Ist der Aufstieg von Akteuren, die allenthalben als Populisten, Protestparteienführer oder gar Antipolitiker beschrieben werden, ein entscheidendes Indiz für eine Krise der politischen Repräsentation? Diese These bestätigt sich automatisch selbst, wenn jegliche Opposition gegen etablierte Parteien mit einer Krise der Repräsentation gleichgesetzt wird oder jegliche Äußerung von Volkszorn als potenzielle Gefahr für die Demokratie interpretiert wird.
Politikwissenschaftler sind sich heute weitestgehend einig: Politische Parteien als solche haben zumindest in Europa ihre besten Zeiten hinter sich. Dies lasse sich am dramatischen Mitgliederschwund, aber auch an der inzwischen sehr unsteten Identifikation von Wählerinnen und Wählern mit bestimmten Parteien festmachen. Manche Demokratieforscher wie Simon Tormey gehen aber noch weiter: Sie meinen bereits ein Ende der repräsentativen Politik feststellen zu können.
In der Tat: Es tut sich politisch etwas in den westlichen Demokratien. Doch die Diagnose einer Krise der politischen Repräsentation ist voreilig. Der Abstieg der traditionellen Volksparteien und das Entstehen neuer Gruppierungen wie Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland sind nicht gleichbedeutend mit einer Repräsentationskrise. Zu einem gewissen Grad ist eher das Gegenteil der Fall: Parteiensysteme wandeln sich, weil alte Parteien diskreditiert sind und moralisch-politische Unternehmer wie die Anführer von Podemos und Syriza besser auf neue Konflikte in der Gesellschaft reagieren. Damit soll nicht gesagt sein, dass alles zum Besten steht mit den westlichen Demokratien. Wirklicher Populismus – der sich daran erkennen lässt, dass seine Vertreter behaupten, sie und nur sie repräsentierten das wahre, immer als homogen gedachte Volk – ist für die Demokratie gefährlich. Populisten sind immer antipluralistisch; die Demokratie ist aber nur in pluralistischer Form zu haben. Die entscheidende Frage unserer Zeit ist nun, ob Populisten sich dahingehend entwickeln, dass sie dies akzeptieren, oder ob sie weiterhin versuchen, demokratische Institutionen, die nicht den von ihnen postulierten "wahren Volkswillen" zum Ausdruck bringen, zu diskreditieren – oder ob die etablierten Parteien sich der legitimen Anliegen der Wähler populistischer Parteien annehmen, ohne selbst populistisch zu werden.
Welche Krise?
Woran ließe sich eine vermeintliche Krise der Repräsentation festmachen? Sicherlich zum Teil an Umfragen. In der Tat bestätigen fast alle Meinungserhebungen in westlichen Demokratien, dass Eliten als "abgehoben" wahrgenommen und Parteien stets unpopulärer werden. Schon seit Langem genießen Parteien im Vergleich mit nahezu allen anderen politischen Institutionen das schlechteste Ansehen. Zudem sind, wie der Politikwissenschaftler Peter Mair eindrucksvoll gezeigt hat, in vielen europäischen Ländern die Bürgerinnen und Bürger auch in der Praxis den Parteien regelrecht davongelaufen: Sie identifizieren sich nicht mehr mit einer bestimmten Partei, was das Wahlverhalten sehr sprunghaft gemacht hat; und Mitglied einer Partei wollen sie schon gar nicht werden.
Was folgt aus diesen empirischen Beobachtungen? Dass es politische Unzufriedenheit gibt, ist nichts Neues. Manch einer mag sich erinnern, dass der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel bereits in den 1960er Jahren eine weitverbreitete "Parlamentsverdrossenheit" in Europa diagnostizierte, oder dass in den 1990er Jahren in Deutschland endlos über Politikverdrossenheit debattiert wurde. Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme bemerkte gar einmal, dass das Lamentieren über den Niedergang der Legislative so alt sei wie der Parlamentarismus selbst.
Um analytische Klarheit und ein historisches Bewusstsein in diese Diskussion zu bringen, sollen hier drei Aspekte heutiger Repräsentationsverhältnisse unterschieden werden. Erstens verweise ich darauf, dass im Europa der Nachkriegszeit Parlamente systematisch geschwächt wurden. Obwohl der weitverbreitete Begriff der Postdemokratie und die implizierte These einer Krise der Repräsentation dies suggerieren, hat es nie ein goldenes Zeitalter der politischen Repräsentation gegeben. Zweitens soll gezeigt werden, dass Parteiensysteme sich wandeln, wir uns aber bei Weitem noch nicht jenseits des Prinzips der Repräsentation befinden, wie dies etwa Tormey behauptet. Drittens wird am Beispiel der EU illustriert, dass man keinem Hirngespinst aufsitzt, wenn man heute Repräsentationsdefizite beklagt, man diese aber genau verstehen muss und nicht auf die üblichen Klischees reduzieren kann, wonach "Brüssel" "zu weit weg" oder zu "bürokratisch" sei.
Von Misstrauen geprägte Nachkriegsordnung
Versammlungen von Volksvertretern sind das Herzstück der modernen repräsentativen Demokratie. Die relative Degradierung von Parlamenten nach 1945 in Europa beruhte auf bewussten politischen Entscheidungen und kann nicht scheinbar anonymen Prozessen wie der Globalisierung oder Europäisierung zugerechnet werden. Nach 1945 standen die Architekten der politischen Nachkriegsordnung in Westeuropa der Idee der Volkssouveränität mit gehöriger Skepsis gegenüber, mit der wichtigen Ausnahme Großbritanniens. Die Skepsis war zum Teil einem Diskurs über "die Massen" geschuldet, die angeblich den Weg für den Totalitarismus geebnet hatten. Aber auch ohne diese Zeitgeschichtsinterpretationen stellte sich die Frage: Wie sollte man Völkern vertrauen, die Faschisten an die Macht gebracht oder während der Besatzungszeit mit Faschisten kollaboriert hatten?
Diese Art von Skepsis erstreckte sich auch auf Volksvertretungen. Die neuen Verfassungsgeber wollten unbedingt das verhindern, was der deutsche Staatsrechtler Hugo Preuß als "Parlamentsabsolutismus" bezeichnet hatte. Schließlich waren es Volksvertretungen gewesen, die alle Macht an Adolf Hitler oder Philippe Pétain, Führer des mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Vichy-Regimes, übertragen konnten. So galt es, die Befugnisse der Legislative soweit wie möglich einzuschränken. Gleichzeitig wurden Institutionen gestärkt, deren Mitglieder sich nie dem Volk zur Wahl zu stellen haben – wie etwa Zentralbanken oder Verfassungsgerichte. Fast in ganz Westeuropa galt: Die Exekutive und Judikative gewannen, die Legislative verlor an Einfluss. Am weitesten ging dieser Prozess in Frankreich, wo sich mit der Assemblée nationale das schwächste Parlament der westlichen Welt befindet. Aber der Niedergang der Volksvertretungen schlug sich nicht nur in den Verfassungen nieder, Macht wanderte auch in die einzelnen Verwaltungen und wurde zunehmend in konzertierten Aktionen und "Kanzlerrunden" ausgeübt.
Insofern ist die Nachkriegsordnung in Europa nicht nur dezidiert antitotalitär, sie ist auch in einem weiten, umgangssprachlichen Sinne "antipopulistisch": Die Bürger werden auf Distanz gehalten, und die Möglichkeiten, sich in politische Entscheidungen einzubringen, werden von Gerichten und Institutionen wie der Zentralbank eingeschränkt. Man kann dies aus normativer Sicht kritisieren, sollte dann aber auch bedenken, dass zumindest einige Aspekte dieser Ordnung mit demokratischen Prinzipien gerechtfertigt wurden: allen voran mit dem Schutz individueller und politischer Rechte. Verfassungsgerichte sollten die Demokratie als Ganzes stärken, auch mit vermeintlich undemokratischen Maßnahmen wie dem Verbot extremistischer Parteien.
Wir leben heute noch mit dieser im Grunde von Misstrauen geprägten Nachkriegsordnung. Eine Erklärung dafür ist vielleicht auch, dass sich diese Ordnung als erstaunlich flexibel erwiesen hat. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren wurden ganz neue Ansprüche auf die Vertretung von Interessen und Identitäten angemeldet. Und nach vielen Auseinandersetzungen ließen sich auch viele dieser Ansprüche verwirklichen. Der Erfolg der Grünen in der Bundesrepublik ist ein gutes Beispiel dafür.
In diesem Sinne lassen sich viele der dramatischen Entwicklungen in Europa während des vergangenen Jahrzehnts als Testfall für das spezifisch europäische Demokratiemodell verstehen. Bei aller Vielfalt haben die Protestbewegungen in Südeuropa eines gemeinsam: Sie werfen etablierten Parteien vor, korrupt, oligarchisch und nicht repräsentativ zu sein. Professionelle Politikerinnen und Politiker werden allesamt als Mitglieder von la casta verdammt. Zudem heißt es häufig, alle Parteien seien letztlich identisch. Viele dieser Protestbewegungen verorteten sich anfangs jenseits jeglicher Parteipolitik – so auch die spanischen Indignados ("Empörte") und Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Für viele Beobachter klangen die Vorwürfe populistisch. Aus gutem Grund: Die Unterscheidung von einem moralisch unbefleckten, homogenen Volk und einer korrupten, nicht repräsentativen Elite ist ein Kernelement der populistischen Vorstellungswelt. Nur stellten jene, die die tatsächlich korrupten Verhältnisse beispielsweise in Spanien kritisierten, keinen moralischen Alleinvertretungsanspruch – sie behaupteten nicht, alleinig das authentische Volk zu vertreten.
Zu Beginn versuchten Bewegungen wie Podemos, sich horizontal zu organisieren, um mit traditionellen Konzepten politischer Repräsentation zu brechen, und auch die Fünf-Sterne-Bewegung machte sich für eine basisdemokratische Entscheidungsfindung stark.
Neue Parteien als Korrektiv?
All das deutet nicht auf eine Krise der Repräsentation hin, sondern kann als Affirmation der bestehenden politischen Systeme verstanden werden – auch wenn sich diese Beobachtung selbstverständlich nicht immer mit der Selbstwahrnehmung der politischen Akteure deckt: Podemos kritisiert nach wie vor das "Regime von 1978", also die Post-Franco-Demokratie, kann aber zumindest im Moment keine Mehrheiten erzielen, um dieses System durch ein anderes zu ersetzen. Die Tatsache, dass sich die neuen Parteien als Protestparteien verstehen lassen, gilt nicht als Gegenargument: In jeder Demokratie ist es legitim, gegen regierende Parteien zu protestieren oder auch zu monieren, dass existierende Oppositionsparteien die Interessen und Identitäten vieler Bürger nicht überzeugend verträten. Friedlicher Protest, der nicht wie bei den Populisten auf einem moralischen Alleinvertretungsanspruch des angeblich "wahren Volkes" beruht, ist nicht automatisch undemokratisch oder ein Symptom einer tiefen Krise – das Gegenteil ist der Fall. Dies lässt sich erneut am spanischen Beispiel verdeutlichen: Hier konnte Podemos als neue Gruppierung Wähler an die Urnen bringen, die sich bisher gar nicht am politischen Prozess beteiligt hatten und die auch in der bestehenden radikalen Linkspartei Izquierda Unida kein plausibles Politik- beziehungsweise Protestangebot fanden.
Die Diagnose einer "Nicht-Krise" der Repräsentation sollte allerdings nicht zu weit gehen. So könnte etwa ein griechischer Leser einwenden: "Schön und gut, dass ich jetzt von Syriza vertreten werde, die nicht korrupt sind und versuchen, innerhalb des Landes eine progressive Politik zu betreiben. Aber mein wichtigstes Anliegen, nämlich der Wunsch nach einer anderen Eurorettungsstrategie, eine, die mein Land nicht zugrunde richtet, wird immer noch nicht effektiv vertreten – trotz mehrerer Wahlerfolge von Syriza." Nun kann das Kriterium für jegliches "sich-repräsentiert-Fühlen" nicht sein, die eigenen politischen Präferenzen eins zu eins umgesetzt zu sehen. Und doch hat der fiktive griechische Leser insofern Recht, als dass er behaupten kann, die Europäische Union leide als Ganzes an spezifischen Repräsentationsdefiziten. Diese Defizite gilt es genau zu verstehen, um sich nicht den unreflektierten Beschwerden über das "weit entfernte" und "ach so bürokratische" Brüssel anzuschließen – letztlich ist uns in seinen komplexen Entscheidungen etwa das deutsche Kartellamt wohl kaum näher, und ohne Bürokratie gibt es überhaupt kein Regieren in der modernen Welt.
In einer nationalstaatlichen Demokratie erachten Parteien und ihre Anhänger, die sich nach einer Wahl in der Opposition wiederfinden, die Entscheidungen einer Regierung als prinzipiell legitim. Anders gewendet: In einer Demokratie weiß man, dass man auf der Verliererseite stehen kann, man darf sich aber auch sicher sein, dass man nicht ewig politischer Loser sein wird. Denn die Chance besteht immer, andere Bürger von der Richtigkeit eigener politischer Vorstellungen zu überzeugen. Aus Minderheiten können Mehrheiten werden.
In der EU deckt sich das demokratietheoretische Idealbild auf drei Arten jedoch möglicherweise nicht mit der Wirklichkeit: Erstens sind manche Bürger nicht bereit für das, was englischsprachige Politikwissenschaftler so schön unverblümt losers’ consent nennen – als "Verlierer" die Niederlage anzuerkennen. Sie haben das Gefühl, Fremde würden über ihr Schicksal bestimmen. Dieser Eindruck wurde auch von den Brexit-Befürwortern sehr geschickt zum eigenen Vorteil genutzt.
Zweitens können Bürger, die durchaus bereit sind, die Mehrheitsverhältnisse so wie sie nun einmal in der EU sind, zu akzeptieren, einwenden, dass sie nicht korrekt im politischen Entscheidungsfindungsprozess abgebildet werden: Statt transnationaler Koalitionen, die sich über gemeinsame wirtschaftliche Interessen definieren, stehen sich in der Eurokrise Nationalstaaten gegenüber. Und diese wiederum werden von Regierungen geführt, die ein Interesse daran haben, die Konflikte möglichst in nationalen Kategorien zu codieren, da sie sich vor ihrem nationalen Wahlvolk zu verantworten haben.
Drittens, darauf hat der Rechtswissenschaftler Dieter Grimm hingewiesen, werden dank der "Konstitutionalisierung" der europäischen Verträge viele wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen, die in einer nationalstaatlichen Demokratie der tagespolitischen Auseinandersetzung unterlägen, in einem unpolitischen Modus gefällt.
Populismus: Krisensymptom für was nochmal genau?
Derzeit werden viel zu viele Akteure in Europa mit dem Label "Populismus" versehen.
Populist ist nur, wer den Anspruch stellt, er und nur er vertrete das wahre Volk – mit der Folge, dass politische Mitbewerber eigentlich alle illegitim seien, beziehungsweise dass Bürger, die dem populistischen Führer die Unterstützung verweigern, gar nicht wirklich zum Volk gehören. Man denke an eine Äußerung des republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA, Donald Trump, die angesichts der vielen skandalösen Dinge, die der Milliardär ständig von sich gibt, kaum beachtet wurde, aber seine populistische Sichtweise auf die Politik eindeutig belegt. Trump sagte bei einer Wahlkampfveranstaltung im Mai 2016: "The only thing that matters is the unification of the people, and all the other people don’t matter." "Das Einzige, was zählt, ist die Einheit des Volkes" – das klingt eher harmlos im Vergleich zu dem, was er sonst so alles sagt. Entscheidend ist aber der zweite Teil des Satzes: "All die anderen Menschen zählen gar nicht." Es gibt demnach also ein wahres Volk und einen einzigen wahren Vertreter dieses Volkes – nämlich Trump. Wer gegen ihn ist, ist automatisch nicht Teil des wahren Volkes und zählt damit moralisch und vor allem auch politisch nicht. Ein anderes Beispiel ist eine rhetorische Frage Recep Tayyip Erdoğans an seine Kritiker 2014: "Wir sind das Volk, wer seid ihr?" Das ist ein Alleinvertretungsanspruch, der mit Demokratie, die notwendigerweise pluralistisch ist, schlicht nicht kompatibel ist.
Die für das Wohlergehen der Demokratie entscheidende Frage ist also nicht, welche politischen Akteure heutzutage aus irgendwelchen Gründen protestieren oder irgendwie der äußerst vagen Kategorie "Anti-Establishment" zugeordnet werden können. Die Frage ist, wer diese Art moralischen Alleinvertretungsanspruch stellt und damit allen Gegnern prinzipiell die Legitimität abspricht. Die Frage ist auch, wer (wie bei Populisten immer üblich) einen vermeintlich klar identifizierbaren Willen eines homogenen Volkes unterstellt, der dann angeblich von den Populisten nur umgesetzt werden muss. Diese Vorstellung, wonach Auseinandersetzungen in einem pluralistischen Gemeinwesen unnötig sind und politische Entscheidungen keine längeren Willensbildungsprozesse benötigen, ist dann in der Tat "antipolitisch", weil antipluralistisch. Demokratische Gleichheit bedeutet nicht Homogenität oder, mit Carl Schmitts Wort, Gleichartigkeit. In der Demokratie, so Jürgen Habermas, tritt das Volk nur im Plural auf.
Was aber besagt nun die Tatsache, dass Trump, Erdoğan, Orbán, Le Pen und der Vorsitzende der niederländischen Partij voor de Vrijheid Geert Wilders Populisten sind, über den Zustand der repräsentativen Demokratie? Erst einmal nur dies: Der Erfolg dieser Politiker zeigt, dass es offenbar viele Bürger gibt, die das Repräsentationsangebot dieser Akteure für überzeugend halten. Wir können nicht automatisch davon ausgehen, dass alle Wähler populistischer Parteien auch antipluralistische Einstellungen haben – auch wenn es dafür aufgrund politikwissenschaftlicher Untersuchungen einige Anzeichen gibt. Vielmehr sollte man prinzipiell akzeptieren, dass die Politikangebote von Populisten auch legitime Anliegen von Bürgern abdecken. Zwar ist es falsch, zu meinen, Interessen und Identitäten seien immer schon objektiv vorhanden und der erfolgreiche Politiker müsse nur an diese appellieren – im Gegenteil, das rhetorische Angebot des Politikers kann erst dazu führen, dass Bevölkerungsteile sich als politisch wichtige Kollektive wahrnehmen. Was bisweilen verächtlich als "Trumpenproletariat" bezeichnet wird, ist sicher nicht aus dem Nichts entstanden oder gar als Trumps persönliche Erfindung zu verstehen. Aber die Selbstwahrnehmung des "Trump-Volkes" als die schweigende Mehrheit und damit das wahre Volk hätte es wohl ohne die beängstigende Fähigkeit Trumps, eine Art "White Identity Movement" zu evozieren, so sicher nicht gegeben.
Und doch verweisen die Erfolge der Populisten vor allem auf einen Grundkonflikt zwischen, sehr verkürzt gesagt, einem pluralistischen Prinzip, das mehr Öffnung gegenüber der Welt und nach innen die Anerkennung von Minderheiten fordert, und einem Verlangen nach der Bewahrung bestehender Verhältnisse – was sich auch auf die Machtverhältnisse in Sachen Gender und Minderheiten bezieht. Dieser Konflikt hat ökonomische, aber auch moralisch-kulturelle Dimensionen. Über beide darf offen geredet werden, aber nicht mit einem moralischen Alleinvertretungsanspruch, so wie dies die Populisten tun – und schon gar nicht auf die rassistische Art und Weise, wie dies Trump ständig vorexerziert. Trumps Argument vom falschen Lied des Globalismus ("the false song of globalism") und die Frage, ob wirklich alle immer Gewinner von Freihandel sind, verdienen eine demokratische Auseinandersetzung; die Behauptung, Muslime sollten alle unter Terrorismusverdacht gestellt werden, hingegen nicht.
Ausblick
Die Frage ist also, ob die beschriebenen Parteien auch auf nicht-populistische Weise agieren können – ob sie gesellschaftlichen Wandel und, ganz konkret, eigene Wahlniederlagen akzeptieren können und diese nicht immer wieder im Namen einer vermeintlich schweigenden Mehrheit oder gar eines wahren Volkes zu delegitimieren suchen. Um ein Beispiel zu nennen: Es ist für die bundesrepublikanische Demokratie nicht schon an sich bedenklich, wenn es rechts einer weit nach links gerückten CDU noch eine Partei gibt. Kritik an der Eurorettungspolitik, Forderungen nach teilweiser Rücknahme der europäischen Integration oder auch nach weniger Einwanderung – man muss solche Positionen nicht mögen, aber sie können Teil einer normalen demokratischen Auseinandersetzung sein. Mit anderen Worten: Die AfD in ihrer ursprünglichen, vor allem eurokritischen Version war keine Gefahr und konnte sogar als Gewinn für die repräsentative Demokratie verstanden werden – desillusionierten CDU-Wählern stand eine andere Option offen. Die AfD in ihrem heutigen Zustand ist größtenteils eine andere Sache. Wer meint, alle anderen Parteien seien illegitim und man lebe in einer Diktatur, nur weil man selbst als Repräsentant des vermeintlich wahren Volkes nicht an der Macht ist; wer von einem geheimen Projekt zum Austausch der deutschen Bevölkerung raunt und mit Slogans wie "Widerstand" und "Revolution" zündelt, der ist ein Populist. Die Frage ist also, in welche Richtung sich Parteien, die im weitesten Sinne "protestieren", entwickeln. Klar ist zumindest: Wenn sie denn eine populistische Route einschlagen, werden sie auch immer mehr Bürger bewusst gegen die pluralistische Demokratie aufzuwiegeln suchen – nach dem Motto: "Etwas kann mit unseren demokratischen Institutionen nicht stimmen, denn das wahre Volk hat ja gar nichts zu sagen". Nächster Schritt ist dann die Verschwörungstheorie.
Patentrezepte, diese Entwicklungen zu beeinflussen, gibt es nicht. Man findet Beispiele für Situationen, wo das Entstehen relativ "normaler" nationalistischer Parteien eindeutig rassistische Parteien geschwächt hat – man denke an die Konkurrenz zwischen der Nieuw-Vlaamse Alliantie und dem Vlaams Belang in Belgien. Zweifelsohne können Politiker, die legitimen Protest beispielsweise an der Eurorettungspolitik gleich moralisch zu diskreditieren suchen ("Wer das sagt, ist ein Feind Europas!") zu einer Radikalisierung von Bürgern beitragen – hier tun "Mainstream-Vertreter", nicht zuletzt Angela Merkel, den Populisten letztlich einen großen Gefallen. Stattdessen sollten demokratische Politiker versuchen, die ökonomischen Anliegen des "Trumpenproletariats" ernst zu nehmen – und gleichzeitig die Verfestigung einer Selbstwahrnehmung der Trump-Wähler als einer Art verfolgter weißer Mehrheit entgegenwirken.