Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt/Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Auf kaum einen anderen deutschen Staatsmann treffen diese Verse aus dem Prolog zu Schillers "Wallensteins Lager" so zu wie auf Otto von Bismarck. Während der langen Periode seines politischen Wirkens war er stets umstritten, war das Bild, das man sich von ihm machte, heftigen Schwankungen ausgesetzt. Auch nach seiner Entlassung als Reichskanzler im März 1890 bewegten sich die Urteile über ihn zwischen kultischer Verehrung und vehementer Ablehnung.
Vom Konfliktminister zum Reichsgründer
Am Anfang war Bismarck geradezu verhasst. Als Wilhelm I. ihn im September 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannte, interpretierte die liberale Mehrheit im Abgeordnetenhaus dies als offene Kampfansage. Denn seit seinen ersten Auftritten im Vereinigten Landtag 1847 und noch mehr seit seinen gegenrevolutionären Aktivitäten 1848/49 haftete dem Junker aus Schönhausen der Ruf eines reaktionären Scharfmachers an. Dass er während seiner diplomatischen Lehrjahre als preußischer Gesandter im Bundestag in Frankfurt am Main und danach an den Botschaften von St. Petersburg und Paris gereift war und sich von den Anschauungen seiner ultrakonservativen Mentoren, der Brüder Ludwig und Leopold von Gerlach, abgewandt hatte – das war der Öffentlichkeit verborgen geblieben. Bismarcks Berufung bedeute "Säbelregiment im Innern" und "Krieg nach außen", prophezeite einer der Wortführer der Liberalen, Max von Forckenbeck.
In den ersten Jahren seiner Regierung schien es, als würde Bismarck seinem Image als skrupellosem Gewaltpolitiker entsprechen. "Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut", bemerkte er am 30. September 1862 in der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses und warf damit der liberalen Opposition den Fehdehandschuh hin. "Höre ich aber einen so flachen Junker, wie diesen Bismarck, von dem ‚Eisen und Blut‘ prahlen, womit er Deutschland unterjochen will, so scheint mir die Gemeinheit nur noch durch die Lächerlichkeit überboten", empörte sich der junge Leipziger Privatdozent für Geschichte Heinrich von Treitschke, später als einflussreicher Professor in Berlin einer der glühendsten Bewunderer Bismarcks.
Seit Herbst 1862 regierte der "Konfliktminister" verfassungswidrig, also ohne den gesetzlich vorgeschriebenen Haushalt. Oppositionelle Beamte wurden gemaßregelt, liberale Zeitungen einer strengen Zensur unterworfen. Das gegenwärtige Ministerium sei "in einer Weise mißliebig, wie selten eines in Preußen war", stellte Gerson Bleichröder, Bismarcks Bankier, im Februar 1863 fest. Im Frühjahr 1866 war Bismarcks Ansehen auf einem Tiefpunkt angelangt. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass der preußische Ministerpräsident es darauf anlegte, den Konflikt mit Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland mit Gewalt zu lösen. Noch nie sei ein Krieg "mit einer solchen Schamlosigkeit, einer solchen grauenvollen Frivolität" angezettelt worden, klagte der Göttinger Rechtsgelehrte Rudolf von Ihering. Selbst Bismarcks hochkonservative Freunde distanzierten sich von ihm, als er Anfang April 1866, um Österreich zu provozieren, einen Antrag auf die Einberufung eines Nationalparlaments in den Frankfurter Bundestag einbringen ließ. In einem Leitartikel in der "Kreuzzeitung" vom 8. Mai brach Ludwig von Gerlach den Stab über die zum Kriege treibende Politik. Zugleich verurteilte er den Bundesreformantrag als einen "grundrevolutionären Versuch, (…) der das Herz Deutschlands und zugleich das Herz Preußens und Österreichs tief verwundet".
Der Sieg Preußens in der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli änderte alles: Bismarcks riskantes Spiel war aufgegangen, mit einem Schlage war er "der Held des Tages". Selbst die prinzipienfestesten Liberalen ließ der Triumph nicht unbeeindruckt. Der Berliner Althistoriker Theodor Mommsen empfand "ein wunderbares Gefühl, dabei zu sein, wenn die Weltgeschichte um die Ecke biegt". Die gemäßigten Anhänger der liberalen Fortschrittspartei, die sich zur Nationalliberalen Partei zusammenschlossen, beeilten sich, ihren Frieden mit Bismarck zu machen. Und der kam ihnen seinerseits entgegen, indem er im Landtag um Indemnität bat, also um die nachträgliche Billigung seines budgetlosen Regiments. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die öffentliche Wertschätzung Bismarcks nach dem Sieg über Frankreich und der Gründung des Kaiserreiches 1870/71. Die Nationalliberalen sahen sich, was die deutsche Einheit betraf, am Ziel ihrer Wünsche. "Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und so mächtige Dinge erleben zu dürfen?", schwärmte der Bonner Historiker Heinrich Sybel wenige Tage nach der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 in Versailles. "Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt!"
Idolisierter Pensionär
Schon bald kehrte jedoch Ernüchterung ein. Der Börsenkrach vom Herbst 1873 beendete die Hochkonjunkturphase der Reichsgründungsära; es folgte eine lang anhaltende Wirtschaftsflaute. Die von Bismarck vom Zaun gebrochene Verfolgung von Katholiken und Sozialdemokraten verschärfte die gesellschaftlichen Spannungen. Nach der innenpolitischen Wende von 1878/79, durch die der Reichskanzler die Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen beendete, schwand die Hoffnung auf eine Weiterentwicklung der Reichsverfassung in Richtung eines parlamentarischen Systems. Vor allem in linksliberalen Kreisen wuchs nun wieder die Kritik an Bismarcks autoritärem Regierungsstil. Damit einher ging seit den frühen 1880er Jahren ein Gefühl lähmender Stagnation in der Innen- wie in der Außenpolitik. Unter den Zeitgenossen verstärkte sich der Eindruck, dass die Rezepte des alternden Kanzlers, der schon so lange die politischen Geschäfte führte, sich verbraucht hätten und ein frischer Wind vonnöten sei, um die Zukunft des Reiches zu sichern. So verwundert es nicht, dass Bismarcks Entlassung durch Wilhelm II. im März 1890 in weiten Kreisen der Öffentlichkeit mit Erleichterung aufgenommen wurde. "Gott sei Dank, dass er fort ist", gab der linksliberale Eugen Richter, neben dem Zentrumspolitiker Ludwig Windthorst der bedeutendste parlamentarische Gegenspieler Bismarcks, einer verbreiteten Stimmung Ausdruck.
Bald jedoch setzte ein abermaliger Umschwung in der öffentlichen Meinung ein. Friedrichsruh, Bismarcks Alterssitz vor den Toren Hamburgs, wurde zum Ziel einer wachsenden Schar von Verehrern. Dass der grollende Exkanzler kaum eine Gelegenheit ausließ, seinen Nachfolger Leo von Caprivi als unfähig hinzustellen, schadete seinem Nimbus nicht. Im Gegenteil: In dem Maße, wie seine Gegner nun ihrerseits begannen, ihn zu attackieren, stieg seine Popularität. Die wachsende Idolisierung des "Reichsgründers" war ein Politikum, das der kaiserlichen Entourage zunehmend Sorge bereitete. Denn unüberhörbar schwang darin ja auch Unmut über den Monarchen mit, der sich durch seine selbstherrlichen Allüren und seine rhetorischen Entgleisungen bereits um viel Ansehen gebracht hatte. Schließlich ließ sich Wilhelm II. von seinen Ratgebern zu einem Treffen mit Bismarck im Januar 1894 überreden, das als großes Versöhnungsfest inszeniert wurde und in der Öffentlichkeit begeisterten Widerhall fand. An Bismarcks abschätzigem Urteil über den jungen Kaiser änderte das Spektakel freilich nicht das Geringste: Noch auf seinem Sterbebett sollte er ihn einen "dummen Jungen" nennen.
Bismarcks achtzigster Geburtstag am 1. April 1895 wurde zu einem gigantischen Event. Aus allen Regionen des Reiches reisten Delegationen an, um dem "Alten im Sachsenwald" zu huldigen. Hunderte von Städten verliehen ihm die Ehrenbürgerschaft, Tausende Telegramme und Briefe überschwemmten das kleine Friedrichsruher Postamt. Im Reichstag jedoch lehnte eine Mehrheit aus Linksliberalen, katholischem Zentrum und Sozialdemokraten eine Glückwunschadresse an den "Reichsgründer" ab – ein Zeichen, dass die Wunden, die Bismarcks innenpolitischer Konfliktkurs geschlagen hatte, noch keineswegs verheilt waren. Im nationalliberalen Bürgertum empörte man sich über den Beschluss des Parlaments, doch unter Sozialdemokraten erntete er viel Zustimmung. Ob denn "die Welt verrückt" geworden sei, fragte man sich in Hamburger Arbeiterkneipen, so viel Aufhebens um "einen Mann zu machen, der genug Unglück heraufbeschworen hat". Die Erinnerung an das 1890 ausgelaufene Sozialistengesetz war in diesem Milieu noch höchst lebendig.
Stilisierung zur nationalen Heldenfigur
Nach Bismarcks Tod 1898 nahm der Kult um seine Person ungeahnte Dimensionen an. Nicht geringen Anteil daran hatten die postum veröffentlichten Memoiren des Fürsten, "Gedanken und Erinnerungen", die das Bild, das sich viele national gesinnte Deutsche vom "Reichsgründer" machten, nachhaltig prägten. Die im November 1898 erschienenen ersten beiden Bände fanden reißenden Absatz. "In den Buchhandlungen", notierte Baronin Spitzemberg, "prügelt man sich um Bismarcks Erinnerungen." Der Bestseller avancierte zu einem der Lieblingsbücher der Deutschen. Ludwig Bamberger war einer der wenigen, der bedauerte, dass ein Buch, in dem "die Worte ‚Humanität‘ und ‚Zivilisation‘ nie anders erwähnt" würden "als im Sinne der unbedingten Verspottung und der hohlen Phraseologie" gerade bei der Jugend so viel Anklang fand. Dadurch würde "das fragwürdige Ideal der soldatischen ‚Schneidigkeit‘ mit allen seinen Auswüchsen zum höchsten Ausdruck des Nationalcharakters ausgebildet". In den Denkmälern, die nach 1898 wie Pilze aus dem Boden schossen, fand dieses "fragwürdige Ideal" seinen markantesten Ausdruck. Sie zeigten den "Reichsgründer" in Kürassieruniform mit Pickelhaube, Stulpenstiefeln und Schwert – als martialischen Recken, der grimmigen Gesichts seinen Blick in unbestimmte Ferne schweifen lässt. Wie kein zweites symbolisiert das Hamburger Bismarck-Denkmal Hugo Lederers von 1906 in seiner kolossalen Größe den auftrumpfenden wilhelminischen Zeitgeist.
Der Bismarck-Mythos löste sich zunehmend von der realen historischen Gestalt ab. Hinter dem Monumentalbild des "Eisernen Kanzlers" verschwand, was seine Außenpolitik seit Mitte der 1870er Jahre ausgezeichnet hatte: der Sinn für Maß und Mäßigung, der Einsicht abgerungen, dass die Existenz des Deutschen Reiches nur gesichert werden könne, wenn es sich selbst als "saturiert" definierte. Stattdessen wurde Bismarck nach seinem Tod zur Leitfigur eines überhitzten Nationalismus, in welche die wilhelminische Generation ihre imperialistischen Sehnsüchte hineinprojizierte. Besonders der kleine, aber einflussreiche Alldeutsche Verband begann Bismarcks Namen für die eigenen völkisch-expansionistischen Ziele in Anspruch zu nehmen. Jedes Jahr nach Friedrichsruh zu pilgern und Bismarck durch Kranzniederlegungen zu ehren, galt den Alldeutschen als "heilige Pflicht".
Gegen die Stilisierung Bismarcks zur nationalen Heldenfigur erhob sich unter professionellen Historikern kaum Widerspruch. Im Gegenteil: Die meisten beteiligten sich eifrig daran, den Mythos mit wissenschaftlichen Argumenten zu untermauern. Ob die Vertreter der borussisch-kleindeutschen Schule, Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke, oder die sie um die Jahrhundertwende ablösenden "Neo-Rankeaner" um Max Lenz, Erich Marcks oder Hermann Oncken – sie alle zollten "dem Schöpfer des Reiches freudig Tribut" und waren geneigt, die Exzesse des Bismarck-Kults "als unschuldigen Überschwang hinzunehmen, als das etwas unangenehm dröhnende Echo einer an sich trefflichen Melodie". So trugen sie zu einem gesellschaftlichen Klima bei, das sich schließlich in der begeisterten Zustimmung des nationalen Bürgertums zum Krieg im August 1914 ein Ventil schuf.
Zur geistigen Mobilmachung dieser Tage gehörte auch die Beschwörung des "Eisernen Kanzlers". Vom "Bismarck in Feldgrau" war die Rede, dessen Werk nun vollendet werden müsse. Einen Höhepunkt erreichte die militante Bismarck-Verklärung anlässlich seines hundertsten Geburtstages am 1. April 1915. "Wir sehen ihn vor unseren Augen übermenschlich groß, als Roland und Siegfried zugleich", verkündete der nationalliberale Politiker Gustav Stresemann, damals noch ein glühender Annexionist, und der Historiker Max Lenz sekundierte: "Bismarcks gewaltiger Schatten zieht mit in unseren Heeren. Sein Schwert ist es, dessen Schläge draußen so furchtbar widerhallen." Nicht nur in offiziellen Veranstaltungen, sondern auch im privaten Kreis wurde des Reichskanzlers gedacht. Im Tagebuch des Heidelberger Mediävisten Karl Hampe ist unter dem Datum des 1. April 1915 zu lesen: "Nachmittags hatten wir im Hause eine kleine Bismarckfeier. Lotte (Hampes Frau – Anm. V.U.) hat in der Wohnstube eine geliehene Bismarckstatue aufgestellt. Sie und die Kinder sagten Gedichte (…). Ich hatte das Ganze mit einer kleinen Rede eingeleitet."
Wie schon in den 1890er Jahren schloss die Berufung auf Bismarcks Titanengestalt im Weltkrieg immer auch eine Kritik an den für unfähig gehaltenen Nachfolgern ein, in diesem Falle an Theobald von Bethmann Hollweg, der den Annexionisten als "Flaumacher" galt und auf dessen Sturz sie im Juli 1917 zielbewusst hinarbeiteten. Nicht zufällig sollte die Deutsche Vaterlandspartei, in der sich damals die Anhänger eines "Siegfriedens" sammelten, ursprünglich den Namen "Bismarckbund" tragen. Nach den allzu lange gehegten Illusionen über Deutschlands Siegesaussichten wurden die Niederlage von 1918 und das ruhmlose Ende der Hohenzollernmonarchie in nationalkonservativen Kreisen doppelt schmerzhaft empfunden. "Wir haben zusammen geweint", notierte Karl Hampe am 10. November. "Zur Stärkung las ich Lotte spät aus Bismarcks ‚Gedanken und Erinnerungen‘ den Abschnitt über 1848 vor."
Vorbild eines "wegweisenden Führers"
"Zurück zu Bismarck" wurde zum Schlachtruf der politischen Rechten in der Weimarer Republik, das heißt all jener, die der geliebten Ordnung des Kaiserreiches hinterhertrauerten, die Deutschlands Großmachtstellung wieder herstellen wollten und eine starke Regierung über den Parteien herbeisehnten. "Wer männlich fühlt und denkt, wer von Bismarcks Geist einen Hauch verspürt hat, harret aus in Lehre und Beispiel, um die Rückkehr zu ihm zu erreichen", erklärte der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, im März 1920.
Der Bismarck-Mythos erhielt somit eine neue Funktion: Hatte er vor 1918 dazu gedient, das politische und gesellschaftliche System des Kaiserreiches zu legitimieren, so sollte er nun dazu beitragen, die demokratische Ordnung von Weimar zu destabilisieren. Deutlich wurde dies zum Beispiel während der Veranstaltungen zum fünfzigsten Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar 1921. Der Romanist Victor Klemperer etwa notierte im Telegrammstil, was der Rektor der Technischen Universität Dresden in einer Feierstunde zum Besten gab: "Das Reich ist in Trümmern, schuld die Frevler an Bismarck, Regierende wie den Frevel duldendes Volk – ‚Kraft‘ muß wiederkommen etc." Klemperers Kommentar: "Teils Phrase, teils Reaction."
Die Dolchstoßlegende, also die Behauptung, Juden und Sozialisten seien für die Niederlage verantwortlich, verband sich mit dem Bismarck-Mythos zu einem trüben Gemisch, das die politische Kultur Weimars nachhaltig vergiftete. Dieser Propaganda hatte die demokratische Linke wenig entgegenzusetzen. Der den Sozialdemokraten nahestehende Freiburger Jurist Hermann Kantorowicz forderte 1921 dazu auf, endlich aus Bismarcks Schatten herauszutreten, denn solange jener "über den jungen Baum der deutschen Demokratie" falle, könne "dieser nicht gedeihen". Auch der Erfolgsautor Emil Ludwig bemühte sich mit seiner populären Bismarck-Biografie von 1926 um einen Brückenschlag, indem er den Mythos aus der Verfügungsmacht der Republikgegner zu befreien suchte. Rudolf Olden dankte ihm in einer Rezension im "Berliner Tageblatt": "Bismarck, das ist unsere, des Deutschen Reiches Geschichte. Wer so erzählt, daß Millionen Deutsche sie richtig lesen, der sichert den Weg, den es allein jetzt gehen kann, den Weg der Republik." Doch dies blieben Stimmen von Außenseitern. Das Gros der deutschnational orientierten Fachhistoriker verharrte in feindseliger Distanz zur Weimarer Republik. Trotz mancher Fortschritte der Geschichtsforschung war die Faszinationskraft des Bismarck-Mythos ungebrochen. Die Herausgabe der "Gesammelten Werke" Bismarcks seit 1924, so verdienstvoll sie auch war, diente denn auch einem politischen Zweck, den einer der Bearbeiter, Friedrich Thimme, unverblümt benannte: "unserer heranwachsenden Jugend und der kommenden Führerschicht unseres Volkes (…) ein leuchtendes Vorbild" zu geben, "in welcher Weise sie das Ziel, Deutschlands Macht und Größe wiederherzustellen, erreichen können."
Der Ruf nach einem "zweiten Bismarck" artikulierte sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik immer vernehmlicher. "Sein Bild vor allem schwebt uns vor", rief der Münchner Historiker Karl Alexander von Müller auf dem Dritten Bismarck-Tag 1929 aus, "wenn wir hoffen, daß die politische Schöpferkraft unseres Volkes noch nicht erloschen ist und sich eines Tages wieder, wie ein Blitz im Gewölke, verdichtet zu einem wegweisenden Führer." Nicht wenige sahen bereits vor 1933 in dem "Führer" der NSDAP, Adolf Hitler, diese neue charismatische Heilsfigur. Jedenfalls konnten sich die Nationalsozialisten die weitverbreitete Sehnsucht nach einem politischen Messias zunutze machen. Geschickt bedienten sie sich in den ersten Monaten nach der "Machtergreifung" Bismarcks Namen, indem sie sich als "junge Kraft" präsentierten, die das Werk des großen Vorgängers fortsetzen wolle. Am 1. April 1933 pries Propagandaminister Joseph Goebbels im Rundfunk die "Wiedergeburt der Nation" als "historisches Wunder": "Bismarck war der große staatspolitische Revolutionär des 19. Jahrhunderts, Hitler ist der große staatspolitische Revolutionär des 20. Jahrhunderts." Je mehr sich aber Hitlers Diktatur konsolidierte und der Führerkult üppige Blüten trieb, desto weniger waren die Nationalsozialisten auf den Bismarck-Mythos als Legitimationsmittel angewiesen. Der Reichsgründer wurde "zum Vorläufer degradiert"; seine Bedeutung in der Symbolpolitik des "Dritten Reiches" nahm kontinuierlich ab.
Deutungsversuche zwischen Glorifizierung und Verdammnis
Im konservativen Widerstand gegen Hitler begann man sich freilich in dem Maße auf Bismarck zurückzubesinnen, wie deutlich wurde, dass der Diktator mit seiner verbrecherischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik alle zivilisatorischen Normen außer Kraft und dabei die Existenz des Reiches selbst aufs Spiel setzte. "Kaum zu ertragen, ich war dauernd nahe an Tränen beim Gedanken an das zerstörte Werk", notierte der Diplomat Ulrich von Hassell nach einem Besuch in Friedrichsruh Anfang Juli 1944. "Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit Bismarck beschäftigt, und er wächst als Außenpolitiker dauernd bei mir. Es ist bedauerlich, welch falsches Bild wir selbst in der Welt von ihm erzeugt haben, als dem Gewaltpolitiker mit Kürassierstiefeln, in der kindlichen Freude darüber, daß jemand Deutschland endlich wieder zur Geltung brachte."
Mit diesem Eingeständnis war eine Revision der nationalkonservativen Bismarck-Deutung eingeleitet, die sich nach dem Ende des "Dritten Reiches" fortsetzen und zu einem grundlegenden Wandel der Betrachtungsweise führen sollte. Den Anfang machte der damals bereits über achtzigjährige Friedrich Meinecke mit seinem Essay "Die deutsche Katastrophe" von 1946: "In der unmittelbaren Leistung Bismarcks selbst war etwas, das auf der Grenze zwischen Heilvollem und Unheilvollem lag und in seiner weiteren Entwicklung immer mehr zum Unheilvollen hinüberwachsen sollte", schrieb der Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft. "Der erschütternde Verlauf des ersten und noch mehr des zweiten Weltkriegs läßt die Frage nicht mehr verstummen, ob nicht Keime des späteren Unheils in ihm von vornherein wesenhaft steckten." Damit war die Kernfrage aufgeworfen, welche die deutsche Geschichtswissenschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten intensiv beschäftigen sollte: die nach der Kontinuität der deutschen Politik zwischen 1871 und 1933, zwischen Kaiserreich und "Drittem Reich". In diesem Kontext wurde die Auseinandersetzung mit Person und Werk Otto von Bismarcks zur Nagelprobe für die Bereitschaft der Historiker, die überkommenen Deutungsmuster einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
Auf die dreibändige, vor 1945 im englischen Exil geschriebene Bismarck-Biografie von Erich Eyck, die an die Kritik der linksliberalen Zeitgenossen des "Reichsgründers" anknüpfte, reagierte die Zunft noch mit verstockter Abwehr. Für den Freiburger Historiker Gerhard Ritter bedeutete das Werk des Außenseiters "eine verspätete Revanche der durch Bismarck vergewaltigten und korrumpierten deutschen Liberalen von 1862–66"; anstelle der alten werde nun "eine neue Bismarcklegende, mit umgekehrten Vorzeichen," etabliert. Der Münchner Historikertag von 1949, der erste nach dem Zweiten Weltkrieg, stand denn auch ganz im Zeichen des Versuchs, jeden Zusammenhang zwischen der Politik Bismarcks und der Hitlers zurückzuweisen. Als Hauptredner hatte man sich schon früh um Hans Rothfels bemüht, den die Nazis wegen seiner jüdischen Herkunft von seinem Königsberger Lehrstuhl vertrieben und in die Emigration gezwungen hatten. "Er wäre der vom Himmel gesandte Mann für das Bismarck-Thema", schrieb Hermann Aubin im November 1948 an Gerhard Ritter. Und Rothfels enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Sein mit viel Applaus bedachter Vortrag mündete in die Feststellung einer "Grundtatsache": dass "das Zweite Reich im Entscheidenden und in prinzipieller Grenzsetzung genau gegen all das stand, was das Dritte Reich propagierte oder tat." Diese scharfe Grenzziehung ließ sich jedoch auf Dauer nicht halten. In den folgenden beiden Jahrzehnten wurde sie durch die historische Forschung zunehmend durchbrochen. Neben den Diskontinuitäten rückten nun auch die Kontinuitäten ins Blickfeld. Daran hatte vor allem das 1961 erschienene Werk des Hamburger Historikers Fritz Fischer über die deutsche Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, "Griff nach der Weltmacht", entscheidenden Anteil. Parallel dazu differenzierte sich auch das Bild Bismarcks und der Bismarck-Zeit aus, traten die Schattenseiten seiner Herrschaft, vor allem in der Innenpolitik, schärfer hervor.
Die Revision des Bismarck-Bildes trug auch in Politik und Öffentlichkeit allmählich Früchte. Hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard Bismarck zum 150. Geburtstag am 1. April 1965 noch als "Sinnbild" des Strebens nach nationaler Einheit gefeiert, so erklärte Bundespräsident Gustav Heinemann anlässlich des hundertsten Jahrestages der Kaiserproklamation von Versailles, dass 1871 nur "eine äußere Einheit ohne volle innere Freiheit der Bürger" erreicht worden sei. Der "Reichsgründer" gehöre folglich nicht in die "schwarz-rot-goldene Ahnengalerie". Gewissermaßen die Quintessenz unter die jahrzehntelange Debatte zog Lothar Gall 1980 mit seiner großen, bis heute maßstabsetzenden Bismarck-Biografie. Ihm gelang das Kunststück, sich von einseitiger Glorifizierung und Verdammnis gleich weit entfernt zu halten und den "weißen Revolutionär" bemerkenswert kritisch unter den Bedingungen seiner Zeit zu porträtieren. Fünf Jahre später veröffentlichte der Altmeister der DDR-Geschichtsschreibung, Ernst Engelberg, den ersten Band einer zeitgleich in Ost und West veröffentlichten Biografie, in der er sich dem vordem als stockreaktionär verschrienen Junker auf überraschend verständnisvolle Weise annäherte. Als der zweite Band 1990 erschien, war die DDR bereits untergegangen, hatten sich die beiden Teilstaaten, die aus der Trümmermasse des ersten deutschen Nationalstaates hervorgegangen waren, vereinigt.
Endlich Geschichte?
Hat Bismarck seitdem wieder eine "neue, fast bedrängende Bedeutung" gewonnen? Keineswegs, denn die Unterschiede zwischen 1871 und 1990 sind nicht zu übersehen: Der zweite deutsche Nationalstaat ist nicht durch "Blut und Eisen" entstanden, sondern unter demokratischem Vorzeichen im Zuge einvernehmlicher Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. Er ist keine Schöpfung "von oben", sondern der Anstoß ging "von unten" aus, von den Reformbewegungen in den osteuropäischen Staaten und der Friedlichen Revolution in der DDR. Und auch wenn manche das vereinigte Deutschland aufgrund seiner ökonomischen Stärke bereits wieder in die Rolle einer europäischen Hegemonialmacht hineinfantasieren, so sprengt es zumindest bislang nicht das Gleichgewicht auf dem Kontinent. Befürchtungen, der Bismarck-Mythos könne im Zusammenhang mit einem neuen deutschen Nationalismus wiederbelebt werden, haben sich bislang nicht bewahrheitet.
Als wohl bedeutendster deutscher Staatsmann seines Jahrhunderts ist Bismarck immer noch ein Gegenstand unseres historischen Interesses, aber er polarisiert nicht mehr. "Sein Bild, lange von der Parteien Gunst und Hass verzerrt, hat sich geklärt." An die Stelle leidenschaftlich umkämpfter kollektiver Erinnerung ist eine konsequente Historisierung getreten, die den "Reichsgründer" nüchtern-abwägend, mit seinen Leistungen und Grenzen, seinen Widersprüchen und Ambivalenzen zeigt. Vielleicht lässt sich sagen, dass er erst jetzt, zweihundert Jahre nach seiner Geburt, ganz der Geschichte angehört.