Die Denk- und Handlungsprinzipien der modernen Wissenschaft und Technik bilden die wichtigste Produktivkraft heutiger Gesellschaften. In den vergangenen Jahrzehnten haben insbesondere die Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsform beschleunigt: der Wissenschaftsgesellschaft.
Dieser Prozess ist in der Zivilisationsgeschichte insofern beispiellos, als all die Größen, die diese Gesellschaft charakterisieren, seit der Herausbildung der neuen Wissenschaftsmethoden vor etwa dreihundert Jahren eine sprunghafte Entwicklung genommen haben: Das gilt für die Erzeugung von Produkten, für technikbasierte Dienstleistungen und Infrastrukturen, für die Veränderungen und Belastungen der natürlichen Umwelt, für die Nahrungsmittelproduktion, für die Herstellung von Waffen und deren Vernichtungswirkungen, für den Ressourcenverbrauch und den globalisierten Handel sowie für die Zunahme ökonomischer, sozialer und ökologischer Konflikte.
Seit der Entdeckung der Grundgröße "Information", der Entwicklung der Informationstheorie, der Erfindung des Computers und der Gesetze der Kybernetik hat sich die Informationsverarbeitung ebenso exponentiell vollzogen. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass 2012 etwa 1,8 Zettabyte an Daten produziert wurden und die Datenmengen sich etwa alle zwei Jahre weiter verdoppeln werden (Ein Zettabyte ist eine Eins mit 21 Nullen).
Erst mit Verzögerung sind auch Zweifel größer und Stimmen lauter geworden, ob alle Segnungen der Wissenschaftsgesellschaft als Fortschritt angesehen werden können. Wenn heute noch immer fast zwei Milliarden Menschen kein sauberes Trinkwasser haben, über 1,3 Milliarden unter Hunger und Mangelernährung leiden, es aus politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Gründen enorme Migrationsbewegungen gibt und die Bedrohungen durch überbordende Konflikte und Terrorismus so groß sind wie lange nicht mehr – dann müssen vor allem auch die Fortschrittseuphorien in den Wissenschaftsgesellschaften hinterfragt werden.
Welcher Fortschritt?
Selbstverständlich sind die durch die Produktivkraft "Wissenschaft und Technologie" in den vergangenen hundert Jahren erreichten Veränderungen in den Industriegesellschaften faszinierend: Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft um 4000 Prozent, im Produktionsbereich um 4500 Prozent, im Dienstleistungsbereich um 4000 Prozent, des Realeinkommens um 3500 Prozent. Auch die Verlängerung der Lebenszeit um etwa 38 Jahre (eine Verdoppelung), die enorme Steigerung der Mobilität sowie die Möglichkeit, in Nanosekunden über den gesamten Erdball zu kommunizieren, begreifen wir zu Recht als große Fortschritte.
Wie aber sieht es aus mit anderen Veränderungen: der täglichen Vernichtung von zahlreichen Tier- und Pflanzenarten, von Tausenden Quadratkilometern tropischen Regenwalds, der massenhaften Versteppung und Verseuchung von Böden, der Vergiftung großer Trinkwasserreservoire, der Verpestung der Atmosphäre? Was ist mit dem fortgesetzten Raubbau an den fossilen Energieträgern und anderen natürlichen Ressourcen? Wie verhält es sich also mit den jüngsten "Errungenschaften" des digitalen Zeitalters – mit der Ausbreitung von immer größeren Datenwolken und immer intelligenteren digitalen Diensten, sowie, damit verbunden, mit den zunehmenden Verunsicherungen und Ängsten vor außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten und mächtigen Konzernen der digitalen Industrie, die unsere persönlichen Daten abgreifen und für ihre Zwecke nutzen? Wollen wir diesen Fortschritt? Wollen wir ihn so?
Wir brauchen dringend eine Neubestimmung von Fortschritt, und wir müssen unser Denken und Handeln gerade auch auf die zukunftsbeschränkenden Wirkungen und Folgen der primär auf wissenschaftlich-technologischen Innovationen beruhenden Gesellschaft konzentrieren. Es gilt, Antworten zu finden, wie wir auf die existenziellen Fragen der vielen Menschen weltweit reagieren, die an diesem Fortschritt nicht beteiligt sind. Das bedeutet, dass wir nicht mehr nur Techniken erfinden, weiterentwickeln und weitgehend unkontrolliert auf die Menschheit loslassen dürfen. Wir müssen frühzeitig ihre Wirkungen und Folgen erforschen und neue Perspektiven eröffnen. Nur so können wissenschaftliche Erkenntnisse im Zusammenwirken mit Lebens- und Alltagserfahrungen betroffener Bürgerinnen und Bürger zukunftsfähige Lebensgrundlagen für alle Menschen ermöglichen. Das klingt vermessen und hypertroph. Aber aus Sicht der Zukunftsforschung gibt es keinen Grund anzunehmen, dass eine solche Vision nicht realisierbar sei.
Big Data, Big Science
In allen Bereichen des menschlichen Lebens und Handelns fallen täglich große Datenmengen an. Viele Unternehmen, Administrationen, Organisationen, Netzwerke und Infrastruktureinrichtungen produzieren und speichern laufend Daten, die vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Technologien anfallen. Das gigantische Datenmeer wird jeden Tag größer: durch Mess- und Kontrollsysteme, Informations- und Kommunikationseinrichtungen, Überweisungsdaten im Bank- und Versicherungsgeschäft, Diagnosen und Therapiepläne in der Medizin, Statusmeldungen in sozialen Netzwerken, Forschung und Bildung sowie durch alle möglichen Informationen, die milliardenfach ins Internet gestellt werden.
Alle Wirtschaftsbranchen, aber auch alle anderen Bereiche, in denen mit Unterstützung von IKT-Systemen interagiert wird, produzieren Daten, Datenspuren und gespeicherte Daten, die zusammen den Begriff "Big Data" geprägt haben. Seit einigen Jahren ist Big Data allerdings nicht mehr nur ein Begriff, sondern ein neues und zunehmend auch zentrales Themenfeld der IKT-Branche: "Big Data bezeichnet einen aktuellen Trend der Informations- und Kommunikationstechnologien, große, inhomogene Datenmengen zeitnah zu verarbeiten und aus der Analyse der Daten wirtschaftliche Vorteile zu ziehen. Treiber der Technologie-Entwicklung ist das weltweit exponentiell wachsende Datenvolumen."
So war es nur eine Frage der Zeit, dass die sich immer weiter füllenden Datenseen einer kommerziellen Nutzung zugeführt würden. Google hat als erster Konzern sowohl die Produktion als auch die Speicherung und Nutzung von Big Data systematisch umgesetzt. Mittlerweile hat sich ein umfangreicher Wirtschaftssektor herausgebildet, der auf der Nutzung riesiger Datenmengen beruht. Darüber hinaus gibt es weltweit eine rasch wachsende wissenschaftliche Community, die sich der Erforschung und Anwendung sowie der Entwicklung von Methoden und Verfahren zur effizienten Nutzung von Big Data widmet.
Nutzungsmöglichkeiten
Auch wenn das digitale Universum von Big Data eine unerschöpfliche Rohstoffquelle zu sein scheint, so muss doch vor der Annahme gewarnt werden, diese Quelle könne leicht für alle möglichen Wunderleistungen genutzt werden. Denn schließlich handelt es sich hier nicht um geordnete klassische Datenbanken, die mit den herkömmlichen Methoden der Datenanalytik, -synthetik und Statistik erschlossen werden können. Vielmehr breitet sich hier ein weitgehend ungeordnetes, fast chaotisches Datenreservoir aus, dessen Erschließung vor zahlreichen Herausforderungen steht.
Vereinfacht lässt sich die Suche nach interessanten Daten und Datenverknüpfungen mit der Suche nach einem Edelstein in einem riesigen Meer aus Sand und Geröll vergleichen. Vor diesem Hintergrund ist es höchst plausibel, dass die derzeitige Forschung und Entwicklung nach ganz neuen Methoden, Verfahrensweisen und Technologien fahndet, um zu einer Komplexitätsreduktion und zu sinnvollen und nützlichen Ergebnissen zu kommen. Da die Zahl der Unternehmen, die die Erschließung von Big Data als wichtig und nützlich ansehen, sprunghaft gestiegen ist, ist davon auszugehen, dass wir vor einer wissenschaftlichen, technologischen und ökonomischen Boomphase stehen: "Dass hier echte Schätze zu heben sind, davon sind die meisten Experten überzeugt. Eine globale Umfrage der Universität Oxford ergab: Fast zwei Drittel der Befragten aller Branchen sind überzeugt davon, dass die Nutzung von Daten und Analyseverfahren für ihr Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil darstellt – zwei Jahre zuvor meinten dies erst 37 Prozent."
In einer im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellten Innovationspotenzialanalyse identifizierte das Fraunhofer-Institut für intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für Big-Data-Nutzungen, die es wie folgt zusammenfasste: "Die Anwendungsfälle decken verschiedene Branchen und Unternehmensbereiche ab. Jedoch gibt es Schwerpunkte, und zwar in den Unternehmensbereichen, die für die jeweilige Branche am charakteristischsten sind: ‚Marketing, Vertrieb und Kundenbetreuung‘ im Handel, ‚Produktion, technische und IT-Services‘ in der Industrie, ‚Finanz- und Risiko-Controlling‘ in Banken und Finanzen, ‚Dienstleistung und Support‘ im Dienstleistungssektor. (…) Die Steigerung der Umsätze und Einsparung von Kosten zählen zu den häufigsten Zielen, und zwar maßgeblich im Handel. Bei Banken und Versicherungen ist die Erkennung von Compliance-Problemen, vornehmlich in Zusammenhang mit Betrugsversuchen, das wichtigste Ziel. Im Dienstleistungssektor, und hier besonders durch die evidenzbasierte Medizin, steht die datenbasierte Planung im Fokus. Im Industriesektor sind die Ziele sehr vielfältig."
Die Aufgabengebiete für Big-Data-Anwendungen wurden dabei wie folgt herausgearbeitet, wobei die vielfältigen Aufgaben zu Gruppen mit ähnlichen Eigenschaften gebündelt wurden: "Marktmonitoring für Verkaufschancen, Personalisierte Produktempfehlungen, Kündigerfrüherkennung, Mitarbeitergewinnung, Absatzprognose für Planung und Steuerung, Vorausschauende Instandhaltung, Umsichtige Steuerung, Betrugserkennung, Finanzielle Risikoabschätzung, Erkennung von Attacken, Produktverbesserungen, Innovative Produkte".
Allgemein lässt sich feststellen, dass Big Data schon heute die Möglichkeit bietet, große Datenmengen sowie neue Formen der Verknüpfung und Analyse ganz unterschiedlicher Quellen zu erschließen. Daraus erwachsen neue Wissensbestände und technologische Anwendungen. Hieraus lassen sich für Unternehmen vor allem Wettbewerbsvorteile durch Informationsvorsprung und Effizienzsteigerungen, Innovationsschübe für neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen sowie Grundlagen für neue Ausbildungs- und Qualifikationsprogramme gewinnen.
Neue Verheißung Smart Data
Neuere Studien und die Debatten in Forschung und Wirtschaft legen nahe, dass die zukünftige Durchdringung von Big Data eine wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Revolution einleiten könnte – vor allem, wenn "Big" um "Smart" ergänzt wird: "Nur wer die Daten versteht, kann Mehrwert schaffen. Denn um solche Datenmengen (…) richtig auswerten zu können, muss man sie verstehen – das heißt, man muss über das Wissen verfügen, wie die Geräte und Anlagen funktionieren und mit welcher Sensorik und Messtechnik man an die wirklich nützlichen Daten herankommt. Hier ist nicht unbedingt die ‚Masse‘ (Big), sondern der ‚wertvolle Inhalt‘ (Smart) das entscheidende Kriterium."
Eine Initiative aus der Trusted Cloud Forschung definiert Smart Data wie folgt: "Smart Data = Big Data + Nutzen + Semantik + Datenqualität + Sicherheit + Datenschutz = nutzbringende, hochwertige und abgesicherte Daten".
Die heute primär avisierten Nutzungsmöglichkeiten von Smart Data sprechen dafür, dass tatsächlich vor allem lebenswichtige Daseinsbereiche davon profitieren könnten beziehungsweise werden. Folgende wirtschaftliche Anwendungsfelder stehen auf der Agenda ganz oben:
Energie.
Mehrere Entwicklungen sprechen für ein wachsendes Datenaufkommen im Energiesektor: die stark steigende Zahl dezentraler Energieversorger, die Forderungen nach größerer Energieeffizienz, der zunehmende dezentrale Einsatz von Energiespeichern für Strom und Wärme, ein rationelleres Energieverhalten sowie die verstärkte Einbindung der Verbraucher. Hinzu kommt die Notwendigkeit der besseren Kopplung und Verwendung der Anlagen. Das wiederum bedingt den Einsatz von intelligenten Strom- und Wärmezählern (smart meter) sowie von intelligenten Netzen (smart grids). In diesen komplexen Systemen sind zahlreiche Probleme zu lösen, etwa der Ausgleich von Spannungsschwankungen oder die Verhinderung von Stromausfällen oder Messfehlern – ohne dabei die Anforderungen einer hohen Datensicherheit, des Datenschutzes, der Wahrung der Privatsphäre und der Erhaltung und Verbesserung der Kostenstruktur zu vernachlässigen. Hinzu kommen weitere Forderungen, etwa nach zeitlich und örtlich differenzierten oder den Verbrauchergruppen angepassten Tarifstrukturen als Grundlage für Kundensegmentierungen und als Voraussetzung für individuelle Steuerungsmöglichkeiten einzelner Geräte.
Mobilität und Verkehr.
Dieser Bereich bildet ein äußerst weites und komplexes Anwendungsfeld mit gigantischem Datenanfall. Hier geht es um das Zusammenspiel mehrerer Subsysteme, also des motorisierten Straßenverkehrs, des öffentlichen Personennahverkehrs, des schienengebundenen Nah-, Regional- und Fernverkehrs der Eisenbahnen, des Radverkehrs, des Fußverkehrs, der Binnenschifffahrt und des Flugverkehrs. Hier fallen Daten ganz unterschiedlicher Herkunft an, etwa Fahrzeug-, Nutzer-, und Infrastrukturdaten (Straßen, Trassen, Brücken, Radwege, Gehwege, Wasserwege). Hinzu kommen klassische Vernetzungsbereiche wie Haltestellen, Bahnhöfe, Ampelsysteme, Kreisverkehre, Tank- und Ladestellen sowie neue wie Informations- und Kommunikationssysteme, Car2Car- und Car2X-Kommunikationen (Kommunikation zwischen Fahrzeugen sowie zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur), Mautsysteme, Stauanzeigen, Verkehrslenkungssysteme, Carsharing und anderes mehr. Zum einen geht es dabei um eine möglichst optimale Steuerung und Kontrolle, die Vermeidung von Unfällen, Staus und Kollisionen, zum anderen aber auch um die Einhaltung des Datenschutzes und die Wahrung von Persönlichkeitsrechten. Hinzu kommen mehr und mehr auch personalisierte und zielgruppenspezifische Verkehrsangebote, das heißt neue Datenstrukturen für eine individualisierte Verkehrsplanung und kontextabhängige Verkehrssteuerungen.
Industrie.
In der Industrie fallen unter anderem im Zusammenhang mit der Automatisierungstechnik und durch den Einsatz intelligenter autonomer Systeme (Robotik) sowie durch die Vernetzung von eingebetteten Systemen, Sensoren und Funktechniken riesige Datenmengen an. Integrierte Produktplanungs-, Monitoring- und Entscheidungssysteme sind schon heute zentrale Bereiche von Smart Data. Ergänzt werden diese Systeme durch die Integration individualisierter Kundenanforderungen aus Befragungen und durch das Zusammenwirken mit sozialen Netzwerken. Die Analyse und die Nutzung der Daten ermöglichen Qualitätsverbesserungen und Effizienzsteigerungen von Produkten, Verfahren und Wertschöpfungsketten. "In den mit cyberphysikalischen Systemen ausgerüsteten smarten Fabriken, wie sie im Rahmen von ‚Industrie 4.0‘ entwickelt werden, sind Objekte und Produkte eindeutig identifizierbar, jederzeit lokalisierbar und liefern Zustandsinformationen. Dies ermöglicht in Echtzeit steuerbare Wertschöpfungsnetzwerke, erfordert aber ein durchgängiges Engineering über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts einschließlich seines Produktionssystems hinweg."
Gesundheit.
Im Gesundheitsbereich fallen große Mengen an komplexen Daten an, die über alle Arbeitsfelder hinweg gespeichert werden. Das gilt für alle Bereiche der Diagnostik und Therapie ebenso wie für den enormen Datenanfall im Gesundheitsmanagement, in der Krankenhausverwaltung, Forschung, Bildung, Ausbildung, Medizintechnik und durch das weitgefächerte Rechnungs- und Abrechnungswesen. Vor diesem Hintergrund eines breiten Spektrums äußerst komplexer und heterogener Daten werden Methoden und Techniken zur intelligenten Nutzung von Big Data im Gesundheitsbereich immer vielversprechender. Die Nutzung der Daten im Sinne von Smart Data wird vor allem auch durch den Megatrend einer sich individualisierenden und fallspezifischen Medizinentwicklung immer plausibler. Das gilt auch für die Medizintechnik und -forschung, für die individuelle Patientenversorgung und den Kampf gegen Zivilisationskrankheiten. Für den Gesundheitsbereich wird Smart Data einen besonderen Schwerpunkt in puncto Datenschutz, Datensicherheit sowie Einhaltung zahlreicher Rechtsnormen zu legen haben, die vor allem den Patienten dienen.
Nachhaltige Entwicklung?
Es ist bezeichnend, dass sich in der gesamten Debatte um Big Data und Smart Data kein einziger Hinweis auf das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung findet. Auch wenn die wissenschaftlichen und ökonomischen Diskurse um einige der wichtigsten Bereiche des gesellschaftlichen Wandels kreisen – Industrie, Energie, Mobilität, Gesundheit –, findet eine Auseinandersetzung mit dem globalen Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung
Nach heutigen Erkenntnissen werden sowohl entwickelte als auch in Entwicklung befindliche Gesellschaften gegenwärtig und zukünftig von zwei Leitbildern geprägt: der bereits erwähnten Wissenschaftsgesellschaft (science society) und der Nachhaltigen Gesellschaft (sustainable society). Diese Einsicht gehört zu den zentralen Ergebnissen der Zukunftsforschung.
Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhundert wandelte sich in den entwickelten Staaten die Agrar- in eine Produktions- beziehungsweise Industriegesellschaft. Danach bildete sich sehr rasch die Dienstleistungsgesellschaft heraus. Schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen die IK-Technologien als neue Schlüsseltechnologien eine herausragende Stellung in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft ein. Zu Recht sprechen wir bei dieser Epoche von der Entwicklung zur Informationsgesellschaft (Tertiarisierung). Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert wird der Strukturwandel gemäß dem Leitbild der science society fast ausnahmslos durch wissenschaftsbasierte ökonomische und soziale Innovationen geprägt, zu denen zweifellos auch Big Data und Smart Data gehören (Quartarisierung). Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass der Strukturwandel zur Wissenschaftsgesellschaft noch von einer Reihe weiterer wissenschaftsbasierter Schlüsseltechnologien gekennzeichnet ist – etwa mit Blick auf Energiespeichertechniken, Mikro- und Optoelektronik, Bio- und Gentechnologien, Nanotechniken oder Hochleistungswerkstoffe.
Diese Techniken ermöglichen eine ungeahnte Innovationsoffensive und Effizienzsteigerung in allen Wirtschaftsbereichen und führen zu weltweit vernetzten Produktionsprozessen, neuen Produkten und Dienstleistungen sowie neuen Organisationsformen von Unternehmen.
Eine Schätzung des Massachusetts Institute of Technology and Management ergab, dass rund 70 Prozent des Preises von Mikrochips und Solarzellen, etwa 80 Prozent der Preise von Pharmaprodukten und 70 bis 80 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung auf wissenschaftlichem Wissen und wissenschaftsbasierten Techniken beruhen. Diese Entwicklung, die auf dem gleichen Paradigma wie die Industriegesellschaft fußt – nämlich dem "WTI-Paradigma" (Wissenschaft–Technik–Industrie) – ist somit in ihrem Kern die Fortsetzung der Industriegesellschaft mit anderen Mitteln.
Spätestens 1992 – mit der Verabschiedung der Rio-Deklaration und der sogenannten Agenda 21 auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung – hat die internationale Staatengemeinschaft die Nachhaltige Entwicklung beziehungsweise die Nachhaltige Gesellschaft als Leitvision und Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert dagegensetzt. Dahinter stand die Erkenntnis, dass das Fortschreiten auf dem Pfad des WTI-Paradigmas nicht zukunftsfähig ist, weil damit unlösbare ökologische, soziale und kulturelle Verwerfungen verbunden sind. Demgegenüber bestand weitgehend Konsens darüber, dass das Leitbild der Nachhaltigkeit die zentralen Forderungen nach inter- und intragenerativer Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit weltweit erfüllen kann.
Vor diesem Hintergrund haben sich die folgenden Leitperspektiven als Zielhorizont für eine zukunftsfähige Entwicklung herauskristallisiert: Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und Schonung der Naturressourcen; Verbesserung der Lebensqualität und Sicherung von wirtschaftlicher Entwicklung und Beschäftigung; Sicherung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit; Wahrung und Förderung der kulturellen Eigenentwicklung und Vielfalt von Gruppen, Völkern und Lebensgemeinschaften; Förderung menschendienlicher Technologien und Verhinderung superriskanter Techniken und irreversibler Umfeldzerstörungen; Aufnahme eines Konsultationsprozesses auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, den gesellschaftlichen Organisationen und den Bürgern sowie zwischen den Staaten und Völkern weltweit.
In den Jahren nach Rio wurden sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis in zahlreichen Staaten, Kommunen und Unternehmen Strategien und Maßnahmen zur Nachhaltigen Entwicklung für alle Handlungsbereiche erarbeitet (unter anderem für die Bereiche Energie, Bauen und Wohnen, Stadtentwicklung, Mobilität, Gesundheit, Technologie, Wirtschaft, Bildung, Unternehmen, Produktion und Dienstleistungen). Das auf der Agenda 21 aufbauende Konzept einer sustainable society ist auch deshalb zukunftsweisend, weil es im Gegensatz zu einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrategie viele Gewinner und nur wenige Verlierer hat. Zudem kann das Leitkonzept der Nachhaltigkeit weltweit auf einer breiten wertebasierten Grundlage und gesellschaftlichen Zustimmung aufbauen. Es ermöglicht sowohl ökonomische als auch ökologische, soziale und kulturelle Gewinne gleichzeitig.
Heute sind fast alle Handlungsbereiche bereits soweit in Richtung einer umsetzbaren Nachhaltigkeitsstrategie konkretisiert, dass der Weg in eine sustainable society nicht nur konzeptionell, sondern auch ganz praktisch als möglich und gangbar erscheint. In den vergangenen Jahren wurden vor allem auf lokaler Ebene und in zahlreichen Unternehmen viele Projekte, Initiativen, Prozesse und Produkte entwickelt, die beweisen, dass Nachhaltigkeitsstrategien realisierbar sind.
Fazit
Die weit in die Zukunft weisenden Konzepte von Big Data und Smart Data sollten sich sowohl hinsichtlich ihrer wissenschaftlich-technischen als auch hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Anwendungen prinzipiell den Zielen der Nachhaltigen Entwicklung unterordnen. Das ist bisher jedoch noch nicht erkennbar.
Die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert besteht darin, die beiden globalen Leitkonzepte der Wissenschaftsgesellschaft und der Nachhaltigen Entwicklung so zusammenzuführen, dass die Menschheit überlebens- und zukunftsfähig bleibt. Das verlangt nach heutigen Erkenntnissen, dass in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handlungsbereichen die Leitziele der Nachhaltigkeit unter Nutzung der effizienten wissensbasierten Technologien und Innovationen in einem Optimierungsprozess zusammengeführt werden sollten. Das kann aber nur gelingen, wenn sich alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte – Wissenschaft, Wissenschaftsförderung, Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur und Zivilgesellschaft – in einem partizipativen, demokratischen Prozess auf diese Leitziele zubewegen und ihre grundlegenden Strategien, Entscheidungen und Maßnahmen daran ausrichten.
Eine zentrale Aufgabe fällt dabei der Wissenschafts-, Bildungs- und Forschungspolitik zu. Nur wenn die Förderprogramme der EU, des Bundes, der Länder und der Wirtschaft auf die Leitperspektiven der Nachhaltigkeit fokussiert werden, kann es mittel- und langfristig gelingen, hinreichend wirksame soziale, ökologische, ökonomische und kulturelle Innovationen in Richtung einer lebenswerten Zukunft auszulösen.