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Lügen und Politik im "postfaktischen Zeitalter" | Wahrheit | bpb.de

Wahrheit Editorial Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie "Wahres Wissen" und demokratisch verfasste Gesellschaft Lügen und Politik im "postfaktischen Zeitalter" Bullshit. Weder Wahrheit noch Lüge Kleine Geschichte des Faktenchecks in den USA Bilder und "historische Wahrheit" Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug

Lügen und Politik im "postfaktischen Zeitalter"

Stefan Marschall

/ 16 Minuten zu lesen

Blickt man auf die aktuellen Debatten über das "postfaktische Zeitalter", könnte man den Eindruck gewinnen, dass die politische Lüge ein komplett neues Phänomen sei. Tatsächlich aber sind Lügen in der Politik ein Dauerbrenner, man denke etwa an Watergate (1970er Jahre), die Barschel-Affäre (1980er), den Lewinsky-Skandal (1990er) oder an die Begründungen für den Irak-Krieg (2000er). Das veranschaulicht auch eine Umfrage von 1998: Bereits damals unterstützten 57 Prozent der Befragten in Deutschland die Aussage "Die Politiker scheuen sich nicht, Tatsachen zu verdrehen oder zu beschönigen, um dadurch die Wahlen zu gewinnen". Und schon Bismarck wird das Bonmot zugeschrieben, dass nie so oft gelogen werde wie "vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd". In der Politik, so eine weit verbreitete Wahrnehmung, spielt Ehrlichkeit eine nachgeordnete Rolle – und das nicht erst seit gestern.

Dass Lügen keine Fremdkörper in der politischen Kommunikation sind, erscheint dabei zunächst wenig überraschend. Denn politische Kommunikation ist in erster Linie strategische Kommunikation. Folgt man dem Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998), dann geht es im politischen System nicht um das Finden von Wahrheit, sondern um die Machtfrage. Politische Kommunikation ist also – nicht nur, aber zu einem großen Teil auch – Machtkommunikation, die dazu dient, sich gegen andere durchzusetzen. So weit, wie das Feld der politischen Kommunikation ist, so weit kann das Feld der politischen Lüge sein, je nachdem wer lügt, wer belogen wird, in welchem Zusammenhang und vor allem zu welchem Zweck.

Unter "Lügen" können also ganz unterschiedliche kommunikative Akte einsortiert werden. Das Philosophische Wörterbuch definiert "Lüge" als eine "auf Täuschung berechnete Aussage, die das verschweigt bzw. entstellt, was der Aussagende über den betr. Sachverhalt weiß bzw. anders weiß, als er sagt". Damit ist noch nichts über die moralische Bewertung gesagt. Zunächst ist die Lüge, auch die in der Politik, nicht mehr und nicht weniger als ein Sprechakt, ein Sprachspiel. Lügen kann sogar als eine "Kunst" bezeichnet werden. Erst in einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Lügen zum Problem werden. Dabei spielt der Kontext der Lüge, in diesem Fall die Politik und die Demokratie, eine zentrale Rolle.

Höhere Moralität der politischen Lüge?

Die Frage, ob es gute Lügen und böse Lügen gibt, beantwortete der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) entschieden. Er wandte sich prinzipiell gegen die Rechtfertigung von Lügen, sei es in der Politik oder andernorts, und sprach sich vehement und pauschal gegen jede Entschuldbarkeit von Lügen aus, selbst wenn diese großen Schaden abwenden können. Denn Lügner verletzen ihm zufolge das gesellschaftliche Gebot, das jedem ein Recht auf Wahrhaftigkeit des anderen zuerkennt. Mit Blick auf die Politik sagte Kant: "Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren."

Diese rigide Position hat deutlichen Widerspruch erfahren, insbesondere durch die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt (1906–1975). Sie kritisierte scharf die Vertuschungs- und Täuschungsversuche der US-Regierung im Vietnam-Krieg, begründete aber zugleich, dass die Lüge ein unverzichtbarer, ja sogar notwendiger Bestandteil des Politischen sei. Ihr zentrales Argument lautete, das Wesen von Politik seien der Streit zwischen Meinungen und die Kompromissfindung. Wahrheiten jedoch lassen Meinungsdiskussionen nicht zu. Der politische Diskurs werde mit dem Anspruch auf Wahrheit abgewürgt; "vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch", denn sie bestreite das Recht auf andere Meinung. Arendt argumentierte, dass "jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt". Der Lügner hingegen blockiere den politischen Prozess nicht, sondern mache ihn erst möglich.

Im Handeln sah Arendt das zweite Wesensmerkmal von Politik. Diese sei auf die Zukunft ausgerichtet und strebe die Überwindung, Veränderung und letztlich die Zerstörung des aktuellen Zustands an. Die bloße Verkündung der Wahrheit verfestige lediglich das, was bereits existiert. "Für das Handeln, das entscheidet, wie es weitergehen soll, sind Tatsachen keineswegs notwendig." Die Lüge sei Handeln pur, weil sie das, was ist, zu verändern suche. Politik habe die wichtige Aufgabe, Altes zu beseitigen und zu zerstören, um Raum für neues Handeln zu gewinnen. Dazu tragen die Lügenden bei. "Wahrhaftigkeit ist nie zu den politischen Tugenden gerechnet worden, weil sie in der Tat wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat."

Bereits im 16. Jahrhundert hatte der Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli (1469–1527) einen Rechtfertigungsansatz für politische Lügen formuliert, der Herrschende von jeglicher moralischer Einschränkung zu befreien scheint. Diese dürfen lügen, betrügen, Versprechen brechen, ihre Untertanen bewusst täuschen. Aber dabei verhalten sie sich durchaus moralisch. "Du mußt das so verstehen, daß ein Fürst, und besonders in neubegründeter Herrschaft, nicht alles das tun kann, was die Menschen für gut halten, sondern häufig zur Erhaltung des Staates gegen Treue, Milde, Menschlichkeit und Religion verstoßen muß." Indem ein Herrscher solches Unrecht tue – und Machiavelli nannte entsprechendes Handeln des Fürsten ausdrücklich Verbrechen oder "Böses" –, verfolge er einen höheren Zweck: die Staatsräson, den Zusammenhalt des Staates und die Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung. Das Staatswohl zwinge den Fürsten, sich so zu verhalten, wie sich der Einzelne nicht verhalten sollte. Die Ethik des Amtes dominiert demnach über die Ethik des Individuums. Indem der Herrscher lügt, verstößt er gegen die individuelle Moral, dient aber damit einer übergeordneten Staatsmoral.

An dieser Stelle lässt sich die idealtypische Unterscheidung des Soziologen Max Weber (1864–1920) zwischen der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik anschließen: Der Gesinnungsethiker verhält sich Weber zufolge so, wie es ihm seine absolute Ethik nahelegt. Der Verantwortungsethiker bezieht jedoch bei der Entscheidung die voraussehbaren Folgen seines Handelns mit ein. Auf die Lüge übertragen: Die Wahrhaftigkeit gehört nicht zu den Handlungsmaximen eines Verantwortungsethikers, wenn diese im konkreten Fall zu problematischen Konsequenzen führt. Weber selbst erwähnt folgende Konstellation: Eine absolute Ethik könne nahelegen, dass ein Staat im Sinne der Wahrheitspflicht sich selbst belastende Dokumente veröffentlichen müsse. "Der Politiker wird finden, daß im Erfolg dadurch die Wahrheit nicht gefördert, sondern durch Mißbrauch und Entfesselung von Leidenschaft sicher verdunkelt wird." Lüge und Geheimhaltung könnten somit geboten, Wahrhaftigkeit und uneingeschränkte Offenheit wiederum unverantwortlich sein.

Weber und Machiavelli unterscheiden somit die Ethik der Privatperson von der Ethik des politischen Amtsinhabers. Das, was vom Individuum beispielsweise in seiner Rolle als Ehepartner oder Freund erwünscht sein kann, darf nicht zwangsläufig auch vom Individuum als Politiker erwartet werden. Der politische Funktionsträger kann vor der Situation stehen, konkurrierende moralische Werte gegeneinander abwägen zu müssen. Und dann mag es sein, dass die Lüge einen höheren moralischen Wert hat.

(K)eine Lizenz zum Lügen

Sind Lügen in der Politik also erlaubt? Unter Umständen können Lügen vertretbar sein, beispielsweise wenn sie erheblichen Schaden abwenden. Aber während die systematische Lüge für eine Diktatur durchaus systemrelevant ist, kann eine Kultur der Lüge in der Demokratie zu einem substanziellen Problem werden. Nicht nur, weil gute Politik auf Fakten beruhen muss, um nicht zu falschen und schädlichen Entscheidungen zu kommen. Ferner steht die politische Lüge quer zu mehreren demokratischen Kernelementen: Vertrauen, Kontrolle und Transparenz.

Moderne Demokratie ist stets repräsentative Demokratie. Ein Großteil der Entscheidungen wird von politischen Vertreterinnen und Vertretern, von Repräsentanten, gefällt. Repräsentative Demokratie lebt von der Vertrauensbeziehung zwischen diesen Vertretern auf der einen und den Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite. Nicht umsonst nennt man im Englischen politische Repräsentanten trustees, also "Vertrauenspersonen". Die Vertretenen müssen den trustees das Vertrauen schenken, dass diese ihre Interessen effektiv in den politischen Prozess einbringen. Vertrauen speist sich aus unterstellter Glaubwürdigkeit. Und tatsächlich ist Glaubwürdigkeit diejenige Politikereigenschaft, die in Umfragen sehr hohe bis höchste Erwünschtheitswerte erzielt.

Eine Kultur der Lüge droht, diese Vertrauensbeziehung zwischen Repräsentant und Repräsentierten zu untergraben. Die Vermutung, dass Politikerinnen und Politiker lügen und damit für die Bürgerinnen und Bürger unberechenbar werden, belastet das Vertrauen. Vertrauensverluste führen wiederum zu politischer Entfremdung und Apathie – und letzten Endes dazu, dass in der Bevölkerung nicht mehr die erforderliche Unterstützung für das System aufgebracht wird. 1998 verbanden 57 Prozent der Befragten ihre Erwartung, dass Politiker lügen, mit der Aussage "Das zeigt, dass etwas faul ist in unserem Staat". Das Gefühl, belogen zu werden, beschädigt die politische Kultur und gefährdet langfristig die Stabilität der Demokratie.

In der repräsentativen Demokratie spielt jedoch nicht nur das Vertrauen, sondern auch das institutionalisierte gesunde Misstrauen eine wichtige Rolle. Gewaltenteilung, Wahlen, checks and balances – mit einer komplexen Form der gegenseitigen Überwachung der Institutionen sowie der Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger wird gewährleistet, dass Macht nicht missbraucht wird. Politische Lügen können diese Kontrollmechanismen unterlaufen und aushöhlen. Systematische Unehrlichkeit behindert die effektive gegenseitige kritische Beobachtung der politischen Institutionen untereinander. Sie kann die Kontrolle der politischen Elite erschweren bis unmöglich machen. Wenn falsch bilanziert wird, wenn Verantwortung abgestritten wird, wenn unehrliche Aussagen getätigt werden, kann das politische Personal nicht angemessen zur Rechenschaft gezogen werden – ohne Transparenz kann es keine Kontrolle geben.

Transparenz ist auch die Voraussetzung für eine sinnvolle und zielgerichtete Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess. Demokratie und auch die repräsentative Demokratie erfordern, dass sich die Bürgerinnen und Bürger einbringen – nicht nur durch das Wählengehen, sondern auf vielfältige andere Weise, sei es in den Parteien oder in Vereinen. Die politische Lüge kann durch Fehlinformation Beteiligung verhindern oder in falsche Kanäle und Sackgassen lenken. Sie kann das Engagement der Bürgerinnen und Bürger sachlich entwerten und die Kluft zwischen den politischen Eliten und den Beteiligungswilligen vertiefen. Bei Wahlen wird das Problem besonders plastisch. Geht es im Sinne des retrospective voting darum, auf der Grundlage von politischen Misserfolgen und Erfolgen aus der vergangenen Wahlperiode zu entscheiden, für welche Partei oder welchen Kandidaten man die Stimme abgeben möchte, benötigt man entsprechendes Wissen. Auch im Sinne der promissory representation, wenn also die Wahlbevölkerung über zukünftige politische Entscheidungen abstimmt, muss sie wissen, was sie mit ihrer Stimmabgabe bewirkt. Ein Lügenwahlkampf schadet folglich der Qualität der politischen Beteiligung.

Transparenz ist also die Voraussetzung dafür, dass sich die Bürgerinnen und Bürger politisch beteiligen und frei ihre Meinung bilden können. Oder in Hannah Arendts Worten: "Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist."

Chancen und Grenzen eines Lügenmonitorings

Was ist also zu tun, wenn Lügen besonders in Demokratien ein Problem darstellen? Man kann die politische Lüge nicht einfach verbieten. Deswegen muss es in der Demokratie Wege geben, Lügen zu erschweren, aufzudecken, über ihre Rechtfertigung zu streiten und Lügende gegebenenfalls zu sanktionieren. Wie lassen sich Kontrolle und Kritik der Lüge institutionell umsetzen? Und wo liegen die Grenzen für ein solches Lügenmonitoring?

Eine erste Voraussetzung besteht darin, dass es ein Recht auf hinreichende und ehrliche Information geben muss. Von Belang sind hier insbesondere Berichtspflichten von Politikern und Parteien sowie weitreichende Akteneinsichtsrechte des Parlaments. Aber auch generelle Transparenzregeln, wie sie in Informationsfreiheitsgesetzen festgelegt sind, können helfen.

Darüber hinaus braucht es in der Demokratie Instanzen, die Lügen zum Thema machen und soweit möglich richtigstellen können. Für diese Aufgabe kommen unterschiedliche Akteure infrage. Zunächst das Wissenschaftssystem, das – so Niklas Luhmann – von der Suche nach Wahrheit geprägt ist und damit einen faktischen Referenzrahmen bieten kann. Aber auch in diesem System tauchen Grenzen für die Wahrheitsfindung auf: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht immer eindeutig oder unstrittig, auch nicht innerhalb der Wissenschaft. Kommen Forschungsergebnisse in den (partei)politischen Diskurs, werden aus den wissenschaftlichen "Tatsachenwahrheiten" schnell politische Meinungen.

Des Weiteren können schiedsrichterliche Instanzen, Gerichte oder in der Phase der Ermittlung auch Polizei und Staatsanwaltschaft Wahrheitsinstanzen sein. Das Problem ist dabei allerdings, dass hier nur strafrechtlich relevante Lügen Gegenstand der Ermittlung sein können, wie beispielsweise die Leugnung des Holocaust. Ansonsten sind auch Lügen weitreichend durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt.

Aus dem Bereich der staatlichen Institutionen wird üblicherweise Parlamenten eine Kontrollfunktion zugewiesen. Das Problem der parlamentarischen Kontrolle liegt gleichwohl darin, dass sie eingebettet ist in die Konfliktlinien zwischen den Parteien. Anschaulich wird diese Grenze beispielsweise an dem Untersuchungsausschuss, der nach der Bundestagswahl 2002 eingerichtet wurde, um zu klären, ob Politiker vor der Wahl wissentlich die Unwahrheit gesagt hatten, als sie (fälschlicherweise) von einer günstigen Haushaltslage ausgegangen waren. Am Ende stand erstens ein Bericht der Ausschussmehrheit von SPD und Grünen, zweitens ein Sondervotum der CDU/CSU, drittens ein Sondervotum der FDP und viertens eine Erwiderung der SPD auf das Sondervotum der Union – jedenfalls keine Einigung darauf, wer wann wo gelogen hatte oder auch nicht.

Ein weiterer wichtiger Kontrollakteur sind die Medien und mit ihnen die Journalistinnen und Journalisten. Es ist ihre genuine Aufgabe, Informationen und Meinungen nicht nur zu vermitteln, sondern auch zu überprüfen. Sie verfügen über die investigativen Ressourcen, Lügen aufzudecken, und über die Möglichkeit, Lügen zu problematisieren. Durch die Herstellung von Öffentlichkeit können sie die politischen Funktionsträger indirekt sanktionieren.

An den Medien werden jedoch die derzeitigen Grenzen des Lügenmonitorings dramatisch deutlich, wie beispielsweise die Rede von der "Lügenpresse" zeigt. Hinter dem Schlagwort steht die Behauptung, dass die Medien ihren Aufgaben nicht mehr effektiv nachgehen, sondern Teil eines Lügensystems seien. Immerhin 42 Prozent der Bevölkerung halten die deutschen Medien alles in allem für "nicht glaubwürdig", und 20 Prozent würden gegenüber den Medien ausdrücklich von "Lügenpresse" sprechen. Ein Teil der Bevölkerung vermutet somit eine "Lüge zweiter Ordnung", also dass die Instanzen, die Lügen aufdecken sollten, selbst lügen. Dies führt zu einer doppelten Vertrauenskrise. Man vertraut den politischen Akteuren nicht mehr, aber auch nicht mehr denjenigen, die diese kontrollieren sollen.

Das ist jedoch nicht die einzige Einschränkung, die das Lügenmonitoring durch Medien betrifft. Hinzu kommt, dass es nicht mehr den einen gemeinsam geteilten Medienraum gibt, sondern sich insbesondere im Internet sogenannte Echokammern und Filterblasen entwickelt haben. Die Mediennutzung differenziert sich aus. Die Menschen bewegen sich in voneinander abgegrenzten kommunikativen Räumen. Es gibt nicht mehr einige wenige anerkannte mediale Instanzen der Wahrheit. Vielmehr betreibt jede Echokammer ihr eigenes Wahrheitsmanagement – mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen.

Eine weitere Herausforderung für die journalistischen Medien stellt die Flut an falschen und richtigen Nachrichten dar, die online generiert und verbreitet werden. Das Internet ermöglicht vielen Personen und Organisationen, selbst zu Autoren von Nachrichten zu werden, die sich dann viral verbreiten können. Der Umfang und die Dynamik der Nachrichtenlage stellen die journalistischen Medien vor grundlegende Herausforderungen. Für eine ordentliche Überprüfung von Nachrichten fehlt oft die Zeit, denn die Medien stehen unter dem Druck, über wichtige Ereignisse zeitnah berichten zu müssen. Die Dynamik von Information und Falschinformation, die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten verbreiten, insbesondere von solchen, die Stereotypen entsprechen, machen ein journalistisches Lügenmonitoring nahezu unmöglich.

Insgesamt scheinen die herkömmlichen Instanzen der Wahrheit an Grenzen zu stoßen. Die politische Lüge wird somit leichter gemacht. Die Lügenden kommen "straffrei" davon.

Lügen und Feststellung der Schuld

Der Versuch, Lügen aufzudecken und nachzuweisen, ist generell schwierig – selbst wenn die Wahrheitsinstanzen funktionieren. Das galt auch schon vor dem "postfaktischen Zeitalter".

Üblicherweise greifen die Kontrollmechanismen erst im Nachhinein, wenn die Lüge bereits gewirkt hat. Das führt zu Problemen, zum Beispiel dass überführte Lügner eventuell nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, weil sie nicht mehr im Amt sind. Auch kann es sein, dass durch die Lüge entstandener Schaden nicht mehr behoben werden kann, weil auf der Grundlage der Lüge bereits Entscheidungen gefällt worden sind, die nicht rückgängig gemacht werden können.

Zudem ist schwer nachweisbar, dass jemand tatsächlich mit Täuschungsabsicht unwahrhaftig war. Bei der politischen Lüge wiegt die Last des Beweisens oft schwerer als die Last des Beweises: Wie kann jemandem quasi gerichtsfest nachgewiesen werden, in einer spezifischen Situation bewusst gelogen zu haben? War es "nur" Unwissen oder doch eine gezielte Falschaussage? Was genau wussten die Akteure, die Wahrheitswidriges behauptet haben? Wurden sie selbst vielleicht Opfer von Falschinformationen? Stand vor der vermeintlichen Täuschung der einen die Täuschung durch andere? Kann dann noch von Lüge die Rede sein oder handelt es sich um Irrtum?

Das Problem der Schuldzuweisung scheint sich noch dadurch zu verschärfen, dass die Urheberschaft von Lügen nicht immer klar ist und somit der "Schuldige" nicht ohne Weiteres ermittelt werden kann. So hat sich in den vergangenen Jahren, bedingt durch die Rolle sozialer Medien, eine neue Form politischer Lügen herausgebildet, die unter dem Begriff der Fake News läuft. In vielen Fällen kommen Lügen nicht mehr von konkret benennbaren und identifizierbaren politischen Individuen, sondern aus den Tiefen des Internets und verbreiten sich wie ein Virus. Mitunter erstellen und versenden Computerprogramme (social bots) autonom Nachrichten. Hinter mancher politischen Lüge mögen dann doch konkrete politische Akteure stecken, die, wenn sie die Fake-Nachricht nicht in Auftrag gegeben, so doch zumindest gebilligt haben. Das nachzuweisen und nachzuverfolgen, erscheint im Dickicht des Internets aber kaum noch möglich.

Für eine Kultur der Ehrlichkeit

Es ist offenkundig dass die Auseinandersetzung über das, was wahr und unwahr ist, schwieriger geworden ist. Genau dies kennzeichnet womöglich die Lage von Lüge und Wahrheit im "postfaktischen Zeitalter". Wenn falsche Informationen online generiert werden und sich in unglaublicher Geschwindigkeit viral verbreiten, wenn es keine allgemein anerkannten Instanzen der Wahrheit mehr gibt, wenn Parallelwelten und "alternative Fakten" koexistieren, dann zeigt sich vielleicht gerade darin eine neue Phase in der Auseinandersetzung mit der politischen Lüge – mit unabsehbaren Folgen und drohendem Schaden für die demokratische Kultur.

Unterschiedliche Akteure sind gefordert, dem entgegenzuwirken. Eine besondere Verantwortung tragen die Medienplattformen wie beispielsweise Facebook, die als Verbreitungskanäle von News, aber auch von Fake News dienen. Hier bedarf es einer stärkeren journalistischen Kontrollarbeit, ohne dass damit Zensur betrieben wird. Die klassischen journalistischen Medien wiederum sollten sich weniger als reine Weiterleiter andernorts generierter Nachrichten verstehen, sondern mit einem zweiten kritischen Blick auf gelieferte Informationen schauen. Ihre Rolle wird es zunehmend sein, die Nachrichten anderer einzuordnen, zu überprüfen und anzuzweifeln.

Auch die politisch Verantwortlichen sind gefordert. Selbst wenn die politischen Akteure nicht immer die Autoren der Lüge sein müssen, kommt ihnen eine besondere Verantwortung für eine politische Kultur der Ehrlichkeit zu – auch und gerade im Umgang mit Lügen, die ihnen selbst nutzen. Dabei gilt es, zu lernen, dass der Ehrliche nicht zwangsläufig der Dumme ist. Eine Reihe von Fällen veranschaulicht, dass die Bürgerinnen und Bürger eine Politik der Ehrlichkeit durchaus honorieren – auch in Wahlkämpfen. So zog etwa 1976 der demokratische Präsidentschaftskandidat Jimmy Carter ins Weiße Haus ein, nachdem er unter dem Eindruck der Watergate-Affäre im Wahlkampf mit dem Versprechen hatte punkten können, die Amerikanerinnen und Amerikaner niemals zu belügen. Und kurz vor der Bundestagswahl 2013 gaben in einer Umfrage die Befragten mit 33 Prozent am häufigsten an, die persönliche Wahlentscheidung von der "Glaubwürdigkeit der Partei" abhängig zu machen und damit Ehrlichkeit stärker zu gewichten als die inhaltliche Übereinstimmung oder die Überzeugungskraft des Spitzenkandidaten.

Damit sind wir bei den vielleicht wichtigsten Akteuren angelangt: den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Eine Lüge funktioniert nur, wenn sich Leute finden, die sich belügen lassen. Bereits jetzt gibt es eine gesunde Skepsis gegenüber der politischen Kommunikation. Die Fähigkeit, die Informationsflut zu bewältigen, Nachrichten einzuordnen, unsichere "Fakten" als solche zu erkennen, wird im Zeitalter onlinebasierter politischer Kommunikation zu einer Schlüsselkompetenz für die Bürgerinnen und Bürger. Diese werden zu ihren eigenen Wahrheitsmanagern. Eine solche politische Medienkompetenz muss frühzeitig und umfassend vermittelt werden. Hier sind vor allem die Einrichtungen der schulischen und außerschulischen Bildung gefragt.

In diesen "postfaktischen" Zeiten eine Kultur der Ehrlichkeit zu entwickeln, ist jedenfalls ein großes Projekt. Aber es ist eines, das verhindern kann, dass aus dem "postfaktischen Zeitalter" ein "postdemokratisches" wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998–2002, München 2002, S. 749.

  2. Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 88–102.

  3. Heinrich Schmidt, Lüge, in: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 199122, S. 444.

  4. Simone Dietz, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek 2003.

  5. Vgl. Immanuel Kant, Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werke in zwölf Bänden, Bd. VIII, Frankfurt/M. 1968, S. 637–643.

  6. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: Otto Heinrich von der Gablentz (Hrsg.), Immanuel Kant. Politische Schriften, Köln–Opladen 1965, S. 104–150, hier S. 133.

  7. Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 1987, S. 61, S. 51.

  8. Ebd., S. 64f., S. 74f.

  9. Niccolò Machiavelli, Der Fürst (Il Principe), Leipzig 1924, S. 69.

  10. Max Weber, Politik als Beruf, in: Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber. Gesammelte politische Schriften, Tübingen 19713, S. 505–560, hier S. 551.

  11. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Demokratie und Integration in Deutschland, Mannheim 2008.

  12. Vgl. Noelle-Neumann/Köcher (Anm. 1), S. 159.

  13. Vgl. Morris P. Fiorina, Retrospective Voting in American National Elections, New Haven 1981.

  14. Vgl. Jane Mansbridge, Rethinking Representation, in: American Political Science Review 4/2003, S. 515–528.

  15. Arendt (Anm. 7), S. 58.

  16. Vgl. Claus Offe, Die Ehrlichkeit politischer Kommunikation. Kognitive Hygiene und strategischer Umgang mit der Wahrheit, in: Vorgänge 3/2004, S. 28–38.

  17. Vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 73. Siehe auch den Beitrag von Peter Weingart in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  18. Allein vom Begriff her einschlägig sind die sogenannten Wahrheitskommissionen, wie sie beispielsweise in Südafrika zur Aufklärung staatlicher Verbrechen in Zeiten der Apartheid eingesetzt wurden. Diese beschäftigten sich allerdings mit der Aufarbeitung der vordemokratischen Vergangenheit und nicht mit aktuellen Lügen.

  19. Vgl. den Kommentar zu Artikel 5 GG in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, München 2016, Rn. 66ff.

  20. Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarismus. Eine Einführung, Baden-Baden 20162, S. 146–154.

  21. Vgl. Bundestagsdrucksache 15/2100, 24.11.2003.

  22. Siehe auch den Beitrag von Lucas Graves in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  23. Vgl. Infratest dimap, Glaubwürdigkeit der Medien, Oktober 2015, Externer Link: http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/glaubwuerdigkeit-der-medien.

  24. Offe (Anm. 16), S. 37.

  25. Vgl. Wolfgang Schweiger, Der (des-)informierte Bürger im Netz, Wiesbaden 2017.

  26. Hannah Arendt hat diese Form von Selbsttäuschung sehr anschaulich an den Lügen zum Vietnam-Krieg illustriert. Vgl. Arendt (Anm. 7), S. 33f.

  27. Siehe auch den Beitrag von Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  28. Vgl. Stiftung für Zukunftsfragen, Wovon die Wahlentscheidung abhängt, Forschung Aktuell 250/2013, Externer Link: http://www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/fileadmin/_migrated/media/Forschung-Aktuell-250-Bundestagswahl-2013.pdf.

  29. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 201310; zur Debatte über die "Postdemokratie" siehe Stefan Marschall, Demokratie, Opladen 2014, S. 103f.

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ist Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt "Politisches System Deutschlands". Er ist Sprecher des Arbeitskreises "Politik und Kommunikation" der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. E-Mail Link: stefan.marschall@uni-duesseldorf.de