In allen drei Ländern leben die Minderheiten hauptsächlich konzentriert (Karte). In Estland weisen einige Bezirke der Hauptstadt Tallinn, die ehemaligen Industriestädte der Nordost-Region Ida-Virumaa und Ortschaften um den Peipussee eine große russischsprachige Bevölkerung auf. Lettlands Hauptstadt Riga ist zur Hälfte russischsprachig, die Region Lettgallen im Osten des Landes und ihre regionale Hauptstadt Daugavpils sind zu über drei Vierteln von Russischsprachigen besiedelt. In Litauen weisen einzelne Städte wie Visaginas mit einer litauischen Bevölkerung von unter 20 Prozent oder Klaipeda einen sehr hohen Anteil Russischsprachiger auf, während die polnische Minderheit in der Hauptstadt Vilnius mit rund 16 Prozent stark vertreten ist und in mehreren weiteren umliegenden Gemeinden eine lokale Mehrheit ausmacht: in der Region Vilnius über die Hälfte der Bevölkerung, in Šalčininkai über drei Viertel, in Trakai etwa ein Drittel.
Ethnische Diversität hat im Baltikum eine lange Geschichte. Teile der Region waren seit dem späten Mittelalter unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, der Dänischen und Schwedischen Königreiche oder gehörten zur Polnisch-Litauischen Union, bevor sie schließlich im 18. Jahrhundert dem Russischen Zarenreich angegliedert wurden. Deutsche und jüdische Gemeinden prägten in hohem Maße die sozialen, kulturellen und sprachlichen Entwicklungen in den baltischen Gesellschaften. Auch eine zahlenmäßig relevante russische Minderheit gab es spätestens ab dem 18. Jahrhundert, als Altgläubige aus den östlicheren Provinzen des Zarenreiches vor Verfolgung nach Westen flüchteten; später kamen andere soziale Gruppen auf der Suche nach Arbeit oder Schutz vor Verfolgung.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die baltischen Staaten unabhängig und etablierten demokratische Nationalstaaten mit teils weitgehenden Minderheitenrechten bis hin zur Kulturautonomie für ausgewählte Gruppen. So betrieben etwa die deutsche und die jüdische Minderheit in Estland in diesem Rahmen eigene Schulen.
In den 1930er Jahren wich diese Toleranz gegenüber Minderheiten im Zuge der Etablierung autoritärer Regime zunehmend einem romantischen Nationalismus. Dennoch lebten zu dieser Zeit zwischen acht und elf Prozent ethnische Russinnen und Russen sowie andere Minderheiten in Estland und Lettland. In Litauen lebte während der Zwischenkriegszeit eine polnische Minderheit mit einem Bevölkerungsanteil von etwa drei Prozent – die heutige Hauptstadt Vilnius ausgenommen, die damals zu Polen gehörte.
Während des Zweiten Weltkrieges waren Estland, Lettland und Litauen unter sowjetischer und deutscher Besatzung, bis sie nach den Siegen der Roten Armee über die Wehrmacht im Herbst 1944 als Sozialistische Sowjetrepubliken (SSR) in die Sowjetunion eingegliedert wurden. Unter den Okkupationen und Kriegshandlungen veränderte sich die demografische Zusammensetzung der Region nachhaltig. Insbesondere die Repatriierung der Deutschen, der Holocaust und die sowjetischen Deportationen hinterließen tiefe Spuren.
Noch drastischere Auswirkungen auf die demografische Struktur hatte die sowjetische Industrialisierungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, die eine sehr starke Arbeitsmigration aus anderen Republiken in die Region mit sich brachte, oft auch in eigens gegründete Monostädte. Der Großteil der umgesiedelten Bevölkerung kam aus den Russischen, Belarussischen oder Ukrainischen SSR. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter wurden nach einem Rotationsprinzip nur für einige Jahre in eine baltische Republik gesandt, bevor sie in einen anderen Teil der Sowjetunion versetzt wurden. Aber manche ließen sich auch dauerhaft in der Estnischen, Lettischen oder Litauischen SSR nieder. Hinzu kam der Zuzug von pensionierten sowjetischen Militärs aufgrund des milden Klimas und des höheren Lebensstandards.
Russisch fungierte in der Sowjetunion als interethnische Kommunikationssprache. Auf Integrationsmaßnahmen, insbesondere das Erlernen der jeweiligen Titularsprachen in den Sowjetrepubliken, legte die sowjetische Führung keinen Wert. Obwohl zwei Drittel der Russischsprachigen 1989 bereits über zehn Jahre im Baltikum lebten, beherrschten denn auch nur etwa ein Drittel der Minderheitenbevölkerung in Litauen die Titularsprache fließend; in Lettland war es rund ein Fünftel und in Estland ein Siebtel.
Angesichts anhaltender sowjetischer Einwanderung in den späten 1980er Jahren fürchteten die Titulargruppen in den baltischen Staaten die komplette Verdrängung ihrer Sprachen. Auch ökologische Ausbeutung wurde zunehmend mit der Präsenz der sowjetischen Russischsprachigen verbunden, was das Missfallen in den Titularbevölkerungen stärkte.
Die Unabhängigkeitsbestrebungen der späten 1980er Jahre speisten sich aus diesem Unmut und orientierten sich an einer Lesart der jüngeren Geschichte der baltischen Staaten, die die gesamte sowjetische Ära als Okkupation versteht. Um ihren Selbstbestimmungsanspruch zu unterstreichen, führten die baltischen Staaten nach dem Grundsatz ex iniuria ius non oritur (aus Unrecht kann kein Recht entstehen) die Verfassungen der vorsowjetischen Zeit wieder ein. Dem Prinzip der staatlichen Kontinuität von der vor- in die postsowjetische Zeit entsprechend, wurde nicht nur die sowjetische Herrschaft als Folge der Annexionen 1944 für unrechtmäßig erklärt, sondern auch alle rechtlichen Konsequenzen der Eingliederung in die Sowjetunion, einschließlich der Bevölkerungsveränderungen und daraus resultierenden Konsequenzen für die Sprachpraxis.
Die Bewahrung von Sprache und Kultur der Titularnationen gehört in Estland, Lettland und Litauen nach wie vor zu den zentralen Aufgaben des Staates. Zwar werden in den Verfassungen der drei baltischen Staaten Minderheitenrechte explizit geschützt. Die tatsächliche Situation und Integration von Minderheiten ist aber vor allem durch Gesetze zum Staatsangehörigkeitsrecht und zur Sprachpraxis bestimmt, die in ihrer Kopplung die Sichtbarkeit und Partizipation von Minderheiten fundamental einschränken.
Vielfalt und Exklusion
Gemäß dem Prinzip einer staatlichen Kontinuität zur Zwischenkriegszeit unterschieden die drei wieder unabhängigen baltischen Staaten bei der Festlegung des Kreises ihrer Staatsangehörigen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern der Zwischenkriegsrepubliken und deren Nachkommen einerseits und den sowjetischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten andererseits. Erstere wurden automatisch als Staatsangehörige anerkannt. Letztere nur in Litauen, das einen inklusiven Ansatz verfolgte und die automatische Staatsbürgerschaft oder zumindest eine erleichterte Einbürgerung für alle ehemaligen Bürger der Litauischen SSR vorsah. In Estland und Lettland verloren die innersowjetischen Migranten sowie ihre Nachkommen jedoch ihre Staatsangehörigkeit und wurden staatenlos.
Nach wie vor gelten in diesen beiden Ländern strenge Kriterien für die Einbürgerung. Dazu gehören fundierte Kenntnisse der jeweiligen Titularsprache, der Landesgeschichte und des Staatsbürgerschaftsgesetzes, und es muss ein Eid über die Loyalität zum Staat abgelegt werden. Die Hürden bei der Einbürgerung verfolgten ursprünglich eine doppelte Zielsetzung: Zum einen den Schutz der Titularsprachen und zum anderen die Sicherung des Vorrechts der Titularnation, über fundamentale politische und institutionelle Weichenstellungen der jungen Staaten zu entscheiden.
Letzteres wurde auch durch das Herauszögern der Fristen für die Einbürgerung erreicht. So konnten in Estland erste Einbürgerungen nicht vor dem 30. März 1993 vorgenommen werden. Der entsprechende Gesetzentwurf in Lettland sah Einbürgerungen sogar erst ab dem Jahr 2000 vor, beschränkte sie auf diejenigen, die in den Grenzen des heutigen Lettlands geboren waren, und legte die jährliche Quote auf 0,1 Prozent der Bevölkerung fest. Das entsprach Mitte der 1990er Jahre, als das Gesetz diskutiert wurde, etwa 1.000 Neubürgern pro Jahr – angesichts der über 670.000 Menschen, die durch die Unabhängigkeit Lettlands ihre Staatsangehörigkeit verloren hatten, eine verschwindend geringe Zahl. Erst unter dem erheblichen Druck der internationalen Gemeinschaft und der EU im Zuge des Beitrittsprozesses akzeptierte Lettland schließlich eine Liberalisierung des Gesetzes. Dennoch kam es erst in den frühen 2000er Jahren zu einer deutlichen Zunahme von Einbürgerungen, die kurz vor dem EU-Beitritt 2004 einen Höhepunkt erreichte.
Seit Jahren liegt die Einbürgerungsrate in Estland und Lettland jedoch wieder auf niedrigem Niveau und betrifft fast nur noch staatenlose Jugendliche. Trotz der Möglichkeit zur Einbürgerung besitzt bis heute etwa ein Viertel der russischsprachigen Bevölkerung Estlands, also etwa sieben Prozent der Gesamtbevölkerung, und die Hälfte der Russophonen Lettlands, also rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung, keine Staatsangehörigkeit. Die erforderlichen Sprachkenntnisse erweisen sich als das größte Hindernis. Für viele Russischsprachige ist Estnisch beziehungsweise Lettisch im Alltag kaum relevant, und sie fühlen sich durch diese Bringschuld gedemütigt und diskriminiert. Daher verpuffen auch die staatlichen Angebote zur Förderung von Sprachkenntnissen, die erst einige Jahre nach der Unabhängigkeit eingeführt wurden und von internationalen Gebern finanziert werden.
Obwohl nur als Übergangslösung konzipiert, hat sich sowohl in Estland als auch in Lettland zur Regelung der Situation von Nichtbürgern eine alternative Form von Staatsbürgerschaft mit eingeschränkten Rechten etabliert. Diese berechtigt jedoch nicht zur politischen Partizipation auf nationaler und in Lettland auch auf lokaler Ebene. Auch die Ausübung bestimmter Berufe im Staatsdienst ist nur eingeschränkt möglich. Viele Russischsprachige sind bereit, diese Einschränkungen zu akzeptieren, zumal sie ohne Visum in andere EU-Staaten und im Gegensatz zu estnischen oder lettischen Staatsbürgern auch nach Russland reisen können – ein aus beruflichen und persönlichen Gründen wichtiger Umstand.
Eine weitere Alternative zur Einbürgerung ist die Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft. Während Russischsprachige in Lettland kaum von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, hat etwa ein Drittel der Russischsprachigen in Estland die russische Staatsbürgerschaft, also rund zehn Prozent der permanent in Estland lebenden Personen.
Sprachenpolitik
Bereits vor der Unabhängigkeit verabschiedeten Estland, Lettland und Litauen Sprachgesetze, die die Titularsprachen gegenüber der Unionssprache Russisch bevorzugten. Angesichts der Relevanz des Russischen sahen sie jedoch Übergangsfristen vor und erlaubten einen pragmatischen Gebrauch des Russischen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, beispielsweise bei der Kommunikation mit Behörden. Mitte der 1990er Jahre änderte sich die Situation jedoch fundamental, und alle Sprachen außer der jeweiligen Titularsprache wurden zu Fremdsprachen erklärt.
Die noch weitgehend geltenden novellierten Gesetze regulieren in Estland und Lettland auch das Ausmaß der notwendigen Sprachkenntnisse für die interne Arbeit in Parlamenten auf lokaler und nationaler Ebene und damit zur Ausübung des passiven Wahlrechts, für weite Bereiche des Arbeitsmarktes und für die Einbürgerung. Die Implementierung der Sprachgesetzgebung wird durch Sprachinspektionen kontrolliert – in Lettland auch in der Privatwirtschaft. Im Zuge dieser Überprüfungen können Beschäftigte mit "unzureichenden Kenntnissen der Staatssprache" von der Arbeit suspendiert und Strafen für widerrechtliches Aufstellen von bilingualen Schildern auferlegt werden. Die Schreibweise von Namen in der Minderheitensprache muss den Titularsprachregelungen angepasst sein.
Parallel bemühten die drei baltischen Staaten flankierende Maßnahmen im Bildungssektor. Nach ihrer Unabhängigkeit ließen sie viele Schulen schließen, in denen Minderheitssprachen die Unterrichtssprache waren, wobei es nach wie vor russische, polnische und andere mono- und bilinguale Schulen gibt. Estland und Lettland verabschiedeten umfassende Reformen, um ein weitgehend estnisch- beziehungsweise lettischsprachiges Curriculum einzuführen. Ziel war neben der Vereinheitlichung des Bildungssystems, die Integration durch Sozialisierung einer jungen Generation von Angehörigen von Minderheiten in die jeweilige Titulargemeinschaft zu unterstützen. Sekundarschulen müssen nun mindestens 60 Prozent ihres Unterrichts in der jeweiligen Titularsprache halten. Darüber hinaus hat Estland an rund 15 Prozent der russischen Grundschulen und in vielen Vorschulen und Kindergärten Sprachimmersion eingeführt, das heißt Estnisch wird dort nicht wie eine Fremdsprache unterrichtet, sondern fungiert als sprachliches Hauptmedium.
In Litauen waren die Bildungsreformen zurückhaltender. 2011/12 wurde die Erhöhung der Zahl der Stunden, die in der Landessprache unterrichtet werden müssen, insbesondere in ausgewählten Fächern wie beispielsweise Geschichte, auch an Minderheitenschulen vorgeschrieben. Ferner wurde ein landesweit einheitlicher Sprachtest für Litauisch am Ende der Sekundarstufe eingeführt, dessen Bestehen obligatorisch für das Studium an staatlichen Universitäten und Hochschulen ist.
Trotz der intensiven Vorbereitung von Lehrmaterialien und starker Argumente für die Notwendigkeit der Förderung der Titularsprache an Schulen für die gesellschaftliche Integration sind die Reformen umstritten. In Litauen kritisieren Minderheiten Ressourcenmangel und beklagen Benachteiligung und Qualitätsverlust des Unterrichts in Minderheitssprachen. Das Thema stellt sogar über die Landesgrenzen hinaus eine ernste Belastung für das Verhältnis zwischen Polen und Litauen dar. In Lettland provozierte der zunächst überstürzt eingeführte Wandel eine Protestwelle unter Russischsprachigen, die um die Qualität der Bildung für ihre Kinder fürchteten. Als Reaktion darauf nahm die Regierung das Tempo aus der Reform. Estland lernte vom Nachbarn und ging gradueller vor. Doch auch hier sind viele Lehrkräfte an russischen Schulen sprachlich nicht qualifiziert, in der Amtssprache zu unterrichten. Schülerinnen und Schüler an russischsprachigen Schulen beklagen, dass ohne ein estnisch- beziehungsweise lettischsprachiges Umfeld und die Unterstützung der Eltern kein befriedigendes Niveau zu erreichen sei und dass sich unter dem Druck der Reform ihre Leistungen verschlechtern. Tatsächlich fallen die Leistungen an Minderheitenschulen hinter denen an Titularschulen zurück. Da die staatlichen Universitäten der drei baltischen Staaten ausschließlich in der Titularsprache unterrichten müssen, weichen viele Russischsprachige, deren Kenntnisse in der Amtssprache nicht ausreichen, auf private Hochschulen aus oder entscheiden sich für ein Studium im Ausland.
Die Maßnahmen zum sprachlichen Wandel in Estland, Lettland und Litauen erweisen sich also als wenig förderlich für die gesellschaftliche Integration. Stattdessen erleben Minderheiten die Bevorzugung der Titularsprache als direkte Benachteiligung, als Assimilationszwang und als Bedrohung ihres sprachlich-kulturellen Erbes sowie als Minderung ihrer Rolle im politischen, Arbeits- und sozialen Leben. In der Tat schränken die Sprachenpolitiken der baltischen Staaten vor allem die Sichtbarkeit der Minderheiten und ihre Chancen für sozioökonomische und politische Partizipation ein, ohne zugleich den Erwerb von Sprachkenntnissen ausreichend zu fördern. Im Bildungsbereich wird Letzteres zwar gezielt unternommen, scheint in allen drei Ländern jedoch eher zu einer Vertiefung der Spaltung zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerungen beizutragen.
Wider die Entfremdung
Insgesamt ist es den baltischen Staaten nicht gelungen, in dem Vierteljahrhundert seit ihrer erneuten Unabhängigkeit die Unsicherheiten und das gegenseitige Misstrauen weiter Teile der Mehrheits- und Minderheitsbevölkerungen zu überwinden. Gleichzeitig hat sich in einigen Lebensbereichen die Ungleichheit zwischen den Gruppen zum Teil verfestigt. In der Tat liegt die Erwerbslosigkeit unter Angehörigen der Minderheiten in Estland und Lettland höher als bei der Mehrheitsbevölkerung – in Estland ist sie mit 12,4 Prozent gegenüber 6,8 Prozent fast doppelt so hoch. Ihre sozioökonomische Mobilität ist geringer, und sie sind stärker von den Auswirkungen der globalen Finanzkrise betroffen. Für Litauen gilt das als traditionelles Agrarland weniger, da die sozioökonomischen Folgen der postsowjetischen Umwälzungen, speziell die Umstrukturierung der Wirtschaft weg von einer Mono- und Schwerindustrie sowie dem Energiesektor, die in Estland und Lettland besonders Angehörige der Minderheiten trafen, schwächer blieben.
Strukturell gesehen macht sich die mangelhafte Integration auch in unterschiedlichen Lebenswelten bemerkbar. Teile der russischsprachigen Bevölkerung sind weitgehend abgekoppelt von der nationalen Medienwelt und informieren sich ausschließlich über russische Medien. Hinzu kommen unterschiedliche Geschichtsauffassungen, die sich auch in einer gespaltenen Erinnerungskultur ausdrücken. Damit verknüpft sind Bedenken, dass die baltischen Gesellschaften durch mediale Propaganda, aber auch direkte Unterstützung von prorussischen Kräften aus Russland weiter gespalten werden könnten.
Politischen Kräften, die versuchen, die russischsprachige Bevölkerung zu mobilisieren, wird daher seit der Unabhängigkeit in allen drei Ländern mit Argwohn begegnet. Trotz Unterschieden ist die politische Repräsentanz der Minderheiten in den baltischen Staaten insgesamt marginalisiert und teilweise stark fragmentiert. Die Interessen der polnischen Minderheit in Litauen und der Russischsprachigen in Lettland werden vorrangig durch ethnische Minderheitsparteien wie die Wahlaktion der Polen Litauens beziehungsweise die Sozialdemokratische Partei Harmonie vertreten, in Estland, wo sich keine eigene Minderheitenpartei etablierte, durch die Zentrumspartei, die mittlerweile vor allem von Russischsprachigen unterstützt wird. Trotz oder gerade wegen der relativen regionalen Stärke dieser Parteien (in Estland und Lettland dominieren Zentrum und Harmonie die Hauptstädte, in Litauen ist die Wahlaktion im Raum Vilnius sehr stark) wird die Zusammenarbeit mit ihnen oder die Integration ihrer Programmatiken durch die Mehrheitsparteien abgelehnt. Daher sind Minderheitenanliegen in der staatlichen Politik der drei Republiken de facto nicht reflektiert.
Vor dem Hintergrund der mangelnden Integration der baltischen Gesellschaften ist Sprachförderung zwar grundsätzlich begrüßenswert. Doch sind nicht die unzureichenden Sprachkenntnisse auf Seiten der Angehörigen der Minderheiten das größte Integrationshindernis, sondern ihre zunehmende Entfremdung von Politik und Gesellschaft des Titularstaates. Tatsächlich trägt die Integrationspolitik nach der Devise "Fordern statt Fördern und im Zweifelsfall Abstrafen", die Verknüpfung von Bürgerschaft mit Sprachkenntnissen als Zeichen von Loyalität sowie die symbolische Aufwertung der Landessprache angesichts des sozioökonomischen Wandels zu existenzieller Verunsicherung und Entfremdung großer Teile der Minderheiten bei.
Um dieser entgegenzuwirken, wäre es wichtig, dass historische Erinnerung und Wunschbilder nicht länger die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen überlagern. Die politische Beteiligung der in den baltischen Staaten lebenden Minderheiten ist dabei von entscheidender Bedeutung. Die zentrale Frage ist jedoch nicht mehr die Staatsangehörigkeit, auch wenn die Existenz von "Staatsbürgern zweiter Klasse" in Estland und Lettland zweifellos problematisch ist. Die Einbürgerung aller Staatenlosen hätte heute nur mehr einen symbolischen Wert und kaum praktische Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Denn das grundlegende Problem liegt in der de facto ethnonationalen Konzeption der baltischen Demokratien. Diese wurden auf Kosten breiter Teile der Minderheitsbevölkerungen etabliert, mit bis heute spürbaren Konsequenzen. Loyalität dem Staat, seiner politischen Führung und den Gesetzen gegenüber ist ethnokulturell aufgeladen. Im Umkehrschluss ist jeglicher Ausdruck von ethnonationaler Diversität suspekt und setzt Minderheiten dem Verdacht der Illoyalität aus.
Entscheidender für die gesellschaftliche Partizipation und Sichtbarkeit von Minderheiten wären daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher pragmatische statt programmatische Schritte, die unterstreichen, dass die Gesellschaften die Bedeutung und Teilhabe von Minderheiten akzeptieren. Der wichtigste Schritt auf dem Weg dahin wäre die offizielle Anerkennung der faktischen Mehrsprachigkeit der baltischen Staaten und ein pragmatischer Ansatz bei der Regulierung der Verwendung von Minderheitssprachen im öffentlichen Kontext. Dies gilt vor allem mit Blick auf die regionale und lokale Ebene, etwa durch eine bilinguale Beschilderung in Gemeinden mit hoher Minderheitenpräsenz, sowie mit Blick auf öffentliche Ämter und Lokalparlamente.
Ferner könnte das Bildungswesen stärker auf Bilingualität ausgerichtet und damit die Möglichkeiten ausgebaut werden, sowohl Titular- als auch Minderheitensprachen auf hohem Niveau zu lernen und im Alltag anzuwenden. Diese Maßnahmen würden keinen Wechsel in der Sprachpraxis bedeuten, sondern die Anerkennung faktischer Sprachgewohnheiten, um diese aus der juristischen und normativen Grauzone herauszuholen. Damit wäre zumindest ein Anfang gemacht, um die Herausforderung der sozialen Kohäsion ein Vierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens von der Sowjetunion ernsthaft anzugehen.