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"Elite" im 20. Jahrhundert | Oben | bpb.de

Oben Editorial Deutsche Eliten: Die wahre Parallelgesellschaft? "Elite" im 20. Jahrhundert We are the 1%: Über globale Finanzeliten Reichtum und seine philanthropische Verwendung Reichtum in Deutschland und den USA Steuern: Von oben für unten? Prominenz: Entstehung, Erscheinung, Darstellung Faszination Adel – Problem der Demokratie?

"Elite" im 20. Jahrhundert

Morten Reitmayer

/ 17 Minuten zu lesen

Entstehung und Entwicklung des Elitebegriffs sind untrennbar mit der Ausbreitung der Demokratie in den europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts verbunden. Als die Sozialtheoretiker Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto den Elitebegriff in die Politische Wissenschaft beziehungsweise in die Soziologie einführten, so taten sie dies, weil das Verhältnis zwischen der konzeptionell auf politischer Gleichheit basierenden Demokratie und der real vorhandenen ungleichen Verteilung politischer Macht für sie als interessierte Zeitgenossen den Schlüssel zum Verständnis der politischen Sozialstruktur einer jeden Gesellschaft darzustellen schien. Ihre Behauptungen von der Unmöglichkeit, eine echte Demokratie einzurichten, und der ewigen Existenz und Herrschaft von Eliten beeinflussten das politische Denken des 20. Jahrhunderts zutiefst. Aufgrund dieser politisch-zeitdiagnostischen Qualität etablierte sich in fast jeder europäischen Gesellschaft eine spezifische Bedeutung und Verwendung des Elitebegriffs, die auf die je eigenen nationalstaatlichen Diskurse und Problemlagen abgestimmt waren. Deshalb unterschied sich die deutsche Elitesemantik im 20. Jahrhundert beispielsweise vom "jakobinischen" Elitebegriff Frankreichs mit seiner Fiktion der konsequenten Leistungsauslese der staatlichen Führungskräfte ohne jede Voreingenommenheit der sozialen Herkunft, oder der britischen Semantik, die ganz ohne die französische Tradition auskam und weitaus länger und stärker von "konkreten" Begriffen der Privilegierung wie upper class, nobility oder the rich gekennzeichnet war.

Elitesemantik bis 1945

Tatsächlich hielt der Elitebegriff erst relativ spät Einzug in die politische Sprache Deutschlands. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein taugte er offenbar den Zeitgenossen nicht zur Beschreibung ihrer Vorstellungen über die damaligen Herrschafts- und Funktionsträger, als Ausdruck ihrer Erwartungen an diese und zur Adressierung von Kritik. Dabei war der Begriff als solcher den allgemeinen Lexika durchaus bekannt. Nur bezeichnete er dort – abgesehen von gelegentlich kurz notierten Praktiken der Pflanzenzucht – bis zum Zweiten Weltkrieg lediglich besondere militärische Einheiten, sogenannte Elitetruppen. Im Sprechen über politisch, ökonomisch oder kulturell privilegierte Gruppen der Gesellschaft dominierten beschreibende beziehungsweise "konkrete" Begriffe wie "Adel", "Bürgertum" oder "die Gebildeten".

Sichtbar wurden diese Begrifflichkeiten in den Auseinandersetzungen des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik über die Gestalt einer zukünftigen, also noch zu schaffenden "Führungsschicht": Hier war einerseits vom "Adel" die Rede, der durch eine "Adelsreform" wieder in den Stand versetzt werden sollte, seine frühere Herrschaftsfunktion auszuüben. Dies sollte hauptsächlich durch die Exklusion seiner jüdischen beziehungsweise ehemals jüdischen Mitglieder erfolgen. Andererseits träumten nicht wenige Jungkonservative vom Schaffen einer "neuen Aristokratie", die allenfalls Teile des alten Geburtsadels umfassen konnte und durch weitere zur Führung befähigte Personen mindestens zu ergänzen, wenn nicht sogar um diese herum zu komponieren war. In diesen spezifischen Elitesemantiken mischten und überlagerten sich ganz unterschiedliche "Weltwollungen" und "Denkzwänge". So gingen nahezu alle Beteiligten der Diskussion von neo-ständisch-korporativen Ordnungsentwürfen aus und forderten deshalb politisch-rechtliche Privilegierungen für die zu schaffende neue Aristokratie, um deren Herrschaft vor demokratischen Partizipationsforderungen abzuschirmen. Gleichwohl enthielten diese Konzepte mehr oder weniger stark ausgeprägte Bestandteile, die mit den altadligen, auf familiären Kontinuitäten und Bindungen beruhenden Vorstellungen kaum in Übereinstimmung zu bringen waren. Sollte nämlich die zu schaffende Führungsschicht auch aus "Persönlichkeiten" des "Geistesadels" mit "Sachverstand" bestehen, die qua ihrer individuellen Qualitäten zur "Führung" "berufen" seien, so markierte dieser Gedanke durch seine Verwurzelung im (bildungs-)bürgerlichen Individualismus einen klaren Bruch mit dem adligen Denken in Generationenfolgen.

Es ist aufschlussreich, dass in diesem konservativ-revolutionären Ordnungsdenken für den Elitebegriff wenig Platz blieb. Die Ursache dafür lag in dem ganzheitlichen Herrschaftsverständnis begründet, auf dem das Ordnungsdenken vor allem des konventionell-autoritären Flügels der Neuen Rechten, etwa der Jungkonservativen und mit ihnen der Anhänger des Konzepts vom "Neuen Staat" um Franz von Papen, und darüber hinaus aller Anhänger eines traditionellen Verständnisses von "Adeligkeit" beruhte: Dieses Herrschaftsverständnis wurde nämlich als persönliches Über- und Unterordnungsverhältnis begriffen, als "Herrschaft über Personen innerhalb eines persönlichen Herrschaftsbereiches, aus eigenem, persönlichen und erblichen Recht". "Herrschaft" bedeutete für alle konservativen und neurechten Propagandisten einer politisch-sozialen Neuordnung Deutschlands die elementarste Form menschlicher Vergesellschaftung, und nur ein echter Adel konnte diese ausüben. Daraus folgte nahezu zwangsläufig die ausdrückliche Ablehnung des Elitebegriffs und der damit verbundenen meritokratischen und individuell-kompetitiven Sozialmodelle, weil sie als tragende Elemente einer bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung angesehen wurden. Am Ende der Weimarer Republik präzisierte Edgar Julius Jung, einer der Vordenker der Neuen Rechten, in einem mit dem bezeichnenden Titel "Adel oder Elite" überschriebenen Aufsatz diese Ablehnung deutlich: Jung definierte "Elite" als einen "bürgerlichen" Begriff: "Die Elite muss leisten, um anerkannt zu sein." Dieses Leistungsprinzip (individualistisch, konkurrenzorientiert, dynamisch, tendenziell kapitalistisch) blieb für Jung gegenüber dem Wesen menschlichen Daseins jedoch rein äußerlich.

Demgegenüber präsentierte Jung den Adel nicht nur als ein "biologisches Prinzip" – eine Brücke zum Geburtsadel –, sondern auch als ein "Seinsprinzip". Deshalb war auch das Sozialmodell "Adel" gegenüber dem Konzept "Elite" für ihn grundsätzlich wertvoller: "Die Kraft, Menschen zu binden und zu beherrschen, liegt jenseits aller Leistung und Anstrengung im Wesen des Herrenmenschen beschlossen. Der Appell, sich zu unterwerfen, ist eine Ausstrahlung, die sogar stumm sein kann. (…) Der Adel (…) herrscht durch sein überlegenes Sein." Auch Jung bestimmte also das Ausüben von Herrschaft als die zentrale Aufgabe des Adels, und zwar in einer offensichtlich antidemokratischen Form. Und er postulierte, dass eine Herrschaftsordnung, die von einer "organisch gewachsenen Oberschicht" geführt werde, a priori stabiler sei als ein bloß auf einer (bürgerlichen) Elite gestütztes System.

Einzig der sogenannte Tatkreis, der in der Staatskrise der Weimarer Republik gewissermaßen die politisch-ideelle Avantgarde der Konservativen Revolution darstellte, bediente sich des Elitebegriffs zur Bezeichnung derjenigen, die "kraft ihres historischen Überblicks und ihres bewussten Einblicks in die Dinge ihren Standpunkt a priori auf einer sachlichen, neutralen Ebene gewählt haben, ohne damit auf die eigene Aktivität und den Anspruch auf die Führung zu verzichten". Dass der Tatkreis auf diese "Eliteschicht" setzte, geschah zwar nur in Ermangelung eines echten "Führers" (Adolf Hitler war im Oktober 1931 für viele Rechtsintellektuelle eine Enttäuschung). Aber die Autoren um Hans Zehrer konzipierten ihren neuen politischen Hoffnungsträger in jedem Falle nicht als eine bloße Verlängerung der historischen Aristokratie. Mit diesem Konzept blieb der Tatkreis jedoch in einer Minderheitsposition. Einflussreicher blieben zunächst die jungkonservativen Ideen eines Adels als wesensbestimmte Herrschaftsgruppe. Längerfristig erfolgreich waren jedoch die Versuche großer Teile des depravierten ostelbischen Kleinadels, die seit November 1918 fehlende monarchische Spitze der Adelswelt durch ein erneuertes Selbstbild zu ersetzen, das sie durch rassische Reinheit, ideologische Festigkeit und Willensstärke zu einem völkischen "Führertum" prädestinierte.

Von Anfang an waren die völkischen Neuadelskonzepte überlagert durch den "Führerglauben": den Glauben an die Macht des außeralltäglichen Führers, die Probleme der Zeit zu lösen. Der Führer übt seine Herrschaft durch das Prinzip Befehl und Gehorsam in einer extrem asymmetrischen Machtbeziehung aus; die Willensbildung erfolgt streng von oben nach unten, wobei sich der Führer der von ihm nach Loyalität und anderen, in der Regel charakterlichen und weltanschaulichen Kriterien auserwählten "Unterführer" bedient: "Der Führer richtet sich nicht nach der Masse, sondern nach einer Sendung; er schmeichelt der Masse nicht; hart und rücksichtslos geht er ihr voran, in guten und bösen Tagen. Der Führer ist radikal; er ist ganz was er tut, und tut ganz, was er muss. Der Führer ist verantwortlich, das heißt er tut den Willen Gottes, den er verkörpert. Gott schenke uns Führer und helfe uns zu wirklicher Gefolgschaft." Dieser Führerglaube hatte sich in Deutschland noch vor Ende des 19. Jahrhunderts sowohl in weiten Teilen des Bildungsbürgertums – in Gestalt des nach-nietzscheanischen Genie- und Übermenschenkults – als auch in der Form wirtschaftsbürgerlicher "Herr-im-Hause"-Positionen ausgebreitet, bevor er im politischen Feld als Bismarck-Kult und durch die alldeutsche Propaganda zum semantischen Reflex der politischen Legitimationskrise des spätwilhelminischen Reiches wurde.

Die Zwischenkriegsepoche wurde zur Blütezeit des Führerglaubens in ganz Europa, und zahllose europäische Intellektuelle verfielen den "Philosophendiktatoren". Der Nationalsozialismus trieb den Führerglauben dann auf die Spitze, indem er ihn durch die umfassende Durchsetzung des Führerprinzips – "im Deutschen Reich seit 1933 der Organisationsgrundsatz aller Erscheinungs- und Organisationsformen des Volkes. Hauptmerkmale sind: Autorität nach unten, Verantwortlichkeit nach oben" – Realität werden ließ. Damit soll nicht der Nationalsozialismus zum "Hitlerismus" stilisiert, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, dass die Berufung auf den "Führerwillen" im NS-Regime zur obersten Legitimationsinstanz politischen Handelns aufstieg.

Was sagt diese spezifische Elitesemantik, also die jeweilige Bedeutung und Verwendung von Begriffen wie "Adel", "Führer", "Elite" oder "Oberschicht", über die deutsche Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aus? Zunächst einmal signalisiert sie die Aporien des konservativen und neurechten Ordnungsdenkens, dem es im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht gelang, ein Modell politisch-sozialer Entscheidungselite (im analytischen Sinne) zu entwickeln, das den massenhaften Partizipationsansprüchen irgendwie hätte gerecht werden können. Nicht allein in institutioneller Hinsicht gingen diese Ordnungsentwürfe (etwa Papens "Neuer Staat") an den Anforderungen der Zeit vorbei, sondern auch im Hinblick auf deren soziale Trägerschaft. Doch darüber hinaus lässt sich weitgehend argumentieren, dass nach dem (angesichts dieser Aporien geradezu zwangsläufigen) Scheitern der neurechten Ordnungsentwürfe nur noch der nationalsozialistische Führerstaat als letzte politisch-ideelle Alternative übrig blieb.

Gerade am Beispiel der SS, die doch die nationalsozialistische "Führungselite" darstellte, wird übrigens deutlich, warum auch die nationalsozialistische Elitesemantik den Elitebegriff nicht benötigte: Trotz der ausdrücklichen Ablehnung ständischer Abgeschlossenheit präsentierte sich die SS keineswegs als die sozial offene Summe von unter Konkurrenzbedingungen und nach Leistungsgesichtspunkten ausgewählten Individuen, als Leistungselite der Volksgemeinschaft. Stattdessen sollte dieser "neue Adel", den sie zu verkörpern beanspruchte, gar nicht aus Individuen, sondern aus Familienverbänden ("Sippen") bestehen. "Leistung" war deshalb weder ein Kriterium der Rekrutierung noch eine soziale Funktion in der oder für die Gesamtgruppe. Denn die Auswahl der SS-Männer – und ihrer Ehefrauen – stand unter dem Primat ihrer rassischen, erbbiologischen und physischen Wertigkeit und sodann ihrer weltanschaulichen und charakterlichen Festigung. Prüfungswettbewerbe oder schulischer Erfolg spielten keine Rolle, wohl aber wurde die Einsatzbewährung bei der Lösung administrativer oder militärischer Probleme beziehungsweise Entschlossenheit (und Rücksichtslosigkeit) beim weiteren Karriereaufstieg honoriert. Leistung stellte die erhoffte Folge rassebiologischer Auslese dar, nicht das Konstituens einer nationalsozialistischen Elite.

Neue Elitesemantik nach 1945

Nach 1945 waren alle diese Begriffe und die in ihnen gespeicherten Erfahrungen und "Weltwollungen" zutiefst diskreditiert. Sowohl der Führerglaube als auch die neoständischen Adelsvorstellungen hatten sich durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, durch die europäischen Führerdiktaturen und die autoritär-korporativen Experimente des zurückliegenden Vierteljahrhunderts zutiefst kompromittiert. In das politisch-ideelle Vakuum, das nach ihrem Verschwinden entstanden war, drangen in Westdeutschland noch vor 1949 verschiedenste Ordnungsentwürfe und Semantiken, die hauptsächlich von reformkonservativen Gruppen aus den Evangelischen Kirchen (katholische Gruppen beteiligten sich an dem gesamten Erörterungszusammenhang nicht) sowie von einer konservativen Avantgarde mit Wurzeln in der Konservativen Revolution vor 1933 propagiert wurden. Auf komplexe Weise vermischten sich hier unter den Vorzeichen der bis Ende der 1950er Jahre währenden konservativen Hegemonie im intellektuellen Feld ein bis ins Religiöse gesteigerter Antikommunismus mit dem Avantgardeanspruch intellektuell ambitionierter Kriegsheimkehrer sowie dem Willen zur Integration der Bundesrepublik in den "Westen". Hinzu kam eine sozialexklusive Ablehnung der Demokratie und der "Massengesellschaft" gepaart mit der Erleichterung über den Erfolg der Regierungen Konrad Adenauers, Westdeutschland als bürgerliche Gesellschaft zu stabilisieren, sowie mit bildungsbürgerlichen Traditionen geistesgeschichtlicher Weltdeutungen. In dieser Konstellation verbreitete sich der Elitebegriff schnell in der politischen Sprache der Bundesrepublik und damit einhergehend der Glaube an die Notwendigkeit – und zunehmend auch an die Existenz – von Eliten in allen entwickelten Gesellschaften, kurz: eine neue Elitesemantik etablierte sich.

Bemerkenswerterweise war es zunächst die vor allem unter konservativen Intellektuellen weitverbreitete Rede vom Fehlen einer "echten" Elite – ein Verlust-Narrativ, das auf das oben genannte politisch-ideelle Vakuum verweist –, die die Durchsetzung des Elitebegriffs und die Verbreitung des Eliteglaubens antrieb. Diese Klage bezog sich in erster Linie auf den Niedergang des altpreußischen Adels, der sowohl seinen Besitz östlich der Elbe als auch seine Herrschaftsstellung verloren hatte, sowie auf die Auflösung der obrigkeitsstaatlichen Bürokratie als gesonderter und sich selbst reproduzierender Stand, versehen mit politisch-rechtlichen Privilegien. Erst im Verlauf der 1950er Jahre wurde klar, dass der Elitebegriff eine semantische Brücke darstellte, über die sich die Rechtfertigung von Ungleichheit in die scheinbar egalitäre Demokratie transportieren ließ.

Ein zweiter Strang der Verbreitung des Eliteglaubens verdankte sich der starken kirchlichen Präsenz in den politisch-ideellen Auseinandersetzungen dieser Zeit und bestand in der Forderung, die Handlungen aller Entscheidungsträger christlichen Wertbindungen zu unterwerfen. Daraus resultierte das Postulat einer christlichen Wertelite, die in allen gesellschaftlichen Bereichen (im Sinne einer "Rechristianisierung" der westdeutschen Gesellschaft) Einfluss nehmen sollte. Bemerkenswerterweise verband sich mit diesem Konzept die Vorstellung vollständiger sozialer Offenheit dieses spezifischen Elitebegriffs. Gegenüber der Semantik einer sozialen Elite in der genannten Verlustperspektive stellte dies eine deutliche Differenz dar, die die einschlägigen Akteure jedoch keineswegs daran hinderte, in den einschlägigen Veröffentlichungen und auf Tagungen gemeinsam hervorzutreten.

Mitte der 1950er Jahre begannen dann einige führende CDU-Politiker, die überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich dem protestantischen Flügel der Partei angehörten, den Elitebegriff in einer völlig neuen Bedeutung öffentlichkeitswirksam zu verwenden, nämlich zur Bezeichnung von Parlamentsabgeordneten. Bundesinnenminister Gerhard Schröder, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, Kurt Georg Kiesinger (Ministerpräsident von Baden-Württemberg) sowie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Franz Meyers betrieben mit dieser semantischen Strategie den Versuch einer symbolischen Aufwertung der politischen Funktionsträger einer repräsentativen Demokratie, die spätestens seit der Bismarckzeit im Ruch ineffizienter Vertreter von Partikularinteressen gestanden hatten, deren Streit jederzeit die Einheit der Nation bedrohte. Denn angesichts der damals vorherrschenden Bedeutung des Elitebegriffs als Bezeichnung für moralisch und charakterlich vorbildliche Menschen (gemeint waren in der Regel aber meistens nur Männer) stellte seine Verwendung für Parteipolitiker nahezu zwangsläufig eine symbolische Aufwertung dar.

In die gleiche Richtung zielten seit den frühen 1950er Jahren auch Erörterungen aus dem sozialdemokratischen Umfeld, die indes stärker wissenschaftlich verwurzelt waren. Allerdings besaßen diese Anstrengungen gleich eine doppelte Stoßrichtung, denn neben der symbolischen Aufwertung aller Akteure, die an den Verfahren der demokratischen Willensbildung beteiligt waren (gemeint waren im Wesentlichen Politiker und Journalisten) zielten sie auch auf die Entwicklung eines kohärenten Elitekonzepts. Erst seit diesen sicherlich nicht koordinierten, aber gleichwohl kollektiv wirksamen Anstrengungen konnte in Deutschland von einer "politischen Elite" die Rede sein; eine Redeweise, die die Politikwissenschaft dann um 1970 förmlich ratifizierte. Die Tatsache, dass gerade die Politikwissenschaft während der 1990er Jahre vom Terminus der "politischen Elite" zu demjenigen der "politischen Klasse" überging, verweist auf den Versuch, jene symbolische Aufwertung wieder rückgängig zu machen. Denn der Begriff der "politischen Klasse" war (und ist) in der politischen Sprache der Bundesrepublik nun einmal wie geschaffen dafür, Parteipolitiker ("Berufspolitiker") als von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung abgeschottete Gruppe oder gar Clique zu denunzieren und gleichzeitig alle anderen Akteure, die im und vom politischen Feld leben (Journalisten, Medienunternehmer, Politologen, Demoskopen und Weitere) semantisch als Unbeteiligte, wenn nicht sogar als kritisches Korrektiv zu überhöhen.

In den 1960er Jahren erfolgte jedoch zunächst einmal eine grundlegende Verwissenschaftlichung des Elitebegriffs und zwar hauptsächlich durch die akademische Soziologie, die nach einigem Zögern begann, der außeruniversitären Öffentlichkeit die Deutungshoheit über den Terminus streitig zu machen. Nun erst wandelte sich – im wissenschaftlichen Feld schnell, in der politischen Sprache langsam – das vorherrschende Verständnis von "Elite" als einem Wert- und Charaktermodell hin zu Konzepten einer Funktions- und Leistungselite, deren Aufgabe es sei, unverzichtbare Führungs- und Koordinationsleistungen für soziale Systeme (von einzelnen Institutionen oder Gruppen bis hin zu nationalstaatlich verfassten Gesellschaften) zu erbringen. Gleichzeitig erbrachte die empirische Sozialforschung nun erstmalig den "Beweis" für die (oft angezweifelte) tatsächliche Existenz einer Elite. Und auch die Rezeption der Werke von Mosca und Pareto setzte erst zu dieser Zeit in Deutschland ein; ebenso kam es zum ersten Mal zu einem nennenswerten Ideenimport aus dem Ausland, vor allem aus den Vereinigten Staaten und aus Großbritannien.

Elitebegriff seit den 1980er Jahren

Gegen Ende der 1960er Jahre jedoch verlor der Elitebegriff vorübergehend an politischer Relevanz. Bestimmend war zunächst die politische Sprache der Studentenbewegung, die Front machte gegen das "Establishment" und die "Bourgeoisie". Nachdem jedoch vorübergehende Zweifel an den demokratischen Grundüberzeugungen vor allem der deutschen (Wirtschafts-)Elite zerstreut werden konnten, verlor der Problemzusammenhang von "Elite" und "Demokratie" bis zur Gegenwart an Relevanz. Offensichtlich waren die demokratischen Institutionen in der Bundesrepublik mittlerweile gefestigt genug, um derartige Polemiken als ortlos im schlechten Sinne erscheinen zu lassen. Seit dieser Zeit steht vielmehr das Verhältnis zwischen Eliten und sozialer Ungleichheit im Vordergrund der Diskussionen.

Die Rückkehr des Elitebegriffs in die politische Sprache der Bundesrepublik erfolgte auf dem Feld der Bildungspolitik, wo in den frühen 1980er Jahren unter dem Stichwort der "Elitebildung an Universitäten" ein Elitebegriff entworfen und durchgesetzt wurde, in dem die zu fördernde "Leistung" als Folge "natürlicher Begabungen" betrachtet wurde, was angesichts der sattsam bekannten sozialen Segregationswirkung des Bildungssystems auf eine Naturalisierung sozialer Unterschiede hinauslief; erst recht, weil als Indikatoren jener "Leistung" die erst im zukünftigen Berufsleben zu erbringenden Erfolge (vor allem ökonomisch relevante Innovationsleistungen) angesehen wurden. Diese Koppelung des Elitebegriffs an ökonomisch relevante Erfolge, deren unmittelbare Bedeutung für das Bestehen des gesamten ökonomisch-sozialen Systems der Bundesrepublik vollkommen außer Frage gestellt wurde, zeitigte ein enormes Legitimationspotenzial für die Spitzenunternehmer der "Wirtschaftselite" und deren seit den späten 1990er Jahren exorbitant steigende Einkommen. Die Kritik an dieser Unterstellung – von der Entzauberung des "Mythos von den Leistungseliten" bis zu den Kampagnen gegen "Nieten in Nadelstreifen" und "planlose Eliten" – blieb demgegenüber folgenlos. Bemerkenswert ist dagegen, dass bis in eben diese ausgehenden 1990er Jahre das Moment der individuellen Leistungsauslese unter Konkurrenzbedingungen als zentrales Kriterium der Elitezugehörigkeit kaum eine Rolle spielte. Selbst innerhalb der "Wirtschaftselite" war man sich nämlich der ausschlaggebenden Bedeutung von sozialer Herkunft und sozialem Kapital für die eigene Karriere bewusst. Dem Privilegierungs- und Steuerungsanspruch der ökonomischen Eliten scheint dies jedoch keinen Abbruch getan zu haben. Ganz offensichtlich hat sich die symbolische Angreifbarkeit oder "Vulnerabilität" der Wirtschaftselite enorm verringert, weil deren "Leistung" für das ökonomische System Deutschlands als unersetzlich und wichtiger als diejenige anderer Gruppen vorausgesetzt wird. Deutlich wurde dies vor allem in der Orientierung deutscher Unternehmer hin zum "Finanzmarktkapitalismus" in der Zeit bis zur Weltfinanzkrise. Weder die damit verbundenen Arbeitsplatz- und Einkommensverluste breiter Bevölkerungsgruppen noch die spiegelbildlich ansteigenden Managereinkommen konnten wirkungsvoll begrenzt werden. Als Reaktion auf diese gewandelte Konstellation verlagerten sich die Auseinandersetzungen über die deutschen Eliten auf die Frage, ob diese ihrer Verantwortung für das Gedeihen der Gesellschaft auch gerecht würden. Inwieweit die Enttäuschung nicht nur, aber vor allem über die Finanzindustrie seit etwa 2007/2008 zu einem Umdenken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Politik und Wirtschaftselite führt, bleibt abzuwarten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Gaetano Mosca, Elementi di Scienza Politica, Turin 1923; Vilfredo Pareto, Trattato di sociologia generale, Florenz 1916.

  2. Vgl. den diesbezüglich ausführlichen Artikel in Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 6, Leipzig 18753, S. 47; allgemein Brockhaus Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig 1908, S. 964 f; Der große Brockhaus, Bd. 5, Leipzig 193015, S. 459; Meyers Lexikon, Bd. 3, Leipzig 19257, Sp. 1557; Der große Herder, Bd. 4, Freiburg/Br. 19324, S. 127f.

  3. Vgl. Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2004, S. 144–219, und die dort angegebene Literatur.

  4. Vgl. Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004.

  5. Claudia Kemper, Das "Gewissen" 1919–1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011, S. 301–305.

  6. Vgl. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Graz 19995, S. 138f.

  7. Markus Funck/Stephan Malinowski, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie, 7 (1999), S. 236–270, hier: S. 255.

  8. Edgar Julius Jung, Adel oder Elite?, in: Europäische Revue, 9 (1933), S. 533ff., hier: S. 535, Hervorhebung M.R.

  9. Ders., Die Herrschaft der Minderwertigen, Berlin 1930, S. 332.

  10. Hans Zehrer, Rechts oder Links? Die Verwirrung die Begriffe, in: Die Tat. Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 23 (1931) 7, S. 505–559, hier: S. 556; vgl. auch ders., Die eigentliche Aufgabe, in: ebd., 24 (1932) 10, S. 777–800; ders., Die dritte Front, in: ebd., 24 (1932) 5, S. 97–120.

  11. Vgl. S. Malinowski (Anm. 3).

  12. Zit. nach: Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980, S. 27.

  13. Siehe Klaus Schreiner, "Wann kommt der Retter Deutschlands?" Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum, 49 (1998), S. 107–160.

  14. Vgl. Robert Gerwarth, Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler, München 2007; Lothar Machtan (Hrsg.), Bismarck und der deutsche Nationalmythos, Bremen 1994.

  15. Vgl. Axel Schildt, Radikale Antworten von rechts auf die Kulturkrise der Jahrhundertwende. Zur Herausbildung und Entwicklung der Ideologie einer "Neuen Rechten" in der Wilhelminischen Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 4 (1995), S. 63–87.

  16. Gunther Mai, Europa 1918–1939, Stuttgart 2001, S. 40.

  17. Art. Führergrundsatz, in: Volks-Brockhaus. Deutsches Sach- und Sprachwörterbuch für Schule und Haus, Leipzig 19409, S. 223.

  18. Zur Diskussion vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat, Reinbek 1994, S. 39–79, S. 112-147; ders., Hitler, Bd. 1, München 2002, S. 663–744.

  19. Vgl. Herbert F. Ziegler, Nazi Germany’s New Aristocracy 1925–1939, Princeton 1989.

  20. Vgl. allgemein Isabell Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, Göttingen 2003, S. 50–125, hier: S. 50f.

  21. Art. Auslese, in: Volks-Brockhaus (Anm. 17), S. 37f.

  22. Vgl. hierzu und für die folgenden Ausführungen Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009.

  23. Vgl. Erwin Rack, Das Problem der Elite, Hamburg 1950; Ranke-Gesellschaft (Hrsg.), Führungsschicht und Eliteproblem. Konferenz der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben, Frankfurt/M. 1957.

  24. Vgl. Heinz Zahrnt, Probleme der Elitebildung. Von der Bedrohung und Bewahrung des Einzelnen in der Massenwelt, Hamburg 1955.

  25. Siehe beispielsweise Axel Seeberg, Das Eliteproblem heute, in: Ranke-Gesellschaft (Anm. 23), S. 9–16.

  26. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Franz Meyers war katholischer Konfession.

  27. Vgl. Gerhard Schröder, Elitebildung und soziale Verpflichtung, Bonn 1955; Eugen Gerstenmaier, Sinn und Schicksal der Elite in der Gemeinschaft (1958), in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 2, Stuttgart 1962, S. 119–136; Kurt Georg Kiesinger, Das Problem der Eliten im Ringen um die Freiheit. Vortrag vor der Poensgen-Stiftung am 17.11.1960, Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP); Franz Meyers, Elitebildung in der freiheitlichen Demokratie als gesellschafts- und staatspolitische Aufgabe, Essen 1961.

  28. Vgl. Otto Stammer, Das Elitenproblem in der Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch, 71 (1951) 5, S. 1–28; ders., Demokratie und Elitenbildung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 4 (1953), S. 294–297; ders., Politische Soziologie, in: Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hrsg.), Soziologie. Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf 1955, S. 277–333; ders., Elite und Elitenbildung, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19692, S. 217–220.

  29. Exemplarisch Klaus von Beyme, Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland, München 1971.

  30. Ders., Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt/M. 1993.

  31. Vgl. Urs Jaeggi, Die gesellschaftliche Elite. Eine Studie zum Problem der sozialen Macht, Bern 1960; Hans Peter Dreitzel, Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse, Stuttgart 1962; Wolfgang Schluchter, Der Elitebegriff als soziologische Kategorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 15 (1963), S. 233–256; Wolfgang Zapf, Wandlungen der demokratischen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919–1961, München 1965.

  32. Als Überblick empfiehlt sich Günter Endruweit, Elitebegriffe in den Sozialwissenschaften, in: Zeitschrift für Politik, NF 26 (1979), S. 30–46.

  33. Vgl. Morten Reitmayer, Comeback der Elite. Die Rückkehr eines politisch-gesellschaftlichen Ordnungsbegriffs, in: Archiv für Sozialgeschichte, 52 (2012), S. 433–458.

  34. Vgl. etwa Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; Oskar Negt, Gesellschaftsbild und Geschichtsbewusstsein der wirtschaftlichen und militärischen Führungsschichten. Zur Ideologie der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer/Carl Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1969, S. 359–424.

  35. Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/M. 2002.

  36. Günter Ogger, Nieten in Nadelstreifen. Deutschlands Manager im Zwielicht, München 1992.

  37. Peter Glotz et al. (Hrsg.), Die planlosen Eliten. Versäumen wir Deutschlands Zukunft?, München 1992.

  38. Vgl. Morten Reitmayer, Fallstudien zum Aufstieg und den Grenzen des Marktes in der Bundesrepublik während der 1970er und 80er Jahre. Eine Skizze, in: Ralph Jessen (Hrsg.), Konkurrenz in der Geschichte, Frankfurt/M. 2014 (i.E.).

  39. So lassen sich jedenfalls neuere Überblicksbände zusammenfassen; vgl. Stefan Hradil/Peter Imbusch (Hrsg.), Oberschichten – Eliten – Herrschende Klassen, Opladen 2003; Ronald Hitzler et al. (Hrsg.), Elitenmacht, Wiesbaden 2004; Herfried Münkler et al. (Hrsg.), Deutschlands Eliten im Wandel, Frankfurt/M. 2006.

  40. Vgl. Peter Imbusch/Dieter Rucht (Hrsg.), Profit oder Gemeinwohl?, Wiesbaden 2007; Michael Hartmann, Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?, Frankfurt/M. 2013.

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PD Dr. phil., geb. 1963; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Trier, 54286 Trier. E-Mail Link: reit3301@uni-trier.de