Über sexualisierte Gewalt ist in den vergangenen zwei Jahren im Zusammenhang mit der Reform des Sexualstrafrechts und häufig unter dem Schlagwort "Nein heißt Nein" viel berichtet, diskutiert und gestritten worden. Die Debatte hat mit dem Inkrafttreten einer neuen Regelung am 10. November 2016 ihr – sicher nur vorläufiges – Ende gefunden. Der geänderte Paragraf 177 im Strafgesetzbuch (StGB) stellt jetzt menschenrechtskonform auf den Willen der Betroffenen ab: Sagt zum Beispiel eine Person "Nein" zu sexuellen Handlungen und setzt sich eine andere Person darüber hinweg, macht sich letztere strafbar. Dies bedeutet nach der Einführung der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe 1997 eine erneute grundlegende und begrüßenswerte Änderung der Systematik im Sexualstrafrecht. Es bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung die neuen Vorschriften anwenden wird.
Für den Begriff der sexualisierten Gewalt gibt es keine einheitliche Definition. Nach einem weiten Verständnis, das häufig der Arbeit spezialisierter Fachberatungsstellen zugrunde liegt, ist sexualisierte Gewalt dann gegeben, wenn ein Mensch an einem anderen Menschen gegen dessen Willen mit sexuellen Handlungen eigene Bedürfnisse befriedigt. Dies reicht gemeinhin von einer verbalen sexuellen Belästigung bis hin zur Vergewaltigung.
In anderen Zusammenhängen wie zum Beispiel der Forschung oder dem Strafrecht wird dieses breite Spektrum nach unterschiedlichen Logiken weiter ausdifferenziert und in verschiedene Begriffe unterteilt: Beim sexuellen Missbrauch nutzt der Täter oder die Täterin die eigene Überlegenheit aus, etwa über die Amtsstellung oder Einschränkung des Opfers. Beim sexuellen Übergriff missachtet der Täter den entgegenstehenden Willen einer Person. Bei der sexuellen Nötigung zwingt der Täter das Opfer mit Gewalt oder Drohung. Bei der Vergewaltigung kommt es zur Penetration gegen den erkennbaren Willen des Opfers.
Bisher veröffentlichte repräsentative Studien zeichnen ein im Kern einheitliches Bild sexualisierter Gewalt unter Erwachsenen in Deutschland.
Die betroffenen Frauen benannten in unterschiedlichen Studien fast ausschließlich männliche Täter (99 beziehungsweise 100 Prozent).
Die Betroffenen hatten die Taten nur selten angezeigt (4 Prozent der Frauen und 1 Prozent der Männer beziehungsweise 8 und 12 Prozent).
Der Polizei wurden in den vergangenen zehn Jahren jeweils zwischen 7000 und 8000 Fälle sexueller Nötigung und Vergewaltigung bekannt. Die genannten Studien verdeutlichen jedoch, dass dieses sogenannte Hellfeld das tatsächliche Ausmaß der Gewalt bei Weitem nicht abbildet.
Weniger quantitatives Wissen gibt es über Art, Ausmaß und Verlauf sexualisierter Gewalt gegen Gruppen, die häufig von (intersektionaler) Diskriminierung betroffen sind, wie zum Beispiel Flüchtlinge, Menschen ohne Aufenthaltsstatus, Wohnungslose oder LSBTI.
Ausgangslage der Gesetzesreform
Die Änderung des Sexualstrafrechts im Sinne des eingangs geschilderten Slogans "Nein heißt Nein" entspricht einer Forderung der Frauenbewegung aus den 1970er Jahren, die im Rahmen der Gesetzesreform zur Vergewaltigung in der Ehe 1997 nicht umgesetzt wurde. Mit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention des Europarats eröffnete sich 2014 eine erneute Möglichkeit für ihre Realisierung.
Bereits in den 1970er und 1980er Jahren wurde der Begriff der Vergewaltigung im StGB als zu eng gefasst kritisiert. Nur sexuelle Handlungen, die durch körperliche Gewalt oder Drohungen mit "erheblicher Gefahr für Leib oder Leben" erzwungen wurden, waren strafbar. Damit blieben zum Beispiel Handlungen straflos, die die Betroffenen aus massiver Angst vor dem Täter starr über sich ergehen ließen. Die weitreichendsten Änderungsvorschläge der Grünen sowie des Ausschusses für Frauen und Jugend des Bundesrats, die ausschließlich auf die Missachtung des entgegenstehenden Willens abstellten, waren damals noch nicht mehrheitsfähig.
Sexuelle Handlungen waren bis vor Kurzem nur dann strafbar, wenn der Täter eins von drei sogenannten Nötigungsmitteln angewandt hatte: Das Recht ging erst von einer Vergewaltigung aus, wenn er oder sie den entgegenstehenden Willen des Gegenübers mit Gewalt oder Gewaltandrohung "gebrochen" beziehungsweise willensbeugende Umstände wie etwa Schutzlosigkeit ausgenutzt hatte, um den Geschlechtsverkehr zu erzwingen. Wissen aus Forschung und Praxis über das Verhalten von Betroffenen während sexueller Übergriffe legen aber bereits seit Langem ein anderes Verständnis nahe, dem ein weniger stereotypes Opferverhalten zugrunde liegt und das ein nach wie vor ungleiches Geschlechterverhältnis berücksichtigt. Frauen reagieren bei sexuellen Übergriffen auf die unterschiedlichsten Weisen – von körperlicher Gegenwehr über kognitive Reaktionen wie beispielsweise Überlegungen, wie man der Tat noch entgehen kann, oder verbale Einwirkung auf den Täter bis hin zu völliger Passivität aufgrund von Todesangst. Dies hängt mit den Vorerfahrungen, dem Kontext, der Beziehung zum Täter oder der individuellen Verfasstheit zusammen.
So entstand die Situation, dass es auf der Grundlage des Gesetzes in seiner Auslegung durch die ständige Rechtsprechung eine Reihe von Fallkonstellationen gab, in denen Täter sexuelle Handlungen gegen den Willen der Betroffenen vorgenommen hatten und dieses Verhalten straflos war. Diese Fallkonstellationen wurden mittlerweile in verschiedenen Papieren aufgearbeitet und fanden 2016 Eingang in die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des Sexualstrafrechts.
Erstens ist sexualisierte Gewalt häufig eine Ausprägung von Partnerschaftsgewalt. Besteht ein sogenanntes Klima der Gewalt – das heißt, Gewalt findet regelmäßig statt und prägt das Zusammenleben von Täter und Opfer –, kennen die Betroffenen die Verläufe gewaltförmiger Episoden sehr genau. Verlangt der gewalttätige Partner in diesem Zusammenhang sexuelle Handlungen, muss er kein Nötigungsmittel einsetzen, das heißt, er muss weder Gewalt androhen noch anwenden, um Geschlechtsverkehr zu erzwingen. Hatten Frauen in dieser Situation "nur" Nein gesagt, und hatte der Täter keinen Bezug zu vorangegangener Gewalt hergestellt, was die Rechtsprechung als konkludente Drohung wertete, war der Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Betroffenen straffrei.
Zweitens setzte die sexuelle Nötigung unter Ausnutzen der oben erwähnten schutzlosen Lage voraus, dass sich die Betroffenen objektiv in einer Lage befanden, in der sie möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters ausgeliefert waren. Teile der Rechtsprechung formulierten dafür hohe Anforderungen. So galt fernab jeder Realität etwa nicht als eine schutzlose Lage, wenn die Türen des Schlafzimmers nicht abgeschlossen waren, sich schlafende Kinder im Nebenzimmer befanden oder Nachbarn in einem Mehrfamilienhaus möglicherweise zur Hilfe hätten gerufen werden können.
Drittens waren auch die sogenannten Überraschungsfälle straflos, wenn der Täter an dem Opfer plötzlich und unerwartet sexuelle Handlungen vorgenommen hatte. Der überraschende Griff zwischen die Beine im Bus war vor der Reform nicht strafbar, weil das Opfer aufgrund der Überrumpelung nicht dazu kommen konnte, einen entgegenstehenden Willen zu bilden, den der Täter mit Zwang hätte beugen können. Es fehlte die erforderliche Nötigung.
Auch Interessenverbände für Menschen mit Behinderung haben in der Vergangenheit die Rechtslage wiederholt kritisiert: Eine auf stereotyper Betrachtungsweise von Behinderung basierende Gleichsetzung von geistiger Behinderung und Widerstandsunfähigkeit durch die Rechtsprechung habe zu einem Sonderrecht für Menschen mit Behinderung geführt – einem "Zwei-Klassen-Strafrecht", in dem Sexualdelikte gegen Behinderte mit geringeren Strafen geahndet wurden.
Im Zuge der Fachdiskussionen über sexualisierte Gewalt sowie der Interpretation des Rechts durch die Gerichte wurde in Deutschland lange Zeit nicht auf die Weiterentwicklung des menschenrechtlichen Verständnisses des sexuellen Selbstbestimmungsrechts auf europäischer und internationaler Ebene reagiert – und das, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits 2003 in seinem Grundsatzurteil zu sexualisierter Gewalt die wirksame Strafverfolgung aller nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen formuliert hatte.
Parallel dazu hatten sich auf politischer Ebene im Europarat Bestrebungen verstärkt, den Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt und damit auch sexualisierter Gewalt zu stärken. Diese mündeten 2008 in den Auftrag des Ministerkomitees an eine Expertinnengruppe, ein entsprechendes Abkommen zu entwickeln, das schließlich im August 2014 als Konvention gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt in Kraft trat: die sogenannte Istanbul-Konvention. Darin sind wissenschaftliche Ergebnisse, Praxiserfahrungen, die Spruchpraxis internationaler Gerichte und Ausschüsse des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien sowie des EGMR zu Gewalt gegen Frauen zusammengeführt. Daher ist es folgerichtig, dass mit Artikel 36 im Gleichklang mit dem EGMR die Staaten verpflichtet werden, "die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass nichteinverständliches, sexuell bestimmtes vaginales, anales oder orales Eindringen in den Körper einer anderen Person mit einem Körperteil oder Gegenstand unter Strafe gestellt wird".
Politischer Prozess in Deutschland
Artikel 36 der Istanbul-Konvention war ein wichtiger Bezugspunkt des Reformprozesses, der in Deutschland im April 2014 mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht begann. Hierbei ging es noch vorrangig um den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Der Entwurf enthielt aber schon die Anmerkung, dass noch geprüft werde, ob aus Artikel 36 der Istanbul-Konvention gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Hinblick auf die Strafbarkeit nichteinvernehmlicher sexueller Handlungen folgte.
Im Anschluss begannen zivilgesellschaftliche und parlamentarische Akteure, sich öffentlich zu positionieren. Insbesondere die frauen- und menschenrechtlich ausgerichteten Akteure der Zivilgesellschaft verwiesen auf den Anpassungsbedarf des Strafrechts an die menschenrechtlichen Vorgaben im Sinne einer "Nein heißt Nein"-Lösung.
Gegner und Gegnerinnen einer Reform des Paragrafen 177 StGB warnten vor einer unbestimmbaren Ausuferung des Tatbestands. Sie befürchteten die Kriminalisierung sozialadäquater Handlungen. Das alte Strafrecht gewährleiste einen umfassenden Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts.
Die Gegenseite verwies auf andere Länder, in denen es zum Teil bereits seit Jahren ein Strafrecht gab, das allein auf den entgegenstehenden Willen der betroffenen Personen abstellt. Erfahrungen dort hätten gezeigt, dass sich die Ermittlungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft dem anpassen müsse, es aber weder zu einer sprunghaft steigenden Anzahl von Anzeigen noch zu einem Anstieg von Falschbeschuldigungen komme.
Ein halbes Jahr nach der Vorlage des Referentenentwurfs zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung im Juli 2015 war auch die Regierungskoalition gespalten.
Erst die Vorkommnisse in der Silvesternacht 2015/16 beendeten den politischen Stillstand. Die sexuellen Übergriffe auf der Kölner Domplatte und in anderen Städten waren noch nicht ansatzweise aufgeklärt, da wurde der Ruf nach einer Verschärfung des Ausweisungsrechts laut, und der politische Konsens zu einer Reform des Sexualstrafrechts schien möglich.
So betonten die Abgeordneten aller Fraktionen schon bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung im April 2016, der noch dem umstrittenen Referentenentwurf entsprach, weitergehenden Änderungsbedarf.
Einen starken Einfluss auf die Reform des Sexualstrafrechts, die am 7. Juli 2016 vom Bundestag beschlossen wurde, hatte auch die Initiative einiger Politikerinnen aus der Regierungskoalition, die mit einem Eckpunktepapier Formulierungsvorschläge für die Weiterentwicklung des Regierungsentwurfs vorlegten.
Neue Gesetzeslage
Dem diversen Meinungsbild im Vorfeld der Reform entsprechend wird die neue Gesetzeslage als ein notwendiger Paradigmenwechsel begrüßt oder als Einfallstor für Falschbeschuldigungen kritisiert. Sie ist in jedem Fall eine überfällige Anpassung des deutschen Rechts an die menschenrechtlichen Vorgaben und stellt eine grundlegende Änderung des strafrechtlichen Konzepts sexualisierter Gewalt unter Erwachsenen dar.
Mit Inkrafttreten des Gesetzes kann zukünftig auch die sexuelle Belästigung, die bisher vollumfänglich nur über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Arbeitskontext, im öffentlichen Raum aber nur ab einer gewissen Erheblichkeit strafbar war, geahndet werden (Paragraf 184i StGB).
Am kontroversesten haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Fraktionen wie auch die Sachverständigen in der jüngsten Anhörung im Rechtsausschuss den neu eingeführten Paragrafen 184j StGB "Straftaten aus Gruppen" diskutiert. War die Zustimmung zu der Änderung von Paragraf 177 StGB noch einstimmig, wurde über diese Neuerung sowie die Konsequenzen für das Aufenthalts- und Asylrecht auf Antrag der Grünen getrennt abgestimmt und gegen die Stimmen der Grünen und Linken beschlossen.
Ausblick
In den nächsten Jahren wird sich auch anhand der Umsetzung des Rechts zeigen, ob neben dem gesetzlichen auch ein gesellschaftlicher Wertewandel stattgefunden hat. Wie eine Befragung von Infratest dimap nahelegt, befürworteten 86 Prozent der Befragten im Juni 2016 eine Reform des Sexualstrafrechts.