Seit dem politischen Umbruch in Ostmitteleuropa 1989 ist ein Vierteljahrhundert vergangen.
Heute hört und sieht man in den Medien recht wenig von Tschechien und wenn, ist es eher Unerfreuliches – Korruption und politische Repräsentanten, die polternd auf dem internationalen Parkett auftreten, oder aktuell eine restriktive Flüchtlingspolitik, die sich mit einer weitverbreiteten Ablehnung von Zuwanderung in der Bevölkerung trifft.
Wo also steht die tschechische Zivilgesellschaft heute, wenn "1989" wie ihre Sternstunde erscheint? War der Aufbruch nur ein situatives Phänomen oder der Beginn einer Entwicklung, die auch heute noch sichtbar ist?
Keine Gewalt! – Bürger gegen den Staat
In den revolutionären Tagen vom November 1989 war die Forderung nach Gewaltlosigkeit das Prinzip, das die Gesellschaft einte. Brutale Übergriffe der Polizei bei einer angemeldeten Demonstration von Studenten hatten die gesellschaftliche Solidarität gestiftet und den Umsturz eingeleitet, der nicht zufällig die Bezeichnung "Samtene Revolution" erhielt.
Ein Blick hinter die Kulissen offenbart, dass bereits in der Umbruchszeit Konflikte in der Gesellschaft angelegt waren. Die Bürgerrechtler, die nun in Führungs- und politische Funktionen kamen, und die Mehrheitsbevölkerung waren sich kulturell und lebensweltlich fremd. In sozialistischer Zeit waren die Dissidenten eine mehr oder weniger isolierte Gruppe gewesen, erst 1988/89 nahm die Zahl von Protesten und Aktionen gegen das Regime zu, an denen auch Menschen beteiligt waren, die nicht zu diesem Kreis gehörten. Und auch Havel war wohl im westlichen Ausland zunächst bekannter und angesehener als im Land selbst.
Die Sammlungsbewegung stand schon bald nach den Gründungswahlen vor Richtungsentscheidungen, die die großen Themen der Transformation betrafen: Wirtschaft und gesellschaftliche Ordnung. Dabei zeigte sich, dass die Bewegung innerlich sehr uneinheitlich war, was zu Konflikten und Konkurrenzen führte. Durchsetzen konnte sich die Gruppierung um Václav Klaus, deren Mitglieder sich als "Realisten" und Verfechter einer modernen Politik sahen; die folgenden Parlamentswahlen 1992 entschieden sie als "Demokratische Bürgerpartei" (Občanská demokratická strana, ODS) deutlich für sich. Der Dissidentenflügel war als "Bürgerbewegung" (Občanské hnutí) im Parlament nur noch marginal vertreten; er schien wie aus der neuen Zeit gefallen, sein Glanz war dahin. Als Staatspräsident verkörperte Václav Havel bis 2003 diese "idealistische", moralische Seite der tschechischen Politik.
Václav Havel versus Václav Klaus
Nach dem Regierungswechsel 1992 und der Etablierung "regulärer" Parteien ging es nun konkreter um die zukünftige Rolle der Zivilgesellschaft im Staat.
Havel dagegen betonte die Notwendigkeit, eine wertbasierte, rege Zivilgesellschaft zu fördern, die gesellschaftlich integrierend wirkt.
Wem gehört der Staat?
Der Start der Tschechischen Republik in die politische und wirtschaftliche Transformation galt im ostmitteleuropäischen Vergleich zunächst als mustergültig. Auch die "zivile" Teilung des Staates kontrastierte positiv mit der Entwicklung in anderen postkommunistischen Ländern wie etwa dem früheren Jugoslawien. Und während sich in den Nachbarländern – auch als Antwort auf wirtschaftliche Reformen und soziale Verwerfungen – bereits Regierungswechsel nach rechts und zurück zu den "sozialdemokratisierten" kommunistischen Nachfolgeparteien vollzogen hatten, war Tschechien von Stabilität geprägt. Für die tschechische Gesellschaft spezifisch war und ist ein breiter antikommunistischer Konsens.
Dieses Jahr stellte insofern eine Zäsur dar, als der Nimbus der ODS, alle Bereiche erfolgreich zu meistern, in kurzer Zeit dahin war: Die Regierung stürzte über Wirtschaftsprobleme und ihre Verwicklung in Skandale, die auch die rechtlichen Freiräume der frühen Transformationsjahre offenlegten. Doch wer gehofft hatte, dieser dramatische Einbruch werde zu einer Wende führen, sah sich enttäuscht. Denn der Regierungsantritt der Sozialdemokraten unter dem Ministerpräsidenten Miloš Zeman brachte keinen Neuanfang, da die ČSSD einen Burgfrieden mit der ODS schloss: Dieser sogenannte "Oppositionsvertrag" sicherte ihr parlamentarische Unterstützung, die ODS konnte im Gegenzug mitentscheiden und erhielt wichtige Posten. Der politische "Deal" und die Aufteilung des öffentlichen Lebens durch das "Machtduo" Zeman und Klaus – ohne nennenswerte Opposition – rückten in den Vordergrund, Ende der 1990er Jahre häuften sich politische Skandale in der Regierung.
Danke, tretet ab!
So hatte sich die Gesellschaft das Erbe von "1989" nicht vorgestellt. Nach Jahren der Passivität erreichte die Unzufriedenheit mit der "parteipolitischen Politik" und ihren Repräsentanten eine kritische Masse und mündete in öffentliche Proteste der Bürgergesellschaft. Bemerkenswert daran waren sowohl das Anknüpfen an die Bewegung von 1989 und ihre Werte als auch die Breite, in der die Bürger mobilisierbar waren. Und anders als in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern setzten Proteste nicht bei den Sozial- oder Wirtschaftsreformen an, sondern bei der Moral und dem Gebaren der politischen Klasse. Hier manifestierte sich offen die politisch orientierte Zivilgesellschaft.
Den Anfang machte im Sommer 1999 die Initiative "Impulse 99", in der rund 200 Intellektuelle ein kritisches Bild der politischen Lage zeichneten und zu einer Neubestimmung des Kurses, der "Erneuerung moralischer Werte" und der Entwicklung der Zivilgesellschaft aufriefen.
In die Straßen getragen wurde dann der Aufruf "Danke, tretet ab!" (Děkujeme, odejděte!) zum zehnten Jahrestag der Revolution am 17. November 1999, den sechs damals beteiligte Studentensprecher initiierten. Dieser Appell war direkt an die machthabenden Politiker und die "großen politischen Parteien" ODS und ČSSD adressiert und forderte ihren Rücktritt. Die Gegenwartsanalyse und Bilanz der Ideale des Novembers verband sich auch hier wieder mit der Aufforderung, zu Anstand und Moral und einer "humanistischen Orientierung" zurückzukehren. Die Initiative wuchs zu einer landesweiten Bürgerbewegung heran, die bald mehr als 170000 Anhänger zählte.
Das letzte Massenphänomen in dieser Reihe waren die öffentlichen Proteste um das öffentlich-rechtliche Fernsehen Česká televize zur Jahreswende 2000/01, die ebenfalls über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erhielten. Auslöser des "Fernsehstreits" war die Neubesetzung der Intendantenstelle mit einem Kandidaten aus dem Sender, der wie der Fernsehrat als sehr regierungsnah galt. Zuvor hatte der neue Intendant einen Journalisten entlassen, der durch kritische Fragen in einem Interview den Ärger von Zeman und seinem Mitspieler Klaus auf sich gezogen hatte. Als Antwort traten Journalisten der Nachrichtenredaktion in den Streik und konnten über Kundgebungen auch die breitere Öffentlichkeit für ihr Anliegen mobilisieren; Unterstützung erhielten sie auch aus dem Umfeld der Bürgerbewegung "Danke, tretet ab". Auch hier ging es um die parteipolitische Einflussnahme im ODS-ČSSD-Format, diesmal mit Folgen für die Meinungs- und Informationsfreiheit.
Es ist also auffällig, dass sich die gesellschaftliche Partizipation am öffentlichen Leben in Form breiten offenen Protests um die Jahrtausendwende verdichtete. Die Bürgerbeteiligung über Wahlen hatte zum vergleichbaren Zeitpunkt, im Jahr 2002, mit 58 Prozent einen Tiefpunkt erreicht. Charakteristisch für dieses Phänomen war die Rückbindung an Werte und "November-Ideale" wie zugleich das "Abarbeiten" an der politischen Klasse in ihrer besonderen Ausprägung. Allerdings waren diese sichtbaren massenhaften Aufbrüche kurzlebig.
Die da oben – wir da unten
Verglichen mit dieser großen Aufbruchswelle drängt sich heute der Eindruck einer tiefen gesellschaftlichen Verdrossenheit auf, die zur Abwendung von der Politik führt. Das Bild von Politikern und Parteien in Tschechien verbindet sich weithin mit Skandalen, Betrugsfällen und der "Selbstbedienung" an öffentlichen Gütern und EU-Geldern, bei gleichzeitigem "Klammern" am Amt auch nach dem Bekanntwerden größerer Verfehlungen. Ans Licht kamen zahlreiche Betrugsfälle bei öffentlichen Aufträgen, die auf eine Verquickung von Wirtschaft und Politik vor allem bei der ODS und der ČSSD hinweisen.
Doch ein genauerer Blick zeigt, dass die Suche nach Alternativen weitergeht, wenn auch in veränderter Form. Insbesondere seit Anbruch dieses Jahrzehnts bahnt sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung erneut Wege.
Hier lässt sich die Bürgerinitiative "Öffentlichkeit gegen Korruption" (Veřejnost proti korupci, 2011)
Die Suche nach Alternativen und Protest zeigen sich außerdem im Umbruch des tschechischen Parteiensystems, das sich 2010 von der Dominanz der beiden "Großen" ODS und ČSSD und hoher Stabilität verabschiedete. Deutlich ist eine verstärkte Bereitschaft der Wähler, für Gruppierungen zu stimmen, die sich explizit als Alternative zu den etablierten Parteien – auch durch ihren Namen als "Bewegung" – darstellen. Dieses Phänomen ist in Tschechien bekannt, allerdings bislang nach dem Muster, dass kleine Parteien aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen, diese aber enttäuschen und wieder "abstürzen". Die neuen, vermeintlich "antipolitischen", aber vielmehr populistischen Protestparteien schreiben sich das Versprechen auf die Fahnen, "aufzuräumen" und gegen Korruption vorzugehen. Hierzu gehört "Öffentliche Angelegenheiten" (Věci veřejné, VV), die sich nach ihrem Erfolg bei den Parlamentswahlen 2010 (knapp elf Prozent) selbst in korrupte Praktiken verstrickte. Die Gruppierung "Aktion unzufriedener Bürger" (ANO) des Milliardärs und Polit-Unternehmers Andrej Babiš erzielte bei den vorgezogenen Neuwahlen 2013 beachtliche 18 Prozent und ist aktuell an der Regierung beteiligt. Sie steht für einfache, entdifferenzierte Politiklösungen, die gerade nicht auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse setzen. Daneben gibt es auch ein stilles Zeichen breiter Unzufriedenheit und der Distanz der Bürger zum Parteien-Establishment: Mit einer Wahlbeteiligung von rund 59 Prozent (gegenüber 75 Prozent in den 1990ern) wurde 2013 ein Tiefpunkt erreicht, vergleichbar niedrig waren die Werte nur am Ende des "Oppositionsvertrags" im Juni 2002.
"Organisierte" Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaftliche Bewegungen, Massenprotest und Wahlbeteiligung sind wichtige Indikatoren für den Stand der Zivilgesellschaft, aber auch ihr organisiertes Segment ist für ein umfassendes Bild heranzuziehen. Die Bilanz der letzten Jahre fällt hier positiv aus: Die Zahl an registrierten zivilgesellschaftlichen Organisationen hat nach 1989 einen Boom erlebt und ist kontinuierlich angestiegen. Die zugrundliegende Statistik umfasst dabei sehr unterschiedliche Formen, von Sportvereinen über NGOs und Gewerkschaften bis hin zu Stiftungen. Zu den Feldern, in denen die Aktivitäten am zahlreichsten und sichtbarsten sind, gehört zum einen der Umweltschutz, das Spektrum reicht hier von Naturschutzgruppen über Lobbyarbeit bis zur Kontrolle öffentlicher Politik.
Dass heute ein stabiles und reges Netz zivilgesellschaftlicher Organisationen besteht, ist vor allem vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen bemerkenswert, die nicht endgültig konsolidiert sind und immer wieder von parteipolitischen Kämpfen behindert wurden. Ein unfreundliches Umfeld für den zivilgesellschaftlichen Sektor bereiteten insbesondere die Jahre der Klaus-Regierung, in denen bereits beschlossene Fördermaßnahmen aus der frühen Transformationszeit, wie die Einrichtung eines Stiftungsfonds, ausgebremst wurden. Erst 2014 wurden im neuen Zivilgesetzbuch auch Bürgervereinigungen und Stiftungen aufgenommen.
Und wie steht es um das Verhältnis zwischen der organisierten Zivilgesellschaft und den Bürgern? Wenn in Umfragen Mitgliedschaften abgefragt werden, offenbart sich eine große Kluft: Organisationen, die politisch-gesellschaftliche Anliegen vertreten, haben eine sehr schwache Basis (an allerletzter Stelle stehen allerdings die politischen Parteien), indessen sind viele Menschen Mitglieder in Sportvereinen. Eine neuere Untersuchung deutet auf ein geringes Bürgervertrauen in Gruppen dieser ersten Kategorie; ausgeprägt ist die Wahrnehmung, dass sie durchaus schlagkräftig seien, aber "nur ihre eigenen Interessen" verfolgten.
Schlussbemerkungen
Seit 1989 offenbart sich in der tschechischen Gesellschaft immer wieder eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Parteien-Establishment und der Gestaltung des öffentlichen Lebens. Einmal verharren die Bürger in Passivität, ein anderes Mal mündet sie in zivilgesellschaftliche Aktivität. Die Suche nach einer "anständigen", moralischen Politik hat dabei ganz verschiedene Wege genommen und ist bis heute ergebnisoffen. Hier zeigt sich ein Segment der tschechischen Zivilgesellschaft, das sich politisch und ethisch-moralisch mit der Frage, wem der Staat gehört, und dem Zustand der Gesellschaft auseinandersetzt.
Die eindrückliche zivilgesellschaftliche Mobilisierung um die Jahrtausendwende war mit ihrer Forderung nach Anstand und Moral in der Politik singulär im Vergleich mit den ostmitteleuropäischen Nachbarländern und kann als spezifisch für den tschechischen Weg charakterisiert werden. Im Grunde genommen ist sie aber gescheitert und wurde von der Politik als "Träumerei" abgetan.
Auf der Bühne der "großen" Politik hat sich der Konflikt in jüngster Zeit erneut kurzzeitig aufgetan, bemerkenswerter Weise bei den Präsidentschaftswahlen, die 2013 erstmals in direkter Persönlichkeitswahl durchgeführt wurden. Im zweiten, entscheidenden Wahlgang standen sich Miloš Zeman und Karel Schwarzenberg gegenüber: Der eine gibt sich national, volksnah, hat aber kein Interesse an Zivilgesellschaft und verkörpert eine "klientelistische Interessenpolitik" – der andere steht für Internationalität, den moralischen Impetus und die Betonung der Zivilgesellschaft in Havels Tradition und kann die "Unpolitischen" binden.
Während sich in den vergangenen Jahrzehnten in Tschechien ein differenziertes Gefüge organisierter Zivilgesellschaft herausgebildet hat, kommen Impulse für eine ethische, zivilgesellschaftlich basierte Politik immer wieder auf, lassen sich aber nicht binden und haben in ihrer Mobilisierungskraft nachgelassen. Ist dies die Normalität, mit der man zufrieden sein kann, oder darf man mehr erwarten?