In den Augen vieler Zeitgenossen war das 20. Jahrhundert auch ein Jahrhundert des Hungers. Man denkt dabei an die Hungersnöte in und nach den beiden Weltkriegen, an Hungerkrisen in sozialistischen Ländern oder an das sogenannte Welthungerproblem, das seit den 1970er Jahren vor allem mit Afrika verbunden wird. Doch auch in vorangegangenen Jahrhunderten gab es Zeiten des Hungers. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einigen offenen Fragekomplexen im Zusammenhang mit Hunger in der jüngeren Geschichte und hebt auf einige Besonderheiten der Geschichte des Hungers im 20. Jahrhundert ab.
Drei Erklärungsansätze für Hungersnöte
Wissenschaftliches Denken über Hunger ging in den vergangenen Jahrzehnten vor allem von Hungersnöten aus. Es gibt im Wesentlichen drei Wege, die Ursachen von Hungersnöten zu erklären; sie zu verstehen, eröffnet den Zugang zu vielem anderen, daher beginne ich hier mit ihnen. Der konventionelle Ansatz leitet Hungersnöte aus allgemeiner Nahrungsmittelknappheit in einem Land her. Dementsprechend sollte Hunger etwa durch eine Vergrößerung des Angebots bekämpft werden. Vertreter dieser These beschäftigen sich mit Möglichkeiten, die Lebensmittelproduktion zu erhöhen, sowie mit anderen Arten der Zufuhr wie internationalem Handel und Nahrungsmittelhilfe, der Bekämpfung von Ernteverlusten oder effizienter Essenszubereitung.
In den 1970er Jahren wuchs die Kritik an dieser technokratischen Sichtweise. Sie erkläre nicht, so die Kritiker, wer im Fall einer Hungersnot hungert oder verhungert und wer nicht. Der prominenteste Vertreter eines neuen Erklärungsansatzes war der Wirtschaftswissenschaftler und spätere Nobelpreisträger Amartya Sen.
Von anderer Seite wurde seit den 1990er Jahren auch diese Perspektive als unzureichend zurückgewiesen: Sen und andere würden die politische Seite von Hungersnöten vernachlässigen. Eine Gruppe von Forschern, teilweise auch engagierten Aktivisten, sprach von der Existenz von "Hungersnöten neuen Typs" mit politischem Hintergrund. In der globalisierten Welt sei jede Hungersnot vermeidbar und daher ein Verbrechen. Oft sei sie gewollt, zumindest aber müsse schuldhaftes Versagen entweder bei nationalen Regimen oder auch bei internationalen oder transnationalen Akteuren gesucht und untersucht werden.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Vertreter dieser drei Perspektiven immer wieder mit Ausschließlichkeitsanspruch bekämpft. Besonders die Debatten zwischen Nahrungsangebots- und Zugangsrechtefraktion waren so bitter wie frucht- und haltlos im Bemühen zu zeigen, dass die Parameter der jeweils anderen Seite völlig irrelevant seien. Tatsächlich sollte man die drei Sichtweisen nicht als gegensätzliche Theorien begreifen, sondern als Denkansätze,
Auch die Auslassungen in den skizzierten Debatten sind bezeichnend. Erstens konzentrieren sie sich auf Hungersnöte, obwohl chronische Mangelernährung immer noch jedes Jahr mehr Todesopfer fordert als solche dramatischen Krisen.
Zweitens beziehen sich die genannten wissenschaftlichen Denkansätze sehr stark auf den nationalen Rahmen. Gesamtangebotsfetischisten und Zugangsrechtefanatiker haben ihre Fehden jeweils über Ereignisse in einem Land geführt. Dies lässt jedoch die im 20. Jahrhundert nicht unbedeutenden transnationalen Wellen von Hungersnöten außer Acht, auf die ich im Folgenden eingehe.
Transnationale Wellen von Hungersnöten
Zu derartigen Wellen kam es in verschiedenen Kontexten: im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg (in vielen Ländern in Europa, im Nahen Osten und Afrika), im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg 1941 bis 1947, aber auch ohne großen internationalen Konflikt 1972 bis 1975 und, in abgeschwächter Form, 2008 bis 2011.
Zu Hungerkrisen im Zweiten Weltkrieg liegt inzwischen die kluge und umfassende Studie der Historikerin Lizzie Collingham vor. Sie bezieht auch Opfer innerhalb der Streitkräfte ein und schätzt, dass Hunger 15 bis 20 Millionen Menschenleben gefordert hat.
Hungersnöte gab es damals von den Niederlanden bis Mikronesien, von Leningrad bis Britisch-Kenia. Betroffen waren in erster Linie besetzte Gebiete und Kolonien. Doch direkte Zwangsentnahmen von Nahrungsmitteln seitens der herrschenden Macht waren nur ein Teil des Problems. Eine wichtige Rolle spielten auch die miteinander verknüpften Phänomene des Zerreißens herkömmlicher Wirtschaftsbeziehungen durch militärische Fronten; Rückgänge der Produktion an Grundnahrungsmitteln unter anderen wegen fehlender Inputs an Arbeitskraft, Mineral- und Stalldünger, Zugkraft, Transportmitteln und Benzin; staatliche Eingriffe, die geringe Anreize für Überschussproduzenten bieten, wie Preisgestaltung oder Vorschriften zum Anbau von Nichtlebensmitteln; und dies unterlaufende Hortung, Schwarzmärkte und Spekulation sowie erschöpfende Arbeitsbedingungen. In vielen Regionen Afrikas und Asiens wuchsen die zu versorgenden Städte als Zentren von Verwaltung, Bergbau und Industrie; zudem vollzog sich ein sozialer Wandel mit großen Ungleichgewichten, und Migrationsbewegungen verstärkten sich (in vielen Kolonien wirkte sich der Entzug männlicher Arbeitskräfte auf dem Lande fatal aus). Hinzu traten rassistisch oder politisch beeinflusste Politiken der Nichtbelieferung von Regionen in Not sowie andere Zwangsmaßnahmen, von Benachteiligungen bestimmter Gruppen, insbesondere in totalen Institutionen wie Kriegsgefangenenlagern und anderen Formen der Internierung, teilweise auch psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen, bis hin zur gezielten Ermordung von Bevölkerungsgruppen unter anderem mit dem Argument, dadurch Lebensmittel für andere Zwecke einzusparen.
Wer neben den Insassen bestimmter totaler Institutionen am schwersten betroffen war, unterschied sich von Land zu Land. In weiten Teilen Europas waren dies Stadtbewohner mit festen Löhnen oder niedrigen Gehältern. In Griechenland allerdings traf es nach und nach auch ländliche Bevölkerungsgruppen auf Inseln und in Bergregionen, insbesondere wenn sie darauf angewiesen waren, bestimmte Produkte zu vermarkten (Oliven, Fleisch, Fisch), und dies nicht mehr hinreichend konnten.
Unter anderen Bedingungen, weitgehend zu Friedenszeiten, ereignete sich von 1972 bis 1975 eine weitere sogenannte Welternährungskrise. Akute Hungerkrisen gab es im westafrikanischen Sahel, in Nordnigeria, Äthiopien, in Teilen Indiens und in Bangladesch mit bis zu zwei Millionen Toten. In weiteren Ländern herrschte zumindest Knappheit. Am Ende eines langen Wirtschaftsbooms und in einer beginnenden weltweiten Wirtschaftskrise (ähnlich wie 2008 bis 2011) verdreifachten sich die Preise für international gehandelten Weizen, Reis und Mais binnen etwa 20 Monaten. Die Krise von 1972 bis 1975 kann als Umbruch des Weltmarkts für Getreide betrachtet werden. Dazu gehörten eine Kommerzialisierung und die partielle Abkehr von der (verbilligten) internationalen Lebensmittelhilfe, die Entstehung neuer großer Importregionen (nichtindustrialisierte und sozialistische Länder) und der Versuch, in Ländern des Globalen Südens die Landwirtschaft zu kapitalisieren.
Wie im und um den Zweiten Weltkrieg war jedoch die allgemeine Verknappung des Angebots auf dem Getreideweltmarkt, nun auch beeinflusst durch die Auswirkungen eines Klimaereignisses (El Niño) sowie durch steigenden Fleischkonsum in neuen Weltregionen, keineswegs die einzige Ursache der Krise. Betroffene Länder schotteten sich mithilfe von Lebensmittelrationierungen, Preisregulierungen und Subventionen, Suppen- oder Reisküchen, Aufkaufkampagnen und Exportverboten vom Weltmarkt ab.
Politisierung im 20. Jahrhundert
Was ist dann das Besondere am Hunger im 20. Jahrhundert? Zu den wichtigsten Unterschieden im Vergleich zu früheren Hungerkrisen zählen die politischen Auswirkungen der schon etwas älteren Skandalisierung des Hungers, der meist nicht mehr (wie bei Religiösen) als gottgegebenes Schicksal oder (wie bei Liberalen) selbstverschuldetes Unglück angesehen wird.
Essen ist die Grundlage des Lebens und ein gebräuchliches Mittel, um soziale Hierarchien und kulturelle und ethnische Differenz auszudrücken. Es hat somit einen bedeutenden symbolischen Gehalt. Symbolisch aufgeladen sind auch politische Maßnahmen, die den Nahrungskonsum regeln. Das ist zwar keine Neuheit des 20. Jahrhunderts, doch haben sich die politischen Implikationen in Zeiten des Massenwahlrechts und der politischen Partizipation von Bürgern und gerade auch Bürgerinnen im Allgemeinen geändert. Keine Regierung kommt heute mehr ohne Sozialpolitik aus.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde den meisten Regimen das revolutionäre Potenzial von Massenhunger bewusst. Dabei geht umstürzlerische Gefahr weniger von den Betroffenen und Sterbenden selbst aus; in Hungersnöten herrscht nach anfänglichen politischen Akten der Auflehnung (Proteste, Massenplünderungen, Attacken auf Amtsgebäude) meist Apathie, doch werden Überlebende und vor allem Zeugen politisiert.
Allerdings kann das Schicksal von Landbewohnern, wie schon erwähnt, durch in den Städten eintreffende und dahinsiechende Flüchtlinge sehr wohl politischen Sprengstoff bergen. Daher versuchten politische Führungsschichten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend, akute Hungersnöte mit ihren politisch desaströsen Folgen zu vermeiden – und dies keineswegs nur in Demokratien und unter der Bedingung von Pressefreiheit, die das staatliche Leugnen von Hungersnöten erschwert.
Dagegen ist die politische Relevanz chronischer Mangelernährung – die das heutige Welthungerproblem weitgehend bestimmt – für Regierungen viel geringer. Sie betraf in den vergangenen Jahrzehnten vor allem ländliche Regionen, die Hungernden sind (trotz ihrer großen Zahl) marginalisiert und vereinzelt, der Hunger ist alltäglich. Während sich die internationale Entwicklungspolitik und viele transnational tätige Nichtregierungsorganisationen diesem Problem seit den 1960er Jahren intensiv zugewandt haben, gilt das für die Regierungen betroffener Länder nicht in gleichem Maße. Sie stehen vielfach unter dem Einfluss nationalökonomischer Vorstellungen, nach denen die Akkumulation von Industriekapital auf Kosten einer rücksichtslosen Ausbeutung des flachen Landes erreicht werden soll, so, wie es in den heutigen kapitalistischen Industrieländern – und auch in sozialistischen Ländern – einst geschah. Gemessen an der über die vergangenen Jahrzehnte nur langsam reduzierten Zahl der an Unterernährung Leidenden (meist um die 800 Millionen Menschen), die die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO nennt, sind die Erfolge auf diesem Gebiet gering, wobei die politischen Aspekte des Zustandekommens solcher Zahlen wiederum mitbedacht werden sollten.
Hunger und Massengewalt
Im 20. Jahrhundert war Massenhunger oft eng mit Massengewalt verbunden. Etwa zwei Millionen von drei Millionen verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand im Zweiten Weltkrieg starben mehr oder weniger hungers in Lagern der Wehrmacht, Hunderttausende Häftlinge in Konzentrationslagern der SS – zusätzlich zu den direkten Morden. Ähnliches gilt für sowjetische Arbeitslager (GULags) und Kriegsgefangenenlager. Die Mehrzahl der bis zu 1,5 Millionen Armenier, die vor allem 1915/16 im Osmanischen Reich der Verfolgung zum Opfer fielen, starb an Hunger und Schwäche; gleiches galt für Angehörige anderer Minderheiten wie Griechen, Assyrer oder Kurden im selben Staat. Die meisten Opfer der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha (1975 bis 1979) kamen durch Unterernährung und Zwangsarbeit ums Leben. Weitere Beispiele finden sich in der deutschen Kolonie Südwestafrika zurzeit der Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama (1904 bis 1908), im französischen Krieg gegen die Unabhängigkeit Algeriens (1954 bis 1962) oder im indonesisch besetzten Osttimor (vor allem 1975 bis 1980).
Trotz dieser vielen Fälle gibt es noch keine systematische Forschung darüber, wie Hunger und Massengewalt zusammenhängen. Die vergleichende Genozidforschung hat bisher nur einfache Logiken ausgemacht: Genozid verursache eine Hungersnot durch sozioökonomisches Chaos; oder Hunger sei ein billiges, archaisches Instrument für Völkermord; oder eine Hungersnot (beziehungsweise der Versuch, sie zu verhindern) führe zu Genozid; oder eine Hungersnot sei per se als Genozid anzusehen.
Der politische Charakter solcher Deutungen wird auch dadurch unterstrichen, dass die Erklärungsversuche entlang verschiedener Grade von Intentionalität funktionieren. Damit konzentrieren sie sich auf staatliche Politik und deren Verurteilung. Auch demokratische, nicht nur autoritäre Systeme, das zeigt die Aufzählung der Länder, sind betroffen.
Gewiss ist es wichtig, Politiken des Hungers zu erforschen. Doch tendiert dies zur Vereinfachung, die kein volles Verständnis der Ursachen und Zusammenhänge erlaubt. Stattdessen scheinen die Übergänge zwischen Massenhunger und Massengewalt fließend und sie weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf. Beide sind soziale Prozesse. Sie gehen aus der komplexen Interaktion vieler Akteure hervor. Beide sind Formen von Gesellschaftskrisen. Sie verursachen Panik und führen meist zu großangelegten Flucht- oder Migrationsbewegungen, in denen die Migrierenden nicht nur ihr Eigentum einbüßen, sondern auch Arbeitsplätze, Heim, Familien- und Freundeskreise und lokales Wissen. Hungersnot und Massengewalt sind Umverteilungsvorgänge mit Gewinnern und Verlierern. Für die Betroffenen sind sie traumatisch, aber üblicherweise sind bei Weitem nicht alle in einer Gesellschaft betroffen, oder doch in unterschiedlicher Intensität. Dadurch schaffen oder verstärken beide Prozesse Ungleichheit; Massenhunger und Massengewalt gehen mit sozialer Mobilität einher und können langfristig zu Polarisierungen in der Gesellschaft führen. Soziale Bindungen bis in Familien hinein lockern sich, und hergebrachte moralische Werte, keineswegs nur bei "Tätern", erodieren.
Hunger und Ernährung sind im 20. Jahrhundert nicht zufällig verstärkt zum Gegenstand staatlichen Handelns mit Tendenz zum Gewaltsamen geworden. Dafür spielte auch Druck aus der Bevölkerung eine Rolle. Zentral für staatliche Reaktionen waren Rationierungssysteme, oft aufgeschlüsselt nach Arbeitsleistung, Geschlecht und Alter, aber eben auch nach sozialer Position. Lebensmittelrationierung sollte idealerweise soziale Benachteiligung in unkontrollierten Märkten verhindern oder mildern. Doch spielen für die Rationszuweisung, ihre Abstufung oder gar Ausgrenzungen oft auch politische oder rassistische Motive eine Rolle. Um 1941/42 erhielten Deutsche im deutsch besetzten "Generalgouvernement" Polen pro Kopf ausreichende Zuweisungen von 2500 bis 3000 Kalorien täglich, nichtjüdische Polen bekamen etwa 600 auf Ration und konsumierten mithilfe oft für illegal erklärter Transaktionen insgesamt etwa 2000 Kalorien, und Juden im Warschauer Getto erhielten per offizieller Ration 200 bis 300 Kalorien und konsumierten insgesamt Nahrung mit durchschnittlich etwa 1000 Kalorien (bei großen individuellen Unterschieden), wodurch Zehntausende verhungerten. Durch die Rationierung erfolgte also nicht nur eine Zuweisung unterschiedlicher Lebenschancen, sondern auch verschiedener Grade von Sicherheit, Ansehen und Lebensqualität.
Doch dieses Beispiel deutet auch darauf hin, dass keine Regierung eine Hungersnot völlig kontrollieren kann. Durch inkriminierte Markt- und Sozialbeziehungen wie Schwarzmärkte, Schwarzschlachtungen, Schmuggel, Hamstern, Felderablesen, Diebstahl, Betteln und das Mobilisieren von Verwandtschaftsbeziehungen versuchen sich Hungernde zu helfen und vermögen dies oft auch. Besonders problematisch ist dies allerdings für Insassen totaler Institutionen wie Lager, deren Mobilität, Erwerbsmöglichkeiten und soziale Kontakte stark eingeschränkt sind und die oft von der Familie getrennt sind. Doch auch im Lager existieren Märkte für Waren und Dienstleistungen, und damit Übervorteilung und Ungleichheit, insbesondere ungleiche Überlebenschancen. Was István Örkeny für das ungarische "Lagervolk" in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1943 bis 1947 beschrieben hat, könnte in ähnlicher Weise auch für Gefangene in deutschen Konzentrationslagern oder politisch verfolgte Indonesier in der Internierung nach 1965 gezeigt werden.
Marktbeziehungen und Ungleichheit haben auch Hungersnöte in sozialistischen Staaten und Gesellschaften mitgeprägt. Dort sind schwere Hungersnöte, außer im Zusammenhang mit Kriegen, in erster Linie bei dem Versuch entstanden, mittels einer radikalen Ausbeutung der Landbevölkerung die Industrialisierung zu forcieren, wobei diese Umverteilung, die vorherige relativ geringe Produktivität vieler kleiner Bauernhöfe, organisatorische Probleme bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, Widerstand von Bauern und Zwang ineinandergriffen. Jedoch zeigen anekdotische Beobachtungen wie auch sehr ungleiche Todesraten, dass mehr als nur natürliche und politische Faktoren eine Rolle für die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zu Nahrung spielten.
Fazit
In diesem Beitrag wurde Hunger im 20. Jahrhundert als Geschichte komplexer und konfliktreicher sozialer Interaktionen beschrieben. Trotz aller Akte von Nächstenliebe, Solidarität und Hilfe: Hunger ist eher korrumpierend und dreckig, nicht zuletzt in moralischer Hinsicht. Diese unheroische Realität hat auch Auswirkungen darauf, wie man sich an Hunger erinnert. In historischen Darstellungen ist Hunger wegen der von ihm unter Zeitgenossen hervorgebrachten Konflikte relativ selten vertreten und kaum Gegenstand eingehender Untersuchungen. Nach wie vor ist die Geschichtsschreibung stark durch die Nationalgeschichte geprägt, die nationale Identität (einschließlich Einheit) produzieren soll, wofür Geschichten des Hungers wenig funktional erscheinen. Allenfalls wird versucht, durch historische Darstellungen von Hungersnöten Opfernarrative zu schaffen oder zu stärken und damit Fremdherrschaft zu brandmarken; dafür muss man jedoch viele Phänomene, die die Hungersnöte mitverursacht haben oder mit ihnen einhergingen, ausblenden.
Demgegenüber birgt eine Geschichte des Hungers, die Agrarproduktion, Märkte und Politik vorurteilslos miteinander in Verbindung bringt, noch viel Potenzial. Solche Ansätze sollten interdisziplinär angelegt sein; transnationale – darunter vergleichende – Geschichten des Hungers fehlen bisher weitgehend und erscheinen besonders vielversprechend. Und schließlich wären Geschichten vonnöten, die Hunger in langfristiger Perspektive betrachten, von der Untersuchung chronischer Mangelernährung, angefangen bei der Ebene der Familie, bis hin zu den Folgen von Hungersnöten und rapider sozialer Mobilität.