Bei dem Wort "Barriere" denken wir meist sofort an ein sichtbares Hindernis. Viel subtiler sind jedoch unsichtbare Hindernisse, zum Beispiel sprachliche Barrieren. So wie jede Treppe für das Fortbewegen mit Krücken oder Rollstuhl eine Herausforderung darstellt, so sind viele Texte für Menschen mit geringen Lesekompetenzen ein ernsthaftes Hindernis. Schrift, so hätte es der französische Soziologe Pierre Bourdieu ausgedrückt, ist eben nicht nur ein Zeichensystem und ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Instrument sozialen Handelns – ein Mittel der Herrschaft.
Mit dem Konzept der Leichten Sprache werden Texte so vereinfacht, dass auch Menschen mit einer geringeren Lesekompetenz sie lesen können. Das Konzept leistet daher einen wertvollen Beitrag zur Verminderung sprachlicher Teilhabebarrieren – und damit zur gesellschaftlichen Inklusion. Dies ist sicher hilfreich und notwendig, aber nicht hinreichend. Denn geringe Lesekompetenzen sind ein gesellschaftliches Problem. Ein großer Teil der Bevölkerung versteht Texte nur auf sehr basalem Niveau. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Hintergründen dieses Phänomens. Wie viele Menschen bezeichnen wir als gering literalisiert? Wie kommt es dazu? Und wie sehen die Lebensweltbedingungen der betroffenen Menschen aus?
Definition und Größenordnung
Um das Problem der geringen Literalität zu fassen, sei ein kurzer Ausflug in die jüngere Historie vorangestellt. Erstmals diskutiert wurde das Phänomen der nicht ausreichenden Schriftkompetenzen in Deutschland in den 1970er Jahren. Vor allem die Volkshochschulen machten darauf aufmerksam, dass in der Mitte unserer Gesellschaft Menschen leben, deren schriftliche Kompetenzen nicht ausreichen, um an relevanten gesellschaftlichen Prozessen in voller Breite partizipieren zu können. Diese Menschen besäßen durchaus Kenntnisse der Schrift, sie seien keine An-Alphabeten im wörtlichen Sinne. Wohl aber seien ihre schriftlichen Kompetenzen derart niedrig, dass sie die Funktion von Schrift nur sehr eingeschränkt nutzen können. In unserer ausgeprägt literal organisierten Gesellschaft könnten die Betroffenen die vorhandenen Schriftkompetenzen in ihren persönlichen Lebenswelten somit nicht funktional einsetzen. Dies drückte sich aus in dem Begriff des funktionalen Analphabetismus.
Das Phänomen war in den 1970er Jahren sicherlich nicht neu, es wurde aber erst zu dieser Zeit virulent. Mit der Einführung neuer Technologien entfielen zahlreiche Arbeitsplätze im primären Sektor (wie etwa in der Land- und Forstwirtschaft) – oder sie veränderten sich so, dass Lese- und Schreibkompetenzen unabdingbar wurden. Dennoch überraschten die Berichte, ging man doch davon aus, dass seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der damit verbundenen Alphabetisierung der breiten Bevölkerung alle Menschen schreiben können.
Entsprechend wurden die ersten Berichte von politischer Seite zunächst negiert, später als Einzelfälle betrachtet und auf individuelle Schwächen zurückgeführt. Erst allmählich setzte sich die politische und gesellschaftliche Erkenntnis durch, dass ein bestimmter Anteil von Schülerinnen und Schülern das deutsche Schulsystem verlässt, ohne hinreichend lesen und schreiben gelernt zu haben. Dass Illiteralität ein drängendes gesellschaftliches Problem ist, das struktureller Lösungen bedarf, dringt jedoch erst seit wenigen Jahren und nur allmählich in das Bewusstsein von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Ähnlich der PISA-Studie wurden in PIAAC 2012 (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Grundkompetenzen ermittelt, in diesem Fall von Erwachsenen.
Wie groß der Anteil der Menschen ist, deren vorhandene Kompetenzen niedriger sind, als die von der Gesellschaft erwarteten, ist nicht leicht zu bestimmen. Denn Literalität ist relational. Die Anforderungen an Schriftsprachlichkeit sind historisch und kulturell variabel. Sie haben sich in den vergangenen Jahren insbesondere durch die Verbreitung digital verarbeiteter Schrift deutlich erhöht. Der gesellschaftliche Wandel kann somit als ein Bedingungsfaktor des funktionalen Analphabetismus beschrieben werden.
Bezüglich der Größenordnung legten die Bildungsstudien der vergangenen Jahre erstmals belastbare Daten vor. Die Level-One-Studie der Universität Hamburg offenbarte, dass etwa 4,4 Prozent der Bevölkerung maximal Wörter, aber keine Sätze lesen können (Alpha-Level 1+2, vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version).
Der Anteil der Männer an der Gesamtgruppe ist leicht größer als der der Frauen. Überraschend ist die Erkenntnis, dass das Niveau der Literalität mit dem Alter abnimmt. Die jüngeren Jahrgänge (18 bis 29 Jahre) verfügen tendenziell über leicht größere schriftliche Kompetenzen als die älteren. Ein Befund, der sich mit der PIAAC-Studie deckt, aber im Widerspruch zur derzeit oft vorgebrachten Klage über abnehmende Lese- und Rechtschreibkompetenzen jüngerer Menschen steht.
Übrigens besitzen weitere 25,9 Prozent (13,3 Millionen) größere Probleme beim Lesen und Rechtschreiben (Alpha-Level 4). Sie gelten zwar nicht als funktionale Analphabeten, doch verschriften sie auch einen geläufigen Wortschatz (Grundschulniveau) sehr fehlerhaft. Auch sie profitieren von den Konzepten der Leichten Sprache. Addiert man die zuletzt genannte Gruppe hinzu, stellt Leichte Sprache für über 40 Prozent (über 20 Millionen Menschen) der gesamten erwachsenen Bevölkerung eine angemessene Form der Schriftlichkeit dar. Geringe Schriftkompetenzen sind mithin kein Randphänomen, sondern ein bedeutendes gesellschaftliches Thema.
Dabei scheint geringe Literalität sozial "vererbt" zu werden. Nicht nur der eigene Schulabschluss, sondern auch der Schulabschluss der Eltern ist gemäß der Level-One-Studie ein relevanter Prädiktor für Illiteralität. Während in der Bevölkerung insgesamt nur drei Prozent der Personen in Elternhäusern aufgewachsen ist, in denen weder Mutter noch Vater einen Schulabschluss haben, liegt dieser Anteil unter Illiteralen mit zwölf Prozent viermal so hoch.
Wer nun glaubt, dass es sich bei den 14,5 Prozent der sehr gering literalisierten Personen aus der Level-One-Studie vornehmlich um Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte handelt, der irrt. Zwar ist der Anteil der mehrsprachigen Menschen im Vergleich zur Verteilung in der Gesamtbevölkerung überproportional, doch für die Mehrheit der Betroffenen (58 Prozent) ist Deutsch die Muttersprache. Zudem wurden in die Stichprobe der Studie nur Personen aufgenommen, welche die deutsche Sprache mündlich soweit beherrschten, dass sie einer Befragung und einem Test folgen können. Rechnete man Zugewanderte ohne ausreichende Sprachkenntnisse des Deutschen hinzu, dürften noch etliche Personen der Zahl von 7,5 Millionen hinzugefügt werden.
Derart geringe Lese- und Schreibkompetenzen sind gesellschaftlich aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen bedeutet dieses Ausmaß an geringer Grundbildung einen ökonomischen Nachteil. Wie groß der volkswirtschaftliche Schaden ist, der durch zu geringe Lese- und Schreibkompetenzen entsteht, wurde in Deutschland noch nicht explizit untersucht. Entsprechende Studien in vergleichbaren Industrienationen lassen darauf schließen, dass eine Zahl von mehreren Milliarden Euro pro Jahr durchaus realistisch ist.
Regeln der Leichten Sprache
Leichte Sprache folgt dem Prinzip der maximalen sprachlichen Einfachheit. Mittlerweile existieren mehrere Veröffentlichungen, die entsprechende sprachliche Regeln spezifizieren. Die wichtigsten Regeln werden nachfolgend skizziert.
Lexik:
leicht verständliche, anschauliche, vertraute oder einfache Wörter
Abstrakta möglichst umgehen
Fach- und Fremdwörter, Abkürzungen sowie Redewendungen und Metaphern vermeiden
Morphologie:
kurze Wörter benutzen
Komposita mit Bindestrichen trennen
Syntax und Morphosyntax:
kurze, einfache Hauptsätze mit jeweils nur einer Aussage
Perfekt statt Präteritum
kein Konjunktiv, kein Genitiv, kein Passiv, keine Nominalisierungen
bei Pronomen auf eindeutige Referentialität achten
Nicht alle Regeln können gleichzeitig berücksichtigt werden. In der Praxis gilt es meist abzuwägen, welchem Prinzip der Vortritt zu gewähren ist. Auch sind einige Regeln durchaus umstritten. So ist die Aneinanderreihung kurzer Sätze unverständlich, wenn keine Kohärenz zwischen den Sätzen hergestellt wird. In Ergänzung der genannten linguistischen Aspekte ist zudem auf eine lesefreundliche Darbietung des Textes zu achten (wie große, klare Schrift, möglichst jeder Satz in einer neuen Zeile, bei längeren Texten Zwischenüberschriften einfügen).
Neben der Leichten Sprache existieren verwandte Konzepte. Die Einfache oder die Verständliche Sprache, wie sie in der Bürger-Verwaltung-Kommunikation angestrebt wird, ist nicht maximal vereinfacht. Diese Konzepte richten sich an den Großteil der Bevölkerung und versuchen, das "Behördendeutsch" verständlicher zu machen. Leichte Sprache hingegen spricht vor allem diejenigen an, die besondere Probleme bei der Verarbeitung der geschriebenen Sprache haben.
Literaturhinweis:
Vgl. für eine detaillierte Darstellung der Regeln: Julia Kuhlmann, Zum Konzept der Leichten Sprache. Erkenntnisse aus der Verständlichkeitsforschung. In: Alfa-Forum, (2013) 8, S. 11-15.
Niedrige Schriftsprachkompetenz korreliert dabei statistisch signifikant mit dem häufigeren Auftreten diverser Krankheiten und ungesundem Lebensstil. Nach der OECD ergibt sich folgende Korrelation: Ein Land, das bei der Lesekompetenz Erwachsener ein Prozent über dem Durchschnitt liegt, übertrifft andere Länder bei der Arbeitsproduktivität um 2,5 Prozent und beim Brutto-Inlandsprodukt um 1,5 Prozent. Während von politischer Seite bisher meist argumentiert wird, dass für Maßnahmen im Sozial- und Bildungssektor die finanziellen Ressourcen fehlen, stellt sich aus diesem Blickwinkel eher die Frage, wie lange wir uns den aktuellen Zustand ökonomisch noch leisten können.
Des Weiteren ist geringe Grundbildung im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer Demokratie kritisch zu sehen. So ist beispielsweise belegt, dass Menschen mit geringer Grundbildung sich weniger für politische Zusammenhänge interessieren und sich deutlich weniger ehrenamtlich oder in Vereinen engagieren.
Bedingungsgefüge und Lebenswelt
Mit der PIAAC- und insbesondere der Level-One-Studie liegt erstmals eine solide empirische Basis für die bildungspolitische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Illiteralität vor. Die Daten zur Größenordnung erklären jedoch nicht die Ursachen des Phänomens. Kausale Gründe existieren nicht. Individuelle, familiäre, schulisch-unterrichtliche und auch gesellschaftliche Faktoren wirken in einem komplexen Bedingungsgefüge ineinander. Die empirische Bildungsforschung beschreibt die Ausbildung der Lese- und Schreibfähigkeit als sich bedingende Kombination des sozialen und kulturellen Kapitals mit kognitiven und emotional-motivationalen Merkmalen der Einzelnen sowie schulischen und unterrichtlichen Merkmalen.
Ausgangspunkt von Problemen beim Erwerb der Schriftsprache ist meist ein Aufwachsen in sozioökonomischer Unsicherheit innerhalb eines familiären Rahmens, der sich durch ein geringes Maß sozialen und kulturellen Kapitals auszeichnet. Das Elternhaus ist häufig bildungsfern und wenig literal. Doch frühe Erfahrungen mit Sprache und Schrift in der Familie gelten für den weiteren Schulerfolg als besonders bedeutsam. Die skizzierten Bedingungen verknüpfen sich häufig mit Problemen in der Schule, die schon zu Beginn der Schulzeit auftreten. Die geringen literalen Erfahrungen führen zu gering ausgeprägten Teilleistungen sowie einer nur mäßig ausgeprägten Einsicht in Funktion und Gebrauchswert der Schrift. Entsprechend ist die Motivation, sich dem Prozess des Lesen- und Schreibenlernens zu stellen, nur wenig ausgebildet.
Schulische Angebote, die nicht ausreichend auf diese Risikolage eingehen, verstärken dies. Mit den ersten Schulschwierigkeiten stellen sich begleitend häufig ein negatives Selbstbild und ein geringes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten ein. Dies wiederum lässt Lernerfolge immer unwahrscheinlicher werden. Gelingt jedoch der Einstieg in den Schriftspracherwerb nicht in den ersten Jahren der Grundschule, sieht das Schulsystem in den höheren Klassen keine weiteren Möglichkeiten vor, die Grundlagen der Schrift zu erwerben.
Und wenn schließlich nach Beendigung der Schulzeit im Lebens- und Arbeitsumfeld keine Lernumgebungen vorhanden sind, die ein lebenslanges Lernen unterstützen, gehen selbst bereits erworbene Fähigkeiten häufig wieder verloren. Aufgrund der unsicheren Schriftsprachbeherrschung werden schließlich schriftsprachliche Anforderungssituationen vermieden, wodurch wiederum eine Weiterentwicklung der Kompetenzen durch ihren Gebrauch verhindert wird. Die Angst vor Stigmatisierung und das fehlende Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wirken dabei wie ein Monitoring, das den skizzierten Prozess stützt und aufrechterhält.
Dieser prototypische Verlauf wurde in Studien mit Lernenden in Alphabetisierungskursen gewonnen.
Grundsätzlich kann die Entwicklung von Defiziten in der Lese- und Schreibkompetenz als kontextuell situiert in vielschichtige, benachteiligte Lebenslagen beschrieben werden. Einzelne individuelle, familiäre oder schulische Risikobedingungen lassen sich meist recht gut ausgleichen. Existieren jedoch risikohafte Bedingungen in mehreren Bereichen, ist ein solcher Ausgleich nicht mehr ohne Weiteres möglich. Illiteralität eines Menschen ist letztlich ein logisches Produkt seiner Entwicklung unter den für ihn gegebenen Ausgangs- und Randbedingungen und unter Berücksichtigung der individuell ausgedeuteten Handlungsoptionen.
Da der Lese- und Schreibfähigkeit in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung zukommt, fürchten die betroffenen Menschen die soziale Stigmatisierung. Diese Furcht führt zur Vermeidung von Situationen, in denen schriftsprachliches Handeln nötig wird. Häufig werden dabei Strategien wie Täuschung (wie Brille vergessen, Arm gebrochen, Finger verstaucht) und Delegation ("Mach du das mal") genutzt. Meist gibt es ausgewählte Mitwisser, die den Betroffenen zur Seite stehen. Erst wenn durch kritische Ereignisse im Lebenslauf der Handlungsdruck enorm groß geworden ist, wird eine Neuaufnahme des Lernprozesses angestrebt. Meist geschieht dies in einem gewissen zeitlichen Abstand zur Schulzeit, etwa im Alter von 30 Jahren.
Insgesamt jedoch ist die Quote der Lernenden in institutionellen Kurszusammenhängen extrem gering. Von der ermittelten Grundgesamtheit der 7,5 Millionen Menschen besuchen – je nach Zählweise – 10.500 bis 20.000 Menschen einen Alphabetisierungskurs.
Trotz der vorhandenen Lese- und Schreibprobleme gelingt mehr als der Hälfte der Betroffenen die Teilhabe am Arbeitsleben, wobei diese Teilhabequote mit einem steigenden Alpha-Level korreliert. Eine solche Teilhabe gelingt den Menschen, weil die literalen Anforderungen an einem Arbeitsplatz sehr berufsspezifisch sind. Sie unterscheiden sich je nach Branche und konkreter Tätigkeit und lassen sich nicht mit allgemeinen Literalitätsstandards vergleichen. Die Betroffenen kommen mit den spezifischen Anforderungen zurecht. Allerdings treten nur die wenigsten in stabile Erwerbskarrieren ein.
Herausforderungen
Aus Sicht der Ungleichheitsforschung ist die noch immer existente Individualisierung struktureller Problematiken der Chancenverteilung wenig zielführend und in der Sache kontraproduktiv. Die Forschung zu geringer Literalität unter Erwachsenen brachte ein vielschichtiges Gefüge hervor, bestehend aus individuellen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren. Demzufolge kann eine Reaktion auf dieses Phänomen nur im Zusammenspiel unterschiedlicher Zuständigkeitsbereiche (bildungs-, sozial-, kultur-, arbeitsmarkt- und familienpolitisch) erfolgreich sein. Einige ausgewählte Aspekte sollen abschließend skizziert werden.
Das Bundesministerium für Bildung, Forschung und Wissenschaft hat der Forschung zum funktionalen Analphabetismus durch die Umsetzung von zwei Förderprogrammen wesentliche Impulse verliehen.
Das derzeitige Angebot an Alphabetisierungskursen muss flächendeckend ausgebaut und in eine Kultur des lebenslangen Lernens integriert werden. Dabei müssen strukturelle Veränderungen das Berufsbild des Alphabetisierungspädagogen oder der Alphabetisierungspädagogin etablieren. Denn die derzeit verbreiteten Honorarverhältnisse erscheinen in diesem sensiblen und gesellschaftlich bedeutsamen Handlungsfeld unzumutbar. Entsprechend werden die in den vergangenen Jahren geschaffenen Qualifikationsmöglichkeiten nicht greifen, solange die Beschäftigungssituation der Pädagoginnen und Pädagogen prekär bleibt.
Allerdings wird der Erwerb der Schrift im Erwachsenenalter nur eine Ausnahme bleiben, das zeigen schon die geringen Teilnahmezahlen. Die Vermittlung der Schrift bleibt die Aufgabe der Institution Schule. Wenn der Schule dies bisher nicht in zureichendem Maße gelingt, ist es – nicht zuletzt aus gesellschaftlichem und volksökonomischem Interesse – dringend ratsam, die entsprechenden Anstrengungen zu verstärken. Kinder mit Problemen beim Lesen- und Schreibenlernen profitieren nachweislich von strukturierten Förderangeboten, die förderdiagnostisch basiert individualisiert vorgehen. Hierfür sind personelle Ressourcen bereit- und das fachliche wie das fachdidaktische Wissen der Lehrkräfte sicherzustellen. Zudem weiß die Resilienzforschung um die Bedeutung der persönlichen Ebene: Kinder mit Lernschwierigkeiten benötigen eine Lehrperson, der sie Vertrauen entgegenbringen können und die ihnen Sicherheit geben kann.
Die Schule kann Schrift jedoch kaum gegen die Alltagswelt der Kinder durchsetzen. Es gilt daher, den Kindern bereits im Elementarbereich reichhaltige Erfahrungen mit Sprache und Schrift zu ermöglichen. Von diesen Möglichkeiten profitieren insbesondere die Kinder, die im Rahmen ihrer familialen Lesesozialisation eher ungünstigen Bedingungen ausgesetzt sind. Daneben kommt der Elternbeteiligung eine große Rolle zu. Die Familie wird als Schlüssel der schriftkulturellen Sozialisation gesehen. Eine familien- und sozialraumorientierte Grundbildung kann sowohl intervenierend wie auch präventiv wirken.
Überhaupt ist bei der Begründung entsprechender Lernangebote immer auch an systemische Effekte zu denken. Alphabetisierung von Eltern ist immer auch potenzielle Prävention von Illiteralität. Verändern sich durch das Erlernen der Schrift auch die literalen Kompetenzen und Gewohnheiten der Betroffenen, wachsen deren Kinder in einem veränderten Umfeld auf. Oder, in Anlehnung an die Worte der Botschafterin für Alphabetisierung Marion Döbert: Literalisierte Individuen schaffen literalisierte Familien, die wiederum einen Beitrag leisten zu literalisierten Kommunen und letztlich zu einer literalisierten Nation.
Vielfach aber, dies soll zum Abschluss betont werden, sind es vor allem arbeitsmarkt- und sozialpolitische Herausforderungen, die zu bewältigen sind. Zwar wird gelegentlich argumentiert, dass ein höherer Literalitätsgrad vor Armut schützen würde. Doch diese Argumentationsfigur greift zu kurz: Ein im Erwachsenenalter vollzogener Lese- und Schreiberwerb beseitigt nicht ohne Weiteres die sozioökonomische Unsicherheit, welche die Lebenswelt prägt. Armut ist der Nährboden für Bildungsbenachteiligung. Wenn der Illiteralität der Nährboden entzogen werden soll, dann muss das Hauptaugenmerk der Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit innerhalb unserer Gesellschaft gelten.