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Radikalisierung – Eine soziologische Perspektive

Roland Eckert

/ 15 Minuten zu lesen

Gefährlich ist der Mensch als Spezies, nicht obwohl, sondern gerade weil er ein soziales Wesen ist. Menschen definieren sich auch über die Zugehörigkeit zu Gruppen, überschreiten in allen Gesellschaften und Kulturen ihre individuelle Existenz in Richtung auf Gemeinschaften und beziehen sich auf deren Herkunft und Zukunft. Nicht nur unmittelbar erfahrene, sondern auch vorgestellte Gemeinschaften, imagined communities, können Lebenssinn vorhalten. Diese definieren sich über Abstammung und Sprache, über Nachbarschaft und Territorien, über Glaubensbekenntnisse und Klassenlagen. Zugehörigkeiten legen generell besondere Fürsorgepflichten nahe, so wie sie den Eltern und Kindern geschuldet oder den Freunden und Nachbarn zuerkannt werden. Menschen fühlen sich aber auch immer wieder verpflichtet, für ihre Gemeinschaften zu leben und notfalls auch zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Daher können Nicht-Zugehörige mit Diskriminierung, Vertreibung und Tötung bedroht werden. Ob es soweit kommt, ist eine Frage der Konflikteskalation und der Radikalisierung auf einer oder mehreren Seiten: "Functionally, political radicalization is increased preparation for and commitment to intergroup conflict. Descriptively, radicalization means change in beliefs, feelings, and behaviors in directions that increasingly justify intergroup violence and demand sacrifice in defense of the group."

Im Alltag haben wir als Person nicht nur eine, sondern mehrere Identitäten, die sich auf unsere Biografie und unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten beziehen. So gehören wir einer Familie an, einer Nachbarschaft, verschiedenen Vereinen, vielleicht einer Partei, einer Glaubensgemeinschaft oder Weltanschauung. Der gesellschaftliche Wandel in der Neuzeit hat dazu geführt, dass über die Nachbarschaft hinaus die Nation, das vereinigte Europa und nun auch die Menschheit als Ganze in den Blick geraten sind. Diese verschiedenen Zugehörigkeiten sind nicht konzentrisch ineinander gelagert. Unterschiedliche ethnische Herkünfte, Glaubensgemeinschaften und Lebensformen existieren mehr und mehr neben- und durcheinander. Seit den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts wurde immer wieder der Versuch unternommen, die Lebenswelt der Menschen einem einheitlichen religiösen oder nationalen Prinzip zu unterwerfen. Gerade diese Versuche haben über Flucht und Vertreibung insgesamt zu weiterer Vielfältigkeit geführt. Auch die Kolonialreiche haben ethnische und religiöse Identitäten durcheinander gebracht und Wanderungsbewegungen ausgelöst. Im Gegenzug artikulieren sich bis heute immer wieder Ideen, die eine neue Homogenität schaffen wollen. Einzelne Zugehörigkeiten, vor allem die ethnische oder die religiöse Gemeinschaft, aber auch die Nation oder die Klasse werden zu einem politischen Prinzip erhoben, das eine neue Einheit stiften soll.

Krieg, Frieden und Identität

Die Vielfalt der Zugehörigkeiten, die unser Leben bestimmen, ist nicht stabil, sondern antwortet auf äußere Herausforderungen. Im Kampf und im Krieg, in Sieg oder Niederlage wird sie häufig auf Freund-Feindbeziehungen reduziert. In den Balkankriegen der vergangenen Jahrzehnte zeigte sich, dass die Feindschaft zwischen den Menschen dem Krieg zumeist nicht vorausging, sondern in ihm selbst erzeugt wurde. Angst zwang die Menschen, sich der einen oder der anderen Seite zuzuordnen. Diese "Vereindeutigung" der Gruppenzugehörigkeit findet in Kampf und Krieg nahezu zwangsläufig statt. Sie kann aber auch gezielt von Ideologen und Hasspredigern hergestellt werden, um zum Kampf zu motivieren. Man sagt den Menschen dann, dass sie angegriffen würden, sich verteidigen müssten und dass es letztlich um Leben oder Tod ihrer Gemeinschaft gehe – beziehungsweise einer Religion, einer kulturellen Tradition oder eines Volkes. In Friedenszeiten kann sich die Vielfalt der Lebensformen und Zugehörigkeiten zumeist wieder ausdifferenzieren.

Religiöse und politische Glaubensvorstellungen, die sich mit der Vielfalt, Heterogenität und Widersprüchlichkeit einer modernen Gesellschaft nicht abfinden, können inhaltlich höchst unterschiedlich sein. Formal beruhen sie jedoch alle auf zwei identifizierbaren kognitiven Operationen: erstens der Vereindeutigung der gesellschaftlichen Zugehörigkeiten zu Gunsten einer einzelnen geglaubten Gemeinschaft und zweitens der Vorstellung des Kampfes, den diese für ihre Geltung oder für ihr Überleben zu führen habe. Diesen Prozessen können Menschen in Zeiten manifester Konflikte nur schwer ausweichen. Das Grundmuster radikaler Ideologien und verschworener Gemeinschaften ist obendrein dauerhaft attraktiv für Menschen, die in ihren fundamentalen sozialen Bindungen verletzt sind und glauben, sich durch dichte Freund-Feindbeziehungen und eindeutige Koordinaten von Gut und Böse heilen zu können.

Solch "identitäres" Denken ist gegenwärtig auf kleine Gruppen beschränkt. Es findet jedoch größere Resonanz, wenn die Lebensformen unterschiedlicher Gruppen unvereinbar erscheinen. Ungelöste oder unbearbeitete Einzelkonflikte bringen dann spektakuläre Ereignisse hervor, die wiederum den Bedrohungsglauben auf beiden Seiten verstärken. Auf diese Weise werden Irritationen, die weit verbreitet, aber nicht notwendig aggressiv sind, in ein Freund-Feindverhältnis überführt, das keinen Kompromiss mehr zulässt und zum Kampf motiviert. So kann eine institutionalisierte Paranoia entstehen: heute sind es zum Beispiel antiislamische "Pro"-Aktivisten und Salafisten, die sich wechselseitig in ihrem Selbst- und Feindbild bestätigen. Das kann weitreichende Handlungskonsequenzen haben. Manche Mitglieder solcher Gruppen fühlen sich verpflichtet, die "Feinde", die "Verräter" und notfalls sich selbst zu opfern: dem "Überleben" der Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen. Politische Gewalt kann dann für sie die höchste Stufe des Altruismus sein.

Nun führt nicht jede dichotome und polarisierte Weltanschauung zur Gewalt. Die meisten fundamentalistischen Bewegungen sind nicht gewalttätig und schließen sich lediglich möglichst eindeutig von der Außenwelt ab. Umgekehrt können aber Gewaltdrohung und Gewaltanwendung kleinster weltanschaulicher oder ethnischer Gruppen die Radikalisierung größerer Bevölkerungsteile vorantreiben – und haben dies zumeist zum Ziel. Wie von Rassisten oft gesagt wird: Gewalttaten sollen den Volks- oder Rassenkrieg auslösen. In den radikalisierten Gemeinschaften herrscht ein Wettbewerb um moralische Überlegenheit, der schließlich über Einsatzbereitschaft und Opfermut entschieden wird. Einzelne und kleine Gruppen beglaubigen ihre Radikalität durch Gewalttaten, mit denen sie – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – die Brücken hinter sich abbrechen.

Individuelle Prozesse der Radikalisierung – am Beispiel von Fremdenfeindlichkeit

Im Folgenden ist zu klären, wie aus der Scheu und der Furcht vor Fremden, die in unserem Alltag immer wieder auftreten (und durchaus Schutzfunktionen haben), Feindlichkeit werden kann. Dieser Prozess lässt sich in sechs Stufen aufgliedern, auf denen jeweils besondere Interventionschancen bestehen.

  1. Die Erfahrung von Fremdheit hat oftmals eine erste, vorideologische Basis. Bereits ungewohnte Kleidung oder Haarfarbe oder eine für Einheimische unverständliche Sprache, erzeugen ein "Befremden": die Routine der Erwartungen im Alltag und das aus ihr erwachsende Vertrauen, der common sense, werden gestört. Erst wenn persönliche Interaktion und Kooperation zwischen Menschen einander fremder Gruppen stattgefunden und zu positiven Lernprozessen geführt haben, sedimentiert sich neues Vertrauen. Für die Irritation durch wahrgenommene Fremdheit sind insbesondere Menschen anfällig, die bereits in der Kindheit verunsichert worden sind. Sie reagieren schneller ängstlich und abweisend als andere.


  2. Auf einer zweiten Stufe erzeugt schon das Bewusstsein der Zugehörigkeit ("Wir sind ein Volk!") auch immer Definitionen von Nicht-Zugehörigkeit anderer, um die man sich nicht in gleicher Weise kümmern muss. Die abgestufte Verantwortlichkeit und Solidarität, die so zum Ausdruck kommen, gehören zweifellos zu den Grundlagen allen menschlichen Zusammenlebens und können daher nicht insgesamt den illegitim beanspruchten Vorrechten von jeweils "Etablierten" zugeschlagen werden. Wir kümmern uns um Verwandte, Freunde und Nachbarn mehr als um Menschen, die wir nicht kennen. Dies ist nicht notwendig mit Ablehnung und Diskriminierung oder gar Hass und Gewalt verbunden. Es kann jedoch als Begründung für solche Haltungen ins Feld geführt werden.


  3. Feindlichkeit gegen Fremde im engeren Sinn entsteht zumeist auf einer dritten Stufe, wenn Fremdheitserlebnisse, die Vermutung von Konkurrenz oder gar Bedrohung psychisch nicht bewältigt werden. Darum sollten wir Situationen nicht übersehen, an denen sich Feindschaft kristallisieren kann: geglaubte Konkurrenz um Wohnraum, um Arbeitsplätze, um Sozialhilfe, um die Sprache in der Schulklasse, um den öffentlichen Raum oder die Geltung im Stadtviertel können dazu führen, dass die Karte der Abwertung von Anderen gezogen wird, um die eigene Stellung abzusichern.


  4. Auf einer vierten Stufe hat Fremdenfeindlichkeit mit den Fremden selbst kaum mehr etwas zu tun. Menschen, die sich der verschärften Konkurrenz in der Gesellschaft nicht gewachsen fühlen, sind versucht, ihre Verunsicherung mit der Aufwertung "angeborener Merkmale" zu kompensieren: dem eigenen Geschlecht oder der ethnischen Herkunft. Dies geht dann einher mit der Abwertung anderer, die diese Merkmale nicht haben, also mit rassistischen oder sexistischen Ideologien.


  5. Auf einer fünften Stufe kann die Zugehörigkeit zu einer geglaubten Gemeinschaft eines Volkes, einer "Rasse" oder besonderen Religions- und Weltanschauung andere Loyalitäten verdrängen und sich so verabsolutieren. Wenn dann der Pluralismus der Gesellschaft bekämpft wird, in der auch "die Anderen" Platz haben, gerät Fremdenfeindlichkeit in den Gegensatz zur Verfassung, in der Menschenrechte zum unveränderlichen Teil der Rechtsordnung erklärt sind: Sie wird extremistisch.


  6. Auf einer sechsten Stufe werden dann "Taten statt Worte" gefordert, um zum Beispiel die "Reinheit" oder die Herrschaft eines vorgestellten Kollektivs zu sichern oder wiederherzustellen. Das können das "deutsche Volk", die "weiße Rasse" oder auch die "reine Lehre des Islam" sein. Damit beginnt der Weg in Gewalt, in Terror und Bürgerkrieg. Weil die Transformationen in Gewalt und durch Gewalt nicht generell auf Fremdenfeindlichkeit zurückgeführt werden können, sondern auch auf anderen ökonomischen, politischen und kulturellen Ursachen aufbauen, wird ihre Logik im nächsten Abschnitt gesondert nachgezeichnet.

Kollektive Prozesse der Radikalisierung: Deprivation und Kulturkonflikt

Am Anfang der Radikalisierung gesellschaftlicher Gruppen (Ethnien, Religionsgemeinschaften und Klassen usw.) stehen in der Regel Erfahrungen von Benachteiligung, Demütigung, Bedrohung, Fremdherrschaft oder Vertreibung. Oft findet sich rasch eine Ideologie, die dem jeweiligen Kollektiv helfen will, sich zu wehren und sich als Subjekt der Geschichte (des Stammes, der Nation, des Glaubens oder der Menschheit) zu erkennen. Dieses "Kollektivsubjekt" gilt es dann zu verteidigen oder voranzubringen. Im Kampf wird häufig eine neue Solidarität als Kameradschaft oder Brüderlichkeit erfahren. Dieser Enthusiasmus wird in der Regel auch auf die zu erkämpfende Zukunftsgesellschaft projiziert: die "befreite Nation", die "klassenlose Gesellschaft", die "Umma" eines Kalifats, die "Hindu-Nation" sollen es dann jeweils sein, in der die gemeinschaftliche Solidarität alle Beeinträchtigungen und Egoismen überwindet. Aktivisten ziehen aus ihrem Auftrag das Wissen, auserwählt zu sein. Der überindividuelle und überzeitliche Sinn ihres Handelns verändert ihre subjektiven Präferenzen und Wertigkeiten grundlegend: Er macht Leiden wertvoll, Sterben würdig und überhöht den Alltag durch die Emphase der Sendung. Insofern ist anzunehmen, dass solche Generalisierungen immer wieder als attraktive Angebote auf dem Markt der Sinngebungen auftauchen und nachgefragt werden. Wenn mit ihnen nicht nur "positive Pflichten" (etwa die Nächstenliebe in der Eigengruppe) übernommen werden, sondern die "negativen Pflichten" gegenüber jedem Menschen (Du sollst nicht töten!) ausgeschaltet werden, wenn Recht, Freiheit und Demokratie (als Rechte auch der Gegner) grundsätzlich dem Kampf geopfert werden, dann hat sich der Einsatz für die gedachte Eigengruppe zum Extremismus übersteigert.

Solche Radikalisierungsprozesse verlaufen nicht unabhängig von sozioökonomischen und politischen Kontextfaktoren. "Fraternale relative Deprivation", also die wahrgenommene Benachteiligung der Gruppe, der man zugehört oder mit der man sich identifiziert, ist der bisher beste Prognosefaktor von Radikalisierung. Diese Deprivation muss nicht ökonomisch sein, sie kann kulturell sein (Sprachverbot bei Kurden, mangelnde Anerkennung der Sprache bei Tamilen); sie kann politisch sein (verweigerte Autonomie im Baskenland zur Zeit des spanischen Diktators Franco, Rückkehrverbot für Palästinenser, Zwangsassimilation der Kurden als "Bergtürken"): Sie alle können als Viktimisierung, also Opferwerdung, empfunden werden und Radikalisierung auslösen. Vorwürfe der Benachteiligung können durchaus von mehreren Gruppen gegeneinander erhoben werden. In der Folge von Migration können sowohl Einwanderer (die ihre Lage mit der der Einheimischen vergleichen) als auch Einheimische (die sich kulturell "überfremdet" oder auf dem Arbeitsmarkt bedroht fühlen) Vorstellungen von individueller und kollektiver Deprivation gegeneinander geltend machen.

Typisch für die moderne Mediengesellschaft ist in diesem Zusammenhang, dass die Radikalisierung als Überidentifikation mit einer geglaubten Gemeinschaft auch ohne unmittelbare soziale Kontakte vor sich gehen kann. Es ist ein Kennzeichen der heutigen Weltgesellschaft, dass regionale Gruppen und mediale Netze von Aktivisten im World Wide Web zusammenwirken. Der Rekrutierungsweg des Internets hat obendrein verdeutlicht, dass nicht nur Identifikationsbedürfnisse, sondern auch Hassgefühle sich ihre Repräsentation und gemeinschaftliche Bestätigung suchen. Starke Gefühle, sowohl positive als auch negative, können so genossen und ausagiert werden.

Die Entstehungsbedingungen der Konflikte bestimmen dabei nicht notwendig die Charakteristika, die sich in den Bewegungen dauerhaft behaupten oder entwickeln. Auch die Gruppenidentität wird im Kampf andauernd verändert. Im Kampf um die "Linie der Bewegung" trennen sich "Revolutionäre" von "Revisionisten" und gehen im Namen der Reinheit der Idee gegen "Kompromissler" und "Abweichler" vor.

Mit der Theorie der relativen Deprivation konkurriert die These Samuel D. Huntingtons vom "Zusammenprall der Kulturen" (Clash of Civilizations). Diese kommt zunächst ohne die Annahme erfahrener oder gedachter Benachteiligung aus. Globalisierung und Migration, so Huntington, würden Menschen dazu veranlassen, sich auf die Kernbestände ihrer Kultur: auf "Blut und Überzeugung, Glaube und Familie" zu besinnen, ihre kulturelle Einzigartigkeit zu betonen und sich von anderen abzugrenzen. In der Folge komme es zu "Bruchlinien" und Unverträglichkeiten zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen.

Die beiden Theoreme schließen sich allerdings nicht aus: sowohl "Relative Deprivation" und "Kulturkonflikt" spielen z.B. im Vorfeld des islamistischen Terrorismus eine Rolle. Relative Deprivation kann darin gesehen werden, wenn Muslime sich gedemütigt fühlen, weil sie in einem folgenreichen ökonomischen und militärischen Rückstand gegenüber "Christen" und "Juden" stehen. Deprivation kann obendrein empfunden werden, weil sich die postkolonialen Modernisierungsversprechen in vielen Ländern nicht erfüllt haben. Ein Kulturkonflikt wird in der fundamentalen Differenz zwischen traditionellen Familienformen, Rechts- und Glaubensvorstellungen in islamischen Ländern einerseits und den individualistischen und hedonistischen Lebensformen andererseits gesehen, die sich – vom Westen ausgehend – medien- und marktvermittelt heute über die Welt ausbreiten und zum Beispiel an vielen Badestränden sinnfällig in Erscheinung treten. So sei unbestritten, dass es auf der Folie der wahrgenommenen Differenz von Religionen und Lebensphilosophien Gegensätze gibt, die zur Feindseligkeit werden können, wenn sie sich in die Quere kommen. Gewalt resultiert allerdings zumeist nicht direkt aus der Religion. Der Zusammenhang ist eher mehrstufig: Religionen sind es, die häufig die Grenzen gesellschaftlicher Gruppen gegenüber anderen definieren, also die Kollektive konstituieren, die dann aus vielerlei, oft trivialen Gründen in Konflikt geraten können. Wenn mangelnde Achtung, Ausbeutung und Unterdrückung von den Menschen als Folge ihrer Zugehörigkeit zu einem religiös definierten Kollektiv gedeutet wird oder wenn "Nicht-Zugehörige" als Gefahr oder als Feinde gelten, kann Gewalterfahrung und Gewalttätigkeit einen fundamentalen religiösen Sinn erhalten. Im wechselseitigen Zirkel wird dann eine Eskalation vorangetrieben, bis Angst und Hass eine unlösliche Verbindung eingehen.

Beide Theorien, Deprivation und Kulturkonflikt, können daher Ausgangsbedingungen von Radikalisierung entschlüsseln. Sie können damit aber nicht den weiteren Verlauf prognostizieren. Deprivation ist ein verbreitetes Phänomen, ohne dass es deshalb allenthalben zum Kampf kommt. Ebenso ist das Bedürfnis, sich verstärkt der spezifisch eigenen Kultur zu versichern, nur eine von vielen und ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, Globalisierungs- und Migrationserfahrungen persönlich zu bearbeiten: Assimilation, Trennung der unterschiedlichen Lebensbereiche (etwa von Familie und Beruf), oder die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen sind die Optionen, die wohl am häufigsten gewählt werden. Deprivation und kulturelle Widersprüche können zwar Konflikte auslösen; ob es aber zur Eskalation von Gewalt kommt, hängt davon ab, welche Chancen Menschen für sich und ihre Gemeinschaften sehen und wie die Konflikte in einer Gesellschaft bearbeitet werden. So wenig Ausgangskonflikte vermeidbar sind, so sehr können wir doch lernen, mit ihnen umzugehen. Hier sind Politik, Bildung und Soziale Arbeit gefragt, vor allem aber das Engagement des Staates und der Zivilgesellschaft dafür, Konfliktregelung dauerhaft zu sichern.

Eskalation und Radikalisierung

Bildungsbeteiligung, berufliche Chancen und politische Mitsprache mindern das Gefühl der Deprivation, der Respekt von religiösen Symbolen erleichtert die Bereitschaft, mit Glaubensdifferenzen umzugehen. Schlichtung und Vermittlung können Zuspitzungen verhindern. Rechtsstaatliche und demokratische Verfahren sind geeignet, Konflikte auf friedlichem Wege zu regulieren. Menschenrechte, mit denen die Differenzen in der Sinnfindung der individuellen Entscheidung überantworten werden, sind die Basis einer Kultur der Toleranz. Sie müssen allerdings häufig gegen einzelne Traditionen und Interessen durchgesetzt werden. Die Erfahrung erfolgreich regulierter Konflikte wiederum nährt die Zustimmung zu Demokratie und Recht. Eine gewalttätige Zuspitzung kann in manchen Fällen aus einem anderen Land oder Kontinent importiert sein, vor Ort aber ist sie zumeist das Ergebnis unregulierter, verschleppter und darum eskalierender Konflikte. In diesen erhalten Konflikttreiber Chancen, Ereignisse zu produzieren, mit denen die Identität der Beteiligten immer wieder auf eine kollektive und über den Konflikt bestimmte Dimension festgelegt wird. Angesichts von Tötungen erhält das Leben der Kämpfer Sinn aus dem Gegensatz zwischen "dem Reich des Guten" und "der Achse des Bösen", dem "Land des Friedens" und dem "Land des Krieges".

Radikalisierung durch Deprivation und Kulturkonflikt – ein allgemeines Modell

  1. Die Zugehörigkeit zu realen Gemeinschaften und imaginierten Kollektiven entspricht dem menschlichen Wesen. Je vielfältiger diese Zugehörigkeiten sind, desto weniger wahrscheinlich ist ihre Radikalisierung.

  2. Menschen identifizieren sich mit Familie und Verwandtschaft, mit Freundeskreisen und Nachbarschaft. Sie können sich aber auch als Teil einer Ethnie, einer Nation, einer Klasse oder Glaubensgemeinschaft verstehen. Auch die Gemeinsamkeit der Menschheit insgesamt wird gegenwärtig immer deutlicher.

  3. Wenn das Kollektiv, dem ein Mensch real oder imaginativ zugehört, als benachteiligt wahrgenommen wird oder wenn kulturelle und religiöse Orientierungen als widersprüchlich zu Tage treten, können Radikalisierungsprozesse einsetzen.

  4. Über lokale und regionale Netze, aber auch über Medien und Internet werden Anhänger einer Bewegung rekrutiert. Das Engagement in den Konflikten führt von der Vieldeutigkeit zur Eindeutigkeit der persönlichen Identität. Gewalt wird von einigen irgendwann nicht mehr ausgeschlossen.

  5. Gewaltereignisse bewirken Solidarisierung auf einer oder mehreren Seiten. Parteinahme wird moralisch gefordert. Die Unterstützung durch größere ethnische, religiöse oder politische Verbündete wird eingeworben. Die Konfliktthemen ("worum es eigentlich geht") werden verallgemeinert, bis "Gut" und "Böse" einander klar entgegengesetzt erscheinen.

  6. Bewegungen spalten sich in "gemäßigte" und "radikale" Flügel. Bei Letzteren wird die Radikalisierung durch einen Überbietungswettbewerb an Entschlossenheit vorangetrieben.

  7. Die subjektive Identität der Beteiligten wird mehr und mehr vom Kollektiv und vom Kampf bestimmt. Eine Sinngebung von Leiden, Sterben und Töten wird ausgearbeitet. Todesnähe erzeugt eine existenzielle Stimulation.

  8. Eine Guerilla-Strategie ("Fisch im Wasser") erschüttert das Sicherheitsversprechen des Staates und ruft Überreaktionen hervor.

  9. Mit einem gewalttätigen Kampf verfestigen sich Angst und Hass für eine Generation. "Chosen Traumas" und "Chosen Glories" * können zu einem dauerhaften Bezugspunkt der Kultur einer ethnischen, politischen oder religiösen Gemeinschaft werden.

* Vamik D. Volkan, Das Versagen der Diplomatie: Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte, Gießen 1999.


Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist nicht, wie Carl Schmitt 1932 glaubte, das "Wesen" des Politischen schlechthin, sondern Ergebnis und Instrument von Konfliktverschärfung. Erfahrungen der Bedrohung und Empfindungen des Unrechts befestigen die Solidaritätslinien und legitimieren schließlich auch die Vergeltung. Gewalterfahrung und Kollektivorientierung verstärken sich und werden zum Generator von Friedlosigkeit. Vorstellungen von einer "Entscheidungsschlacht" können nicht nur Terror, sondern auch Weltkrieg, Massenmord und Genozid in den Köpfen der Handelnden legitimieren. Die Radikalität gewalttätiger Bewegungen hängt also keineswegs nur mit der Schärfe eines Ausgangskonfliktes, also von Deprivation oder kulturellen Unverträglichkeiten zusammen. Der weitere Weg wird von den Handlungen und Reaktionen der Beteiligten auf allen Seiten bestimmt. Schulungen, Kampferfahrungen und Isolierung von der Außenwelt sind es, die die persönliche Identität der Akteure transformieren. Aus Privatpersonen mit multiplen Identitäten werden so Kämpfer, die sich als Helden und Märtyrer der "einen" Sache hingeben. Die noch abseits stehenden Glaubens- oder Volksgenossen sollen zur Solidarität beziehungsweise zur Entscheidung für oder gegen "die Sache" gezwungen werden. Es sind dabei weniger bestehende Vorurteile, die die Gewaltereignisse erzeugen, als vielmehr Gewaltereignisse, die – wie immer sie zustanden gekommen sind – als Fanale Vorurteile erzeugen. Sie blockieren die Problemlösung durch Feindschaft und führen zur Kompromissunfähigkeit ("Dafür sind unsere Toten nicht gestorben!"). Die Integration in eine plurale Gesellschaft ist daher eine fortwährende Aufgabe.

Radikalisierung ist nur schwer reversibel, weil Gewalttaten sofort Furcht und Feindseligkeit produzieren, das Ausbleiben von Gewalt aber nur sehr langfristig vertrauensbildend wirkt. Daher sind Gewalttaten der Motor der Eskalation. Das heißt aber auch: Konfliktregulierung wird wahrscheinlicher, wenn Gewalt ausbleibt. Selbstverständlich muss ein Staat sich verteidigen und den Sicherheitsansprüchen der Bevölkerung gerecht werden. Daneben aber ist die Vermeidung und Verhinderung von Gewaltereignissen die zentrale staatliche und zivilgesellschaftliche Aufgabe bei gegebenen Konflikten. Weil die Regulierung von Konflikten und die Auflösung der Gewaltzirkel zu den konstitutiven Aufgaben von Recht und Demokratie gehören, ist ein Programm zu formulieren, das von den Praktiken der Erziehung bis zu den Umgangsformen in internationalen Auseinandersetzungen und der Kontrolle der eingesetzten Waffen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Radikalisierung reicht. Techniken der Konfliktregulierung stellen sich nicht von selbst ein, sondern müssen in der Regel durch Dritte vermittelt werden, wie wir von den Cliquen- und Bandenkonflikten Jugendlicher wissen. Dies wird umso wichtiger, wenn Konfliktbegrenzungstechniken nicht mehr zu Verfügung stehen, die einmal auf nachbarschaftlicher Ebene einsetzbar waren und Deprivation und kulturelle Widersprüche neue Grenzlinien ziehen, an denen Konflikte entfacht werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M. 1988.

  2. Clark McCauley/Sophia Moskalenko, Mechanisms of political radicalization: Pathways toward terrorism, in: Terrorism and Political Violence, 20 (2008) 3, S. 415–433; siehe auch Roland Eckert, Die Dynamik der Radikalisierung – Über Konfliktregulierung, Demokratie und die Logik der Gewalt, Weinheim-Basel 2012.

  3. Vgl. Duško Sekulić et al., Ethnic intolerance and ethnic conflict in the dissolution of Yugoslavia, in: Ethnic and Racial Studies, 29 (2006) 5, S. 797–827.

  4. Vgl. Mirjana Morokvasic-Müller, Interethnische Ehe in Zeiten von Nationalismus und Gewalt: Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien, in: Judith Schlehe (Hrsg.), Interkulturelle Geschlechterforschung, Frankfurt/M. 2001.

  5. Vgl. Saskia Lützinger, Die Sicht der Anderen – Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen, Köln 2010.

  6. Vgl. Martin E. Marty/R. Scott Appleby, Conclusion: An Interim Report on a Hypothetical Family, in: dies. (eds.), Fundamentalisms observed, Chicago 1991.

  7. Vgl. Roland Eckert, Rechtsterrorismus und Sicherheitsbehörden, in: Verdikt, 12 (2013) 1, S. 4–11.

  8. Vgl. zu den im Folgenden dargestellten individuellen Prozessen der Radikalisierung am Beispiel von Fremdenfeindlichkeit auch die kollektiven Prozesse der Radikalisierung im Modell auf S. 6.

  9. Vgl. Armin Steil, Polyphems Auge. Zur Soziologie der "rassistischen" Fremdheit, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 12, Berlin 2003, S. 259–279.

  10. Vgl. Alfred Schütz, Der Fremde, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Den Haag 1972. S. 53–69.

  11. Stefanie Würtz, Wie fremdenfeindlich sind Schüler? Eine qualitative Studie zu Erfahrungen mit dem Fremden, Weinheim–München 2000.

  12. Vgl. Klaus Wahl, Was führt zu Aggression, was zu Toleranz? Eine Analyse mit dem Schwerpunkt Fremdenfeindlichkeit, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Theorie und Praxis gesellschaftlichen Zusammenhalts, Berlin 2008.

  13. Vgl. Gertrud Nunner-Winkler, Anerkennung moralischer Normen, in: Wilhelm Heitmeyer/Peter Imbusch (Hrsg.), Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, Wiesbaden 2005.

  14. Walter G. Runciman, Relative deprivation and social justice. A study of attitudes to social inequality in twentieth century England, London 1966.

  15. Vgl. Thomas Kuban, Blut muss fließen – Undercover unter Nazis, Frankfurt/M. 2012.

  16. Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998, folgendes Zitat: S. 194.

  17. Vgl. Jörg Hüttermann, Das Minarett. Zur politischen Kultur des Konflikts um islamische Symbole, Weinheim 2006.

  18. Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt, in: Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Soziale Integration, Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1999; Albert O. Hirschman, Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft? in: Leviathan, 22 (1994) 2, Berlin. S. 293–304.

  19. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Hamburg 1932.

  20. Vgl. Roland Eckert, Die Dynamik jugendlicher Gruppen – Über Zugehörigkeit, Identitätsbildung und Konflikt, Weinheim-Basel 2012, S. 68–83.

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Dr. phil., geb. 1937; Professor em. für Soziologie an der Universität Trier, Fachbereich IV – Soziologie, Universität Trier, 54286 Trier. E-Mail Link: eckert@uni-trier.de