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"Das Kapital" und seine Bedeutung | "Das Kapital" | bpb.de

"Das Kapital" Editorial A Traveller’s Guide. Karl Marx' Programm einer Kritik der politischen Ökonomie "Dies ewig unfertige Ding". "Das Kapital" und seine Entstehungsgeschichte "Das Kapital" und seine Bedeutung Was uns Marx heute noch zu Sagen hat Hinschauen statt glauben. Ein Erfahrungsbericht aus der Langstrecken-Marxlektüre Karl Marx: Bildnis und Ikone Postwachstumsökonomik. Wachstumskritische Alternativen zu Karl Marx

"Das Kapital" und seine Bedeutung

Ulrike Herrmann

/ 16 Minuten zu lesen

"Das Kapital" hat Millionen von gutwilligen Lesern zur Verzweiflung getrieben, denn schon der allererste Absatz ist eine Zumutung. Sperrig heißt es dort: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware." Auch Karl Marx wusste, dass sein erstes Kapitel unmöglich war. Im Vorwort zur ersten Auflage schrieb er entschuldigend: "Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft" (S. 11). Bis heute fragen sich die Exegeten, warum Marx überhaupt mit dem Thema "Ware" angefangen hat. Denn didaktisch und analytisch hätte es näher gelegen, erst die Ausbeutung der Arbeiter und die Geschichte der Klassenkämpfe zu schildern. Dann hätte jeder Leser sofort ins Thema gefunden. Engels wählte später genau diesen umgekehrten Aufbau, um die marxsche Theorie zu erklären.

Doch obwohl der Stil so sperrig ist, übt Marx’ Hauptwerk einen ungeheuren Sog aus. "Das Kapital" ist noch immer ein Bestseller und erreicht Verkaufszahlen, von denen heutige Ökonomen nur träumen können.

Marx fasziniert bis heute, weil er der erste Theoretiker war, der die Dynamik des Kapitalismus richtig beschrieben hat. Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess – und kein Zustand. Einkommen ist niemals garantiert, sondern entsteht erst, wenn unablässig investiert wird.

Kapital als Prozess

Marx hat als erster definiert, was den Kapitalismus im Kern ausmacht: Geld (G) wird investiert, um Waren (W) herzustellen. Bei ihrem Verkauf soll dann mehr Geld (G') herausspringen, also ein Gewinn erzielt werden. "In der Tat also ist G – W – G' die allgemeine Formel des Kapitals" (S. 170).

Ziel ist nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die Akkumulation an sich. Der Kapitalist darf niemals ruhen, kann sich nicht am Erreichten erfreuen, sondern muss die Gewinne stets erneut investieren, wenn er im Rennen bleiben will. "Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist (…) Selbstzweck, denn die Verwertung des Wertes existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos" (S. 167). Der einzelne Unternehmer mag zwar glauben, dass er wichtige Entscheidungen trifft, aber tatsächlich ist er nur ein Vollstrecker des Systems und der permanenten Verwertung: "Als bewusster Träger dieser Bewegung wird der Geldbesitzer Kapitalist. Seine Person, oder vielmehr seine Tasche, ist der Ausgangspunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. (…) [Der] Kapitalist [funktioniert] als personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital." In diesem ewigen Hamsterrad geht es nicht um den einzelnen Gewinn, "sondern nur [um] die rastlose Bewegung des Gewinnens" (S. 167ff.).

Geld wird jedoch nur zu Kapital und damit zu Profit, wenn es investiert wird. Bleibt es im Tresor liegen, ist es zwar weiterhin Geld – aber faktisch wertlos. Über Dagobert Duck hätte Marx herzlich gelacht. Der geizige Enterich glaubt zwar, vermögend zu sein, wenn er in seinen Goldtalern badet. Doch tatsächlich besitzt er nur Gold, sonst nichts. Oder wie Marx es ausdrückte: "Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt" (S. 168).

Indem Marx den systemischen Prozess betonte, die ewige Spirale der Verwertung, verlieh er dem Begriff "Kapital" eine neue Bedeutung. Bis dahin hatten die Ökonomen das Kapital als etwas Statisches betrachtet. Geld und Maschinen galten als Vermögenswerte "an sich", die man mühelos bilanzieren konnte. Bei Marx gab es keine Werte, die irgendwie vorhanden waren. Kapital bildete sich erst, wenn produziert wurde, wenn Güter entstanden, die sich mit Gewinn verkaufen ließen.

Marx selbst war vom technischen Fortschritt fasziniert; scheinbar kleinste Erfindungen begeisterten ihn: "Eine auf der Londoner Industrieausstellung von 1862 ausgestellte amerikanische Maschine zur Bereitung von Papiertuten schneidet das Papier, kleistert, faltet und vollendet 300 Stück per Minute" (S. 399). Die Effizienz stieg aber nicht nur in der industriellen Produktion, auch die Landwirtschaft wurde technisiert. Wie Marx berichtete, "verrichtet die Dampfmaschine, beim Dampfpflug, in einer Stunde zu 3 d. oder 1/4 sh. so viel Werk wie 66 Menschen zu 15 sh. per Stunde" (S. 413). Umgerechnet bedeutete dies also, dass die Produktivität um das 3960-fache gestiegen war. Das war atemberaubend.

Aber was trieb die rastlose Dynamik des Kapitalismus an? Warum konnten die Kapitalisten nicht gemütlich zuhause sitzen und ihre Profite genießen? Im Feudalismus wären die Adligen niemals auf die Idee gekommen, ständig in die Produktion zu investieren. Stattdessen hatten sie Schlösser gebaut, Feste gefeiert und sich als Kunstmäzene betätigt. Doch die Kapitalisten waren unersättlich. Selbst wenn sie reich waren, wollten sie noch reicher werden und erweiterten ihre Fabriken. Die Akkumulation schien zum Selbstzweck zu verkommen, oder wie Marx es in einem seiner berühmtesten Zitate formulierte: "Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten" (S. 621).

Dialektik des Kapitals

Dieser permanente Verwertungsdruck war erklärungsbedürftig, und Marx erkannte als erster, dass die Technik dabei eine zentrale Rolle spielt. Sobald sie systematisch eingesetzt wird, entfaltet sie ihre eigene Logik und Dynamik.

Für jeden einzelnen Unternehmer ist es attraktiv, neue Maschinen anzuschaffen, die produktiver sind als die Anlagen der Konkurrenz. Denn sobald ein Fabrikant seine Waren billiger herstellt, kann er sie auch billiger verkaufen – und einen Extraprofit erwirtschaften, den Marx "Extramehrwert" nannte. Die Wettbewerber müssen jedoch sofort nachziehen, wenn sie nicht untergehen wollen. Also investieren auch sie in neue Maschinen, und der Extramehrwert verschwindet wieder.

Jeder Kapitalist unterliegt also dem "Zwangsgesetz der Konkurrenz", wird von seinen Wettbewerbern getrieben und weitet seine Produktion aus, um nicht unterzugehen. Doch die meisten Märkte sind irgendwann gesättigt und können die zusätzlichen Waren nicht mehr aufnehmen. Den Verdrängungswettbewerb überleben nur jene Firmen, die am billigsten produzieren. Dies sind meist die Großkonzerne, denn sie profitieren von einem Phänomen, das die Ökonomen heute "steigende Skalenerträge" nennen: Je größer die Stückzahlen sind, desto billiger wird die eingesetzte Technik pro Stück.

Marx ging bereits implizit von diesen steigenden Skalenerträgen aus und war daher der erste Ökonom, der klar beschrieb, dass der Kapitalismus zum Oligopol neigt: Die kleinen Firmen werden verdrängt, bis nur noch wenige Großkonzerne eine ganze Branche beherrschen. Oder wie Marx es ausdrückte: Es kommt zur "Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist" und zur "Verwandlung vieler kleineren in weniger größere Kapitale" (S. 654).

Marx’ Analyse gilt bis heute, wie aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Großkonzerne machen zwar nur ein Prozent der deutschen Firmen aus, aber 2012 generierten sie 68 Prozent des gesamten Umsatzes. Gleichzeitig sind 81 Prozent aller Firmen Kleinstbetriebe – aber gemeinsam kamen sie 2012 nur auf sechs Prozent des Umsatzes. Die deutsche Wirtschaft ist extrem konzentriert, und wenige Großkonzerne kontrollieren die gesamte Wertschöpfungskette, von den Rohstoffen bis zum Absatz. Der Kapitalismus ist zutiefst dialektisch: Die Konkurrenz treibt die Unternehmer an, bis von der Konkurrenz nichts mehr übrig ist.

Marx sah diese Konzentrationsprozesse mit Freude. Er hoffte, dass der Kapitalismus von selbst untergehen würde – indem sich die Kapitalisten gegenseitig enteigneten, bis nur noch wenige Unternehmer übrig wären. "Je ein Kapitalist schlägt viele tot", was die Revolution vereinfachte: Am Ende müsste die "Volksmasse" nur noch "wenige Usurpatoren" entfernen. "Die Expropriateurs werden expropriiert" (S. 791). Bekanntlich kam es anders. Der Kapitalismus hat sich als deutlich langlebiger erwiesen, als Marx es je für möglich gehalten hätte. Das Oligopol der Großkonzerne war bemerkenswert stabil. Wo also lagen die Fehler seiner Analyse?

Irrtum I: Die Arbeiter sind nicht verelendet

Marx hielt eine kommunistische Revolution für zwingend, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass auch die Arbeiter vom Kapitalismus profitieren würden. So heißt es im "Kapital" gen Schluss: Es "wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung" (S. 790).

Für Kritiker ist es bis heute ein Spaß, dass Marx die totale Verarmung prognostizierte. So höhnte der Nobelpreisträger Paul Samuelson: "Man sehe sich die Arbeiter mit ihren Autos und Mikrowellenherden doch an – besonders verelendet sehen sie nicht aus." Dieser Spott ist jedoch ein bisschen billig. Es ist immer einfach, hinterher schlauer zu sein. Als "Das Kapital" 1867 erschien, waren viele Arbeiter noch bitterarm. Marx hatte daher keine Mühe, Zeitungsartikel oder offizielle Parlamentsberichte zu zitieren, die die Lebensumstände des Proletariats anprangerten.

Die Verarmung der unteren Schichten ließ sich sogar eindeutig messen – an der Körperlänge. Durch die Mangelernährung sank die durchschnittliche Größe der englischen Soldaten zwischen 1830 und 1860 um zwei Zentimeter. Auch auf dem europäischen Kontinent machte sich das Militär Sorgen, dass es nicht genug wehrtaugliche Soldaten finden könnte. Genüsslich zitierte Marx die amtlichen Statistiken: "Das Militärmaß war in Sachsen 1780: 178 Zentimeter, jetzt 155. In Preußen ist es 157. Nach Angabe in der ‚Bayrischen Zeitung‘ vom 9. Mai 1862 von Dr. Meyer stellt sich nach einem 9jährigen Durchschnitt heraus, daß in Preußen von 1000 Konskribierten 716 untauglich zum Militärdienst: 317 wegen Mindermaß und 399 wegen Gebrechen" (S. 254).

Der Durchbruch zur modernen Wohlstandsgesellschaft begann erst kurz vor Marx’ Tod. Ab etwa 1880 stiegen die Reallöhne deutlich an, was vor allem den Gewerkschaften zu verdanken war. Es entwickelte sich eine neue Massenkaufkraft, die den Kapitalismus nochmals veränderte. Es entstand die Konsumgesellschaft. Ohne den Massenkonsum wäre der heutige Kapitalismus nicht denkbar, denn inzwischen machen Konsumerzeugnisse etwa 75 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Wären die Reallöhne nicht gestiegen, hätte sich der Kapitalismus schon im 19. Jahrhundert erledigt und wäre wahrscheinlich nicht über die Eisenbahn hinausgekommen.

Erst die enorme Nachfrage seitens der Arbeitnehmer hat neue Produkte und neue Wachstumsschübe ermöglicht, die durch den Lebensstil der Wohlhabenden allein niemals ausgelöst worden wären. Wie der Historiker Eric Hobsbawm es zusammenfasst: "Es war nicht der Rolls-Royce, sondern das T-Modell von Ford, das die Automobilindustrie revolutioniert hat." Doch das war die Zukunft. Marx konnte noch nicht wissen, dass sich eine breite Mittelschicht entwickeln würde.

Irrtum II: Ausbeutung gibt es – aber nicht den Mehrwert

Marx war überzeugt, dass die Ausbeutung zwingend zum Kapitalismus gehört. Dies schien auch seine Theorie des "Mehrwerts" zu beweisen, die aus zwei Elementen besteht. Erstens wird angenommen, dass allein die Arbeit Werte schafft. Der Wert eines jeden Produkts wird also dadurch definiert, wieviel Arbeitszeit zu seiner Herstellung nötig ist. Diese sogenannte Arbeitswertlehre stammte nicht von Marx, sondern war bereits von den liberalen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo entwickelt worden.

Aber Marx dachte seine beiden Vorgänger konsequent zu Ende, indem er ein zweites Element einführte: den "Mehrwert". Er kommt zustande, weil die Arbeiter wesentlich länger arbeiten können, als an Arbeitszeit nötig ist, um ihr eigenes Überleben zu sichern. In seinen fiktiven Rechenbeispielen ging Marx meist davon aus, dass sechs Stunden reichten, um die Güter herzustellen, die eine Arbeiterfamilie für ihre "Reproduktion" brauchte – also Lebensmittel, Kleidung und eine bescheidene Wohnung. Da die Arbeiter damals jedoch zwölf Stunden pro Tag schufteten, konnte der Kapitalist die restlichen sechs Stunden abschöpfen. Dieser "Mehrwert" war sein Gewinn.

Marx wusste, dass seine Mehrwerttheorie eine zentrale Schwäche hatte – was vielleicht der Grund ist, warum er Band zwei und drei des "Kapitals" nie beendet hatte. Er kämpfte nämlich mit dem "Transformationsproblem", wie es heute heißt. Marx konnte nicht erklären, wie sich der Wert einer Ware in ihren Preis übersetzt. Zwischen der Tiefenstruktur der Werte und der Oberfläche der Preise schien es keine zwingende Verbindung zu geben.

Dieses "Transformationsproblem" entstand, weil im modernen Kapitalismus nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch Maschinen eingesetzt werden. Doch Marx’ Mehrwerttheorie ging davon aus, dass nur die menschliche Arbeit Werte schafft. Maschinen hingegen konnten keinen neuen Wert erzeugen – sondern in ihnen war nur Wert gespeichert. Wie alle Waren waren auch die Maschinen genau so viel wert, wie es Arbeitsstunden gekostet hatte, sie herzustellen. Abhängig vom Verschleiß übertrug sich dieser Wert dann anteilig auf die Güter, die mit den Maschinen produziert wurden. Dieses Modell hätte jedoch zur Konsequenz, dass in unterschiedlichen Branchen unterschiedlich viel Mehrwert entsteht, weil nicht überall gleich viel Arbeitskraft und Technik eingesetzt wird. So ist das Baugewerbe deutlich arbeitsintensiver als die Automobilindustrie, deren Fertigungsstraßen fast ohne Menschen auskommen. Da bei Marx aber nur menschliche Arbeit Mehrwert schaffen kann, müssten also die Profite in der Bauindustrie besonders hoch sein – und in der Automobilindustrie besonders niedrig.

Doch so funktioniert die Wirtschaft nicht, wie auch Marx wusste. Die Renditen in der Baubranche und in den Autokonzernen müssen ähnlich hoch sein – sonst würden nur noch Häuser gebaut und keine Autos mehr hergestellt werden. Marx hatte zwar keine Mühe, diese einheitliche Profitrate plausibel zu erklären, nur leider kam dabei der Mehrwert nicht mehr vor: Kapitalisten tendieren dazu, in Branchen zu investieren, die besonders hohe Gewinne abwerfen. Wenn aber das Angebot an Waren steigt, sinkt deren Preis – und die Erträge fallen wieder. Die permanente Zirkulation des Geldes sorgt dafür, dass sich die Profitraten in allen Branchen angleichen. Kapitalisten kalkulieren letztlich simpel, wie auch Marx feststellte: Sie berechnen ihre Produktionskosten – und schlagen einen Gewinn obendrauf. So ergibt sich dann der Preis, den sie auf dem Markt erzielen wollen. Aber wo bleibt da der Mehrwert? Darauf hatte Marx keine Antwort.

Der deutsche Sozialist Eduard Bernstein zog bereits 1898 die theoretischen Konsequenzen: Er schlug vor, auf die "rein gedankliche Konstruktion" namens Mehrwert ganz zu verzichten. Denn wie Bernstein richtig erkannte, benötigte man den Mehrwert gar nicht, um die Ausbeutung anzuprangern: Die amtlichen Zahlen, etwa die "Statistik der Einkommen", reichten völlig aus, um die extreme Ungleichheit zu skandalisieren. Die Ausbeutung sei "eine empirische, aus der Erfahrung nachweisbare Tatsache, die keines deduktiven Beweises bedarf".

Eher nebenbei skizzierte Bernstein damit ein Forschungsprogramm, das erst hundert Jahre später aufgegriffen wurde: Ab 1998 begann ein Forscherteam rund um den französischen Ökonomen Thomas Piketty, die Steuerdaten in zwanzig Ländern zu sichten, um das Einkommen und Vermögen der Eliten zu erfassen. Die gebündelten Ergebnisse publizierte Piketty dann 2014 in seinem Weltbestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert". Der Titel spielt nicht zufällig auf Marx an.

Pikettys Steuerdaten reichen – je nach Land – bis ins 18. Jahrhundert zurück und zeigen, wie stabil die Ungleichheit in den vergangenen drei Jahrhunderten war: In allen westlichen Ländern konzentriert sich der Reichtum bei wenigen Familien. Zwar geht es Arbeitern und Angestellten deutlich besser als zu Zeiten von Marx, aber die Verteilung ist nicht viel gerechter geworden. Das Kapital ist hochkonzentriert.

Irrtum III: Geld ist keine Ware

Marx war der erste Ökonom, der die Rolle des Geldes in einer kapitalistischen Wirtschaft richtig beschrieben hat: Geld wird in die Produktion von Waren investiert, damit man hinterher mehr Geld kassiert, also einen Gewinn macht. Seine Formel "G – W – G'" bringt auf den Punkt, was den Kapitalismus ausmacht.

Trotzdem hat Marx letztlich nicht verstanden, wie Geld funktioniert. Er blieb in einem Sumpf von Widersprüchen stecken, weil er irrtümlich glaubte, dass auch das Geld eine Art Ware sei. Daraus folgte für ihn dann umstandslos, dass die Arbeitswertlehre auch für das Geld gelten müsse: "Sein eigner Wert ist bestimmt durch die zu seiner Produktion erheischte Arbeitszeit" (S. 106).

Diese Idee konnte plausibel erscheinen, solange Geld vor allem aus Gold oder Silber bestand. Denn natürlich kostete es Arbeitszeit, die Edelmetalle zu fördern, zu transportieren und zu prägen. Doch schon zu Marx’ Lebzeiten kamen Banknoten auf, die ebenfalls Wert hatten, obwohl ihre Produktion fast gar nichts kostete. Marx stand vor dem Rätsel, warum auch die Geldscheine wertvoll waren.

Er erkannte nicht, dass Geld eine soziale Konvention ist. Geld ist, was als Geld akzeptiert wird. Alles kann zu Geld werden: Gold, Silber, Tabak oder Muscheln, aber auch Wechsel, Banknoten oder Girokonten. Eine Gesellschaft muss sich nur darauf einigen, was sie als Geld betrachtet – und schon ist es Geld. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, sondern wurde bereits vom antiken Philosophen Aristoteles formuliert: "Und es trägt den Namen "Geld" (nomisma), weil es sein Dasein nicht der Natur verdankt, sondern weil man es als "geltend" gesetzt (nomos) hat und es bei uns steht, ob wir es ändern oder außer Kurs setzen wollen."

Da Marx jedoch glaubte, dass Geld gleich Gold sei, konnte er nie schlüssig erklären, wie die Kreditvergabe funktioniert. Er kam über Fragmente nicht hinaus, die erst nach seinem Tod im dritten Band des "Kapital" veröffentlicht wurden. Selbst überzeugte Marxisten verzweifeln: "Offen gestanden, diese Kapitel sind ein Durcheinander, obwohl voller anregender Einsichten."

Marx war in einem Dilemma gefangen: Da er glaubte, dass Geld eine Ware ist, war die Geldmenge bei ihm begrenzt. Schließlich konnte man Gold nicht beliebig vermehren. Gleichzeitig wusste Marx jedoch genau, dass die Wirtschaft nur wachsen kann, wenn die Geldmenge steigt – und ständig mehr Kredite vergeben werden. Aber wo kam dieses zusätzliche Geld her, und warum behielt es seinen Wert? Für Marx blieb dies eine ungelöste Frage.

Er ging davon aus, dass erst gespart werden müsse, bevor eine Investition möglich ist. Doch wie er selbst ahnte, hätte es dann keine Eisenbahnen gegeben. Denn die reine "Akkumulation", also das Sparvermögen, hätte niemals ausgereicht, um die nötigen Summen aufzubringen: Der Kapitalstock der deutschen Eisenbahnen betrug 1840 rund 58,8 Millionen Mark; 1850 waren es schon 891,4 Millionen. Die Eisenbahn war eine technische Revolution, die im wahrsten Sinne des Wortes "aus dem Nichts" entstand. Wo früher nur Felder waren, lagen plötzlich Gleise. Erst der britische Ökonom John Maynard Keynes würde eine korrekte Beschreibung liefern, wie auch Kredite "aus dem Nichts" geschöpft werden und genau deshalb Wachstum finanzieren können.

Marx hingegen war ratlos. Etwas hilflos schrieb er: "Die Welt wäre noch ohne Eisenbahnen, hätte sie solange warten müssen, bis die Akkumulation einige Einzelkapitale dahin gebracht hätte, dem Bau einer Eisenbahn gewachsen zu sein. Die Zentralisation dagegen hat dies, vermittelst der Aktiengesellschaften, im Handumdrehn fertiggebracht" (S. 656). An dieser Beschreibung ist richtig, dass Aktiengesellschaften entstanden, um die Eisenbahnen zu finanzieren. Doch das Geldrätsel war damit nicht gelöst. Auch die Aktiengesellschaften operierten vor allem mit Fremdkapital, nahmen also Kredite auf. Wieder stand jene Frage im Raum, die Marx nicht beantworten konnte: Wo kam dieses ganze Geld her?

Auch ein Genie darf irren

Marx hat sich zwar in manchem geirrt, dennoch war er einer der innovativsten Theoretiker aller Zeiten, wie schon seine immense Resonanz bezeugt. Der US-Ökonom John Kenneth Galbraith schrieb ironisch: "Hätte sich Marx vor allem geirrt, wäre sein Einfluss schnell verflogen. Die vielen Tausend, die sich hingebungsvoll dem Nachweis seiner Fehler gewidmet haben, hätten sich andere Beschäftigungen gesucht."

Marx’ bleibendes Verdienst ist, dass er die Dynamik des Kapitalismus erstmals richtig beschrieben hat. Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess – und kein Zustand. Besitz existiert nicht per se, sondern ihn gibt es nur, wenn er sich ständig verwertet. Einkommen ist niemals garantiert, sondern entsteht nur, wenn unablässig investiert wird.

Der moderne Kapitalismus hatte sich noch nicht vollständig entfaltet, als Marx lebte. Trotzdem erkannte er bereits, dass der Kapitalismus zur Konzentration neigt und dass immer größere Konglomerate die kleinen Firmen verdrängen – bis die Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet ist. Der Kapitalismus ist also gerade keine Marktwirtschaft, in der viele Firmen miteinander im Wettbewerb stehen. Stattdessen dominiert das Oligopol, und die wichtigen Branchen werden von wenigen Konzernen beherrscht. Zudem hat Marx als Erster verstanden, wie entscheidend die Technik ist. Maschinen sind nicht nur Hilfsmittel der Produktion – technische Innovationen definieren den Kapitalismus. Jeder Unternehmer muss unablässig in neue Verfahren und Produkte investieren, wenn er überleben und seinen Profit erhöhen will.

Marx’ Erkenntnisse waren so epochal, dass sie sogar noch einen weiteren Ökonomen berühmt gemacht haben – Joseph Schumpeter. Dem konservativen Theoretiker wird bis heute attestiert, "eine der einflussreichsten Interpretationen des Kapitalismus" geliefert zu haben. Doch tatsächlich hat Schumpeter die Theorien von Marx nur detaillierter ausgeschmückt, mit einprägsamen Metaphern versehen, den Mehrwert weggelassen – und einen neuen Helden eingeführt: den Unternehmer.

Hatte Marx nur summarisch festgehalten, dass die Kapitalisten ihre Produkte oder Produktionsverfahren verbessern, unterschied Schumpeter nun fünf Varianten, was als Innovation gelten kann: neue Waren, neue Technik, Öffnung neuer Märkte, neue Rohstoffe oder eine neue Organisationsstruktur. Dank dieser Innovationen können Unternehmer zusätzliche Gewinne erwirtschaften, die bei Schumpeter "Extraprofite" hießen und nicht mehr "Extramehrwert" wie noch bei Marx. Ganz wie bei Marx kann sich der Unternehmer nicht lange an seinen Monopolgewinnen freuen, denn prompt folgt der "Schwarm" der Nachahmer, die diese Erfindung übernehmen, sodass der Extraprofit verschwindet – so weit, so bekannt.

Abweichungen gab es jedoch beim Personal. Bei Marx war der Kapitalist nur eine "Charaktermaske", die die systemimmanenten Kräfte personifiziert. Schumpeter hingegen adelte die Unternehmer zur schöpferischen "Elite". Sein "Entrepreneur" ist ein Erfinder, ein kreativer Geist, ein energischer Führer, der "ein privates Reich" gründen will. Er ist eine Kämpfernatur, will seine Überlegenheit beweisen, hat "Siegerwillen" und "Freude am Gestalten". Als Außenseiter löst er jenen "Sturm der kreativen Zerstörung" aus, der den Kapitalismus immer wieder durcheinanderwirbelt und vorantreibt.

Diese hemmungslose Überhöhung der kreativen Elite ist nicht nur befremdlich, sie war noch nicht einmal originell. Sie war nur die Antithese zu Marx und wäre ohne dessen Theorie gar nicht denkbar gewesen. Schumpeter hat versucht, "Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen", wie es ein Biograf formulierte.

Allerdings ist Schumpeter zumindest eine wichtige Ergänzung zu verdanken: Er hat die Rolle des Kredits richtig beschrieben und herausgearbeitet, dass es Wirtschaftswachstum nur geben kann, wenn Geld "aus dem Nichts" entsteht. Trotzdem ist es auch ihm nicht gelungen, eine umfassende Kredittheorie zu entwickeln, obwohl er jahrelang an einem Buch über Geld gearbeitet hat. Erschienen ist es nie. Das Thema war zu kompliziert.

Schumpeter hat nie geleugnet, dass er seine zentralen Ideen von Marx übernommen hat, sondern lobte den Vorgänger ausgiebig: "Als ökonomischer Theoretiker war Marx vor allem ein sehr gebildeter Mann. (…) Er war ein unersättlicher Leser und ein unermüdlicher Arbeiter. Er übersah sehr wenige Beiträge von Bedeutung (…) und stieß immer auf den Grund der Materie vor". Schumpeter gelangte zu einem Fazit, das noch heute gilt: "Marx beschrieb den Prozess des industriellen Wandels deutlicher und erkannte dessen zentrale Bedeutung weitaus klarer als jeder andere Ökonom seiner Zeit."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe auch Ulrike Herrmann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können, Frankfurt/M. 2016, S. 119ff.

  2. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, Berlin (Ost) 1962, S. 49. Im Folgenden werden die Seitenzahlen direkt im Text angegeben und verweisen auf diese Quelle.

  3. Vgl. David Harvey, A Companion to Marx’s Capital, London 2010, S. 9.

  4. Siehe Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW, Bd. 19, Berlin (Ost) 1962, S. 189–228.

  5. Siehe Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2015, Wiesbaden 2016, S. 511.

  6. Zit. nach Hans Bürger/Kurt W. Rothschild, Wie Wirtschaft die Welt bewegt, Wien 2009, S. 18.

  7. Vgl. Şevket Pamuk/Jan-Luiten van Zanden, Standards of Living, in: Stephen Broadberry/Kevin H. O’Rourke (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe. Volume 1, 1700–1870, Cambridge 2010, S. 217–234, hier S. 226.

  8. Siehe Statistisches Bundesamt (Anm. 5), S. 319.

  9. Eric Hobsbawm, The Age of Empire: 1875–1914, London 1994, S. 53.

  10. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek 1969, S. 65f.

  11. Ebd., S. 70.

  12. Die gesammelten Steuerdaten sind bei der World Wealth and Income Database zu finden. Siehe Externer Link: http://wid.world.

  13. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1133a, 29–31. Siehe auch Ulrike Herrmann, Der Sieg des Kapitals, München 2015, S. 109ff.

  14. Harvey (Anm. 3), S. 331.

  15. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2, 1815–1845/49, München 1987, S. 615.

  16. John K. Galbraith, The Affluent Society, London 1999, S. 61.

  17. Robert L. Heilbroner, The Worldly Philosophers, New York 1999, S. 293.

  18. Siehe Joseph A. Schumpeter, The Theory of Economic Development, New Brunswick 1983, S. 66.

  19. Thomas K. McCraw, Prophet of Innovation, Cambridge MA 2009, S. 68f.

  20. Vgl. ebd., S. 155.

  21. Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, New York 2008, S. 21.

  22. Ebd. S. 32.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Ulrike Herrmann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Wirtschaftskorrespondentin der "Taz. Die Tageszeitung" und Buchautorin.