmittel für die alltägliche polizeiliche Arbeit. Zu beachten ist hierbei auch, dass die meisten Vorhersagesysteme nicht nur Kriminalitätsprognosen erstellen, sondern gleichzeitig Werkzeuge für die erweiterte statistische Analyse von Kriminalitätsdaten sind – eine Tätigkeit, die in deutschen Polizeibehörden bisweilen erstaunlich wenig verbreitet ist.
Letztlich darf bei der Wirkungsfrage nicht vergessen werden, dass wir es hier mit einer kommerziell vertriebenen und politisch instrumentalisierbaren, symbolisch durchaus leicht aufladbaren Sicherheitstechnologie zu tun haben, deren Einsatz auch schlicht dadurch legitimiert werden kann, dass sich daraus politisches und/oder kommerzielles Kapital schlagen lässt.
Polizeiarbeit der Zukunft?
Obgleich Predictive-Policing-Software bereits in mehreren deutschsprachigen Städten von den dortigen Polizeien eingesetzt wird, ist bislang noch weitestgehend unklar, was diese Technologien tatsächlich für praktische Effekte haben, inwieweit sie in die polizeilichen Routinen eingreifen und diese wirklich zu verbessern helfen. Trotzdem – oder gerade deshalb? – verspricht man sich von ihrer Einführung weitreichende Sicherheitsgewinne, da die Hoffnung aufkeimt, Straftaten bereits vor ihrem Begehen detektieren und abwenden zu können. Die Faszination gegenüber Predictive Policing lässt sich auch damit erklären, dass entsprechende Softwarepakete als avancierte Technologien wahrgenommen werden und mit dieser Attribuierung diskursiv wirkmächtige Zuschreibungen verbunden sind.
Der wesentliche Neuigkeitswert, den die vorhersagebasierte Polizeiarbeit mit sich bringt, ist deshalb vor allem mit Bezug auf den Faktor Zeit und die erheblichen Ressourcen- beziehungsweise Kostenersparnisse zu sehen. In diesem Sinne ist Predictive Policing vor allem ein Mittel zur Effektivitätssteigerung polizeilicher Arbeit und eine Ergänzung bisheriger kriminalistischer Strategien.
Mit dem Aufkommen von Predictive Policing ist letztlich das Potenzial einer technologischen Zäsur verbunden, das sich auf die Türöffnerfähigkeit der Prognosetechnologien bezieht: Wird ein solches Programm einmal implementiert, ist es aufgrund technischer und organisationaler Parameter etwa mit Blick auf institutionelle Pfadabhängigkeiten ein Leichtes, das prognostische Deliktportfolio sukzessive zu erweitern. Hierbei ist ebenso zu bedenken, dass die meisten Prognosepakete zusätzlich die Möglichkeit bieten, mit dem üppigen polizeilichen Datenfundus zu "spielen", deskriptive und explorative Datenanalysen durchzuführen und damit die Programme noch stärker in den polizeilichen Alltag zu integrieren.
So ist es in der Tat nicht unwahrscheinlich, dass die algorithmisch mediatisierte (Prognose-)Arbeit hiesiger Polizeien mit den gegenwärtig bereits genutzten und entwickelten Systemen einen qualitativen Sprung macht und deren Einführung retrospektiv als Meilenstein zu betrachten sein wird.
Für Anregungen und Kommentare danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops "Der Einsatz von Prognosetechnologien durch die Polizei, Gerichte und im Strafvollzug" am 16./17. März 2017 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.