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Zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa | Religion und Moderne | bpb.de

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Zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa

Anja Hennig

/ 14 Minuten zu lesen

Europa gilt im internationalen Vergleich als der Kontinent, auf dem die Gesellschaften am Wenigsten religiös sind und Religion am Stärksten ins Private verdrängt wurde. Dennoch entsteht oftmals der Eindruck, dass Religion öffentlich präsenter ist denn je – nicht nur, wenn ein Papst zurücktritt. Aber ist Religion in Europa wirklich in die Politik "zurückgekehrt"? Oder ist nur das Verhältnis zwischen Religion, Gesellschaft und Politik konfliktreicher und Religion dadurch sichtbarer geworden? Um diese Fragen zu diskutieren, wird im Folgenden anhand historischer Wegmarken gezeigt, wie sich das Verhältnis zwischen Religion und Politik in den unterschiedlichen Regionen Europas entwickelt hat: konfliktreich oder kooperativ? Inwieweit lässt sich aus heutiger Sicht eher von Kontinuität oder von einer Neuordnung dieses Verhältnisses sprechen? Dafür ist zu klären, wie sich Religion und Politik definieren und wie sich die Wechselwirkungen untersuchen lassen.

Die sozialwissenschaftliche Analyse des Verhältnisses von Religion und Politik konzentriert sich auf die messbaren Elemente von Religion. Das, was Religion vom Profanen unterscheidet – der Glaube an einen gemeinsamen Gott, das Transzendente –, ist zwar für das Religionsverständnis wichtig, für die Analyse von Religion und Politik aber zweitrangig. So wird Religion als Weltbild oder Theologie, als individueller Glaube oder in Gestalt religiöser Akteure, Institutionen, Bewegungen und Parteien analysiert. Ähnlich lässt sich Politik als Ideen und Programme definieren, als Akteure, Parteien und Institutionen, als Prozess der Einflussnahme und als politische Ordnung.

Von einem regulierten Verhältnis zwischen der Katholischen Kirche und weltlichen Herrschern lässt sich erstmals ab 1122 sprechen, als Papst Calixtus II. und Heinrich V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, in Worms ein Konkordat besiegelten. Darin wurden zentrale Zuständigkeiten der weltlichen und religiösen Macht geregelt, das königliche Recht auf die Amtseinsetzung von Geistlichen beschnitten und somit ein 50 Jahre währender Konflikt (Investiturstreit) befriedet. Das weltlich-temporäre regnum sollte vom religiös-spirituellen sacerdotium getrennt werden. Dass Kirche und Kaiser getrennte Einflussbereiche besitzen, stand theoretisch auch vor Worms nicht infrage. Die Realität sah jedoch anders aus – auch nach dem Konkordat. Seit dem frühen Mittelalter erhoben Päpste und Könige Anspruch auf die Sphären des jeweils anderen oder stützten sich gegenseitig; die Päpste, um die Katholische Kirche im Wettstreit zwischen Ost- und Westkirche zu festigen, und die Könige, um ihre Herrschaft zu legitimieren und sich territorial zu behaupten.

Mit den Reformationsbewegungen des 16. Jahrhunderts änderte sich das Verhältnis von Kirche und Staat. Entschieden kritisierten die Reformtheologen Johannes Calvin, Huldrych Zwingli und Martin Luther den politischen Einfluss der Päpste, ihren Prunk und das gewaltsame Richten Andersdenkender. Wegweisend war Luthers Verständnis der "Zwei Reiche": Er hielt an der Idee von weltlichem und himmlischem Reich fest; doch sollte die Kirche als Institution durch säkulares Recht regiert werden. Das weltliche Reich hatte im Gegenzug durch Frieden und Ordnung dafür zu sorgen, dass das Evangelium verkündet werden konnte. Diese Ideen fanden unter den Landesfürsten erbitterte Gegner wie glühende Unterstützer. Der Kaiser stand aus eigenem Interesse auf Seiten des Papstes, dessen Machtposition jedoch während der Religionskriege ins Wanken geriet. So kämpften in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunächst Katholiken und Reformierte (Lutheraner, Calvinisten) um politischen Einfluss und den "richtigen" Glauben in Europa.

Die entscheidende Wende brachte der Augsburger Religionsfrieden von 1555. Der Protestantismus wurde mit dem Katholizismus gleichgestellt. Dänemark und Norwegen hatten sich bereits 1536, Schweden 1593 und damit der größte Teil Finnlands von Rom losgesagt und eigene protestantische Staatskirchen gegründet. Hier walteten die weltlichen Herrscher auf Grundlage staatlichen Rechts über das Religiöse. Auch im gemischt-konfessionellen Deutschen Reich wurden die in Augsburg gefassten Beschlüsse umgesetzt: Cuius regio, eius religio (wessen Region, dessen Religion), so lautete die Formel. Von nun an hatte sich die konfessionelle Zugehörigkeit eines Gebietes nach der Konfession des Landesfürsten zu richten; ein Abkommen, das in anderen Regionen Europas erst durch den Westfälischen Frieden von 1648 besiegelt wurde. Andersgläubige mussten sich unterordnen oder fliehen. Somit war auch für die Juden, die vielfach verfolgt wurden, keine Religionsfreiheit gegeben.

Auf diese Weise bildeten sich drei monokonfessionelle Blöcke heraus: Jener lutherisch geprägte Norden, der katholische Süden (Frankreich, Italien, Portugal, Spanien) und der orthodoxe Osten. Dazwischen spannte sich ein Gürtel multi-konfessioneller Staaten. Er zog sich von Irland und England über die Niederlande, Süddeutschland, die Schweiz, Böhmen, Polen und Ungarn bis zum transsylvanischen Teil Rumäniens. In den lutherischen Territorien regelten weltliche Verfassungen das Verhältnis zwischen Kirche und absolutistischem Staat, während in den katholischen Staaten mit Rom Konkordate geschlossen wurden. Somit war durch die Konfessionalisierung Europas im ausgehenden 16. Jahrhundert die staatlich-territoriale Souveränität fest mit der Religion verbunden.

Mit der Aufklärung kam schließlich die Idee auf, dass der Staat Religion als private Angelegenheit betrachten und sie dafür verfassungsmäßig schützen solle. Dies war ein zentraler Gedanke, der über die Unabhängigkeitserklärung der USA 1776 auf die Französische Revolution ausstrahlte und in die französische Verfassung von 1791 einging. Zugleich wurde die Katholische Kirche nahezu enteignet und verfolgt. Zwar stellte Napoleon 1801 den religiösen Frieden wieder her, indem er mit dem Vatikan ein Konkordat aushandelte und für die Koexistenz aller nun staatlich kontrollierten Konfessionen und des Judentums sorgte. Doch als die Republikaner um 1880 an die Macht kamen, wurde ihr Anti-Klerikalismus zum politischen Programm. Man brach die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan ab und erließ 1905 jenes Gesetz, das bis heute die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich begründet. Aus dieser republikanischen Lesart der Aufklärung entstanden in vielen Staaten Europas seit Ende des 18. Jahrhunderts anti-klerikale Bewegungen, die für die Entstehung des modernen Nationalstaates von entscheidender Bedeutung waren.

Der Nationalismus deutete den ursprünglich egalitär konzipierten Nationalstaat als ein Gebilde, in dem eine ethnisch homogene Gemeinschaft mit territorial-rechtlicher Herrschaft übereinstimmt. Nationalisten zielten darauf, eine neue Grundlage für politische Legitimität zu schaffen und dabei ein einheitsstiftendes "Wir" zu benennen. Religion konnte genau diese Funktionen erfüllen. Für die nationalen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts wie auch den radikalen Ethno-Nationalismus ermöglichte Religion, sich auf eine lineare Geschichte bis hin zu einem (mythologischen) Ursprung zu beziehen und die "vorgestellte" Nation als ein auserwähltes "Volk Gottes" zu legitimieren. Dafür wurden entweder, wie in Polen oder Irland, starke religiöse Identitäten mobilisiert oder, wie im 20. Jahrhundert auf dem multi-ethnischen Balkan, ein ursprünglich schwaches religiöses Selbstverständnis.

Genese christlicher Parteien

Die nationalen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts waren eng mit der industriellen Entwicklung verbunden. Beides veränderte das Verhältnis von Religion und Politik in Europa fundamental. Mit der Industrialisierung wuchsen die Städte, entstanden kapitalistische Wirtschaftssysteme und stieg die individuelle Mobilität; Ausdifferenzierungsprozesse, die als zentrale Ursache für Säkularisierung im Sinne eines abnehmenden kirchlichen Einflusses und der Privatisierung von Religion gelten, beschleunigten sich. Industrialisierung, Säkularisierung und Nationalismus brachten im Europa des 19. Jahrhunderts vier zentrale Konfliktlinien hervor, entlang derer sich in Süd- und Westeuropa die Parteiensysteme herausbildeten: zwischen einer einheitlichen Nationalkultur im Zentrum und einer multi-nationalen Peripherie, zwischen dem Kapital und der Arbeitnehmerschaft, zwischen den industriellen Sektoren der Stadt und dem agrarisch geprägten Land und schließlich zwischen Kirche und Staat beziehungsweise religiösen und anti-klerikalen Kräften.

Aus Letzterem resultierten die christdemokratischen Parteien. Im Kern des Konflikts ging es den liberal-nationalen Eliten darum, die Schulerziehung und soziale Wohlfahrt in nationalstaatliche Obhut zu bringen sowie die Zivilehe einzuführen – also um Maßnahmen, durch die sich die Katholische Kirche substanziell bedroht sah. Als Reaktion postulierte Papst Pius IX. 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes und erließ 1874 ein Verbot für Laien, sich politisch zu betätigen. Doch längst waren politische Laienbewegungen aktiv, aus denen jene katholischen moderat-konservativen Massenparteien hervorgingen. Aber auch in konfessionell gemischten Staaten wie Deutschland gründeten sich christliche Parteien. Die deutsche Zentrumspartei etwa wollte die Selbstständigkeit der Katholischen Kirche im preußisch-protestantisch dominierten Deutschen Reich bewahren und die Interessen der deutschen Katholiken vertreten. Somit wurzeln trotz ihrer Neugründungen nach 1945 die Christdemokratischen Parteien Deutschlands, Österreichs, Italiens, der Schweiz, Belgiens und Frankreichs im politisch-moderaten Katholizismus des 19. Jahrhunderts.

In Spanien und Portugal entwickelte sich zwar auch ein starker Anti-Klerikalismus. Noch stärker wurden hier jedoch die anti-demokratischen Kräfte, auf deren Seite sich die Kirche stellte. Die Diktaturen Francos in Spanien und Salazars in Portugal beriefen sich auf eine national-katholische Ideologie, in der sich Regime und Kirche zum Erhalt der Diktatur gegenseitig stützten. Christliche Parteien waren somit obsolet. Die national-katholische Idee hingegen lebt auch nach Francos Tod 1975 am rechten Rand der kirchenfreundlichen Spanischen Volkspartei fort. National-katholische Parteien entstanden aber vor allem dort, wo der Katholizismus durch erfahrene Fremdherrschaft zum Symbol einer unterdrückten nationalen Kultur geworden war. Vor allem in Irland (britisch besetzt), Polen und Kroatien vereinten sich Katholizismus und Nationalismus während des 19. Jahrhunderts, um für die innere regionale oder nationale Einheit zu kämpfen. Anti-klerikale Strömungen waren hingegen schwach. So bezieht sich etwa in Polen bis heute die religiöse Rechte auf den Nationalkatholizismus Roman Dmowskis der Zwischenkriegszeit. In Skandinavien hingegen setzten sich die protestantischen Staatskirchen einvernehmlich für einen sozial verträglichen Staat ein. Anstelle eines Staat-Kirche-Konflikts dominierte hier der Konflikt zwischen städtischer Industrie und agrarisch geprägtem Land. Entsprechend stark wurden – neben der Sozialdemokratie – die Bauernparteien. Zwar entstanden zwischen 1933 und 1970 auch christliche Parteien, sie spielten aber nur eine marginale Rolle.

Die Konflikte zwischen Kirche und Staat wirkten sich auch auf konfessionell gemischte Staaten wie Deutschland, die Niederlande oder die Schweiz aus. Insbesondere nach dem Postulat der päpstlichen Unfehlbarkeit gerieten die dortigen Katholiken zunehmend unter Druck. Sie galten als anti-national und vertraten vielfach einen vatikantreuen Katholizismus (Ultramontanismus). In Deutschland kulminierte das Ringen um die kulturelle Hegemonie zwischen der katholischen Kirche und dem protestantischen preußischen Staat im "Kulturkampf". Zwischen 1871 und 1875 erließ Reichskanzler Otto von Bismarck Gesetze, die den Einfluss der Katholischen Kirche auf Bildung, Wohlfahrt und Gesellschaft einschränken und die Trennung von Kirche und Staat durchsetzen sollten. Die Weimarer Reichsverfassung führte 1919 schließlich die Trennung von Staat und beiden christlichen Kirchen ein. Zugleich definierte sie gemeinsame Angelegenheiten wie den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen, der Steuererhebung oder Militärseelsorge, in denen Kirche und Staat kooperierten. Diese Verfassungsartikel wurden in das Grundgesetz von 1949 übernommen.

Trotz der Konflikte im 18. und 19. Jahrhundert und kirchlicher Kooperationen mit faschistischen Regimen bestanden im westlichen Nachkriegseuropa die konfessionellen Muster des Westfälischen Systems fort, und es setzte sich vielfach ein kooperatives Verhältnis von Kirche und Staat durch, in dem bei verfassungsmäßiger Trennung gemeinsame Bereiche definiert wurden. In Italien etwa gingen die Lateranverträge, in denen Benito Mussolini 1929 den Vatikan anerkannte und der Kirche den Religionsunterricht in staatlichen Schulen gestattete, in die Verfassung von 1949 ein und sind in modifizierter Form bis heute gültig. Weitgehende Kontinuität kennzeichnet auch die skandinavischen Staaten mit ihren protestantischen Staatskirchen. Doch der allgemeine Trend geht im Zeichen kultureller Pluralisierung hin zu kooperativen Arrangements. So hat man sich 2000 in Schweden und 2010 in Norwegen für die Abkehr vom Staatskirchenmodell entschieden. In England blieb man bisher der Anglikanischen Staatskirche treu. Noch haben unter dem Patronat der Krone Geistliche ihren Platz im House of Lords, dem Oberhaus des Britischen Parlaments. In Frankreich besteht zwar das (wenn auch umstrittene) Trennungsgesetz fort. Doch werden neben katholischen zunehmend auch muslimische Einrichtungen staatlich unterstützt. In Mittelosteuropa wurde das Verhältnis von Kirche und Staat nach 1989 mit der gesamtgesellschaftlichen Umstrukturierung neu gestaltet. Auch hier einigte man sich auf ein Kirche-Staat-Verhältnis, das bei verfassungsrechtlicher Trennung gemeinsame Bereiche definiert, in denen Staat und Kirche zusammenarbeiten. Christliche Volksparteien nach westeuropäischem Vorbild etablierten sich hier hingegen nicht.

Mit Ausnahme der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), der Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU) und der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) haben die christdemokratischen Parteien Westeuropas durch den Rückgang von Religiosität und religiös motiviertem Wahlverhalten sowie der abnehmenden Bindung an die Kirchen stark an Bedeutung verloren.

Auch ist es mittlerweile schwierig, Parteien eindeutig als christlich zu bestimmen, da sie ihr etwa katholisch inspiriertes Programm nicht im Namen tragen oder unklar ist, wie christlich sie sind. Als ein Alleinstellungsmerkmal mag man ihre traditionellen Familienwerte sowie eine kritische Haltung zu Abtreibung und homosexuellen Partnerschaften sehen – moralpolitische Fragen, anhand derer sich seit den 1990er Jahren ausgerechnet die kleinen protestantischen Parteien Skandinaviens durch eine strikte Haltung profilierten und dabei von einer stabilen Gruppe evangelikaler Christen unterstützt wurden. Die katholische Sinn Féin als zweitgrößte Partei Nordirlands ist hingegen Beispiel für eine religiös-nationalistische Partei im gegenwärtigen Europa.

Während sich die christdemokratischen Parteien nicht zuletzt durch Säkularisierungsprozesse gewandelt haben, werden die traditionellen Kirchen trotz eines sinkenden Rückhalts in der Bevölkerung in weiten Teilen Europas weiterhin im Rahmen der verfassungsgemäßen Trennung staatlich protegiert. Zwei Gründe liegen für diese kontinuierliche Kooperation nahe: Die Kirchen werden weiterhin gebraucht, denn nicht zuletzt spielen sie in Deutschland im sozialen und karitativen Bereich weiterhin eine tragende Rolle. "Gebraucht" werden die Kirchen aber auch von vielen Nichtreligiösen wie etwa für Bestattungen oder für das Gefühl einer kulturellen Zugehörigkeit. Ferner, und das betrifft die Katholische Kirche, führt die Politik des Vatikans, weiterhin mit Einzelstaaten Konkordate abzuschließen, unweigerlich zu einem kooperativen (wenn auch nicht immer konfliktfreien) Staat-Kirche-Verhältnis.

Ein kooperatives Verhältnis zu den Kirchen sowie zu anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften existiert mittlerweile auch auf EU-Ebene. Seit Mitte der 1990er Jahre um eine spirituelle Dimension des Europäisierungsprozesses bemüht, bestätigt der Vertrag von Lissabon 2009 vor allem zweierlei: Die EU achtet den Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten, und sie verpflichtet sich zu einem offenen Dialog mit Kirchen, religiösen Vereinigungen und Weltanschauungen.

Religion in der Öffentlichkeit

Lange herrschte die Annahme vor, dass mit der Modernisierung die Bedeutung von Religion im Öffentlichen und Privaten abnehme. Die religiös-modernen USA bestätigten jedoch das Gegenteil. Vor allem aber katapultierten Ereignisse wie die Revolution im Iran 1979, der politische Erfolg der christlichen Rechten in den USA und die Ereignisse vom 11. September 2001 "Religion" als politische Kraft in die Öffentlichkeit. In Europa war es Papst Johannes Paul II., der die anti-kommunistischen Oppositionsbewegungen in Polen unterstützte und zur friedlichen Öffnung des "Eisernen Vorhangs" beitrug. Gleichzeitig verfolgte sein Pontifikat und später das von Benedikt XVI. eine moralpolitisch strikte Linie, wodurch religiöse Akteure und Wertvorstellungen ebenfalls politisch relevant wurden.

Die Demonstrationen in Frankreich gegen die Gleichstellung von Homosexuellen im Frühjahr 2013 zeigten, dass Moralpolitik in Europa weiterhin ein Bereich ist, in dem vor allem die Katholische Kirche, aber auch andere konservativ ausgerichtete religiöse Gruppen bemüht sind, sich gegen den Trend der moralpolitischen Liberalisierung zu wehren: Familie und die private Moral, die alten Themen der Kirche, gilt es, vor Eingriffen zu schützen. Flankiert werden diese Konflikte seit den 1970er Jahren von der biotechnologischen Entwicklung: Komplexe Themen wie künstliche Befruchtung, Präimplantationsdiagnostik oder Stammzellenforschung erfordern aufgrund der angenommenen Gefahr eines Dammbruches politische Regulierung und tangieren dabei Grundsatzfragen zu Leben und Tod. Entsprechend positionieren sich die Religionsgemeinschaften, protestieren öffentlich gegen Gesetzesvorschläge oder beraten in Bioethikräten die Gesetzgebenden.

In Mittelosteuropa und dem Baltikum fielen solche Fragen mit der grundsätzlichen Neugestaltung der Beziehungen von Kirche und Staat nach 1989 zusammen. Auch hier kam es immer wieder zu Großdemonstrationen "für die Ehe zwischen Mann und Frau" und den "Schutz des ungeborenen Lebens". In Polen beispielsweise kämpfte die Katholische Kirche mit Unterstützung der einstigen katholischen Opposition, die nach 1989 an der Regierung beteiligt war, erfolgreich für eine drastische Beschränkung der zuvor erlaubten Abtreibung. Im demokratischen Spanien und Portugal setzten sich die Regierungen 2005 und 2010 etwa mit der "Homo-Ehe" gegen den lautstarken Protest der Kirche durch.

Andere sehen vor allem im Islam ein neues politisch-öffentliches Phänomen. Zwar gehören die muslimischen Gemeinden längst zu Europa. Doch verläuft ihre Inkorporation in vielen europäischen Staaten konfliktreich. Grund dafür ist einerseits das historisch gewachsene Gefüge im Staat-Kirche-Verhältnis: Dies müsste so umgestaltet werden, dass es der neuen religiösen Pluralität in Europa gerecht wird. In Deutschland etwa ist der Islam nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt, da er nicht als "Körperschaft öffentlichen Rechts" zu erfassen ist. Andererseits ist es problematisch, dass den religionspolitischen Konflikten der vergangenen Jahre nicht selten die Wahrnehmung zugrunde lag, "der" Islam sei nicht mit "europäischen Werten" vereinbar und stelle eine Gefahr für die liberalen Demokratien dar.

Um auf die Ausgangsfragen zurückzukommen: Es gibt offensichtlich zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass Religion in Europa öffentlich stärker sichtbar geworden ist. Dabei zeigen gerade die religions- und moralpolitischen Auseinandersetzungen, wie historisch gewachsene Muster im vorwiegend kooperativen Verhältnis von Religion und Politik beziehungsweise Kirche und Staat ebenso fortbestehen.

Der Religionssoziologe José Casanova warf den Europäern 2008 vor, sie sähen Religion und insbesondere den Islam vor allem als Ursache für Konflikte; eine aktuelle Umfrage bestätigt diese "Angst" vor dem Islam gerade in Deutschland. Denkt man vor diesem Hintergrund an die Debatte um die Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages und den Vorschlag zurück, Europas "judäo-christliches Erbe" darin hervorzuheben, dann stehen die politischen Entscheidungstragenden in Europa vor einer weiteren Aufgabe: Mithilfe islamischer Verbände den Islam als Teil der europäischen Identität zu vermitteln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. José Casanova, The Problem of Religion and the Anxieties of European Secular Democracy, in: Yochi Fischer/Gabriel Motzkin (eds.), Religion and Democracy in Contemporary Europe, London 2008, S. 68. Das schließt nicht aus, dass die Religiosität in Polen, Italien, Griechenland oder Irland noch immer recht hoch ist.

  2. Vgl. Ulrich Willems/Michael Minkenberg, Politik und Religion im Übergang, in: dies. (Hrsg.), Politik und Religion, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 33/2002, S. 14f.

  3. Vgl. Jonathan Fox, An Introduction to Religion and Politics, London 2013, S. 1f.

  4. Vgl. Kjell Å. Modeér, Public and Private, a Moving Border, in: Silvio Ferrari/Sabrina Pastorelli (eds.), Religion in Public Spaces, Farnham 2012, S. 27.

  5. Vgl. John Madeley, Religion and the State, in: Jeff Haynes (ed.), Routledge Handbook for Religion and Politics, New York 2009, S. 178.

  6. Vgl. Euan Cameron, The European Reformation, Oxford 1991, S. 151ff.

  7. Vgl. Gerhard Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 2005.

  8. Vgl. K.Å. Modeér (Anm. 4).

  9. Vgl. David McCean, Staat und Kirche im Vereinigten Königreich, in: G. Robbers (Anm. 7), S. 608.

  10. Vgl. John Madeley, Religion and the Modern State, in: Jeff Haynes (ed.), The Politics of Religion, London 2006, S. 60.

  11. Vgl. Brigitte Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, in: G. Robbers (Anm. 7), S. 173.

  12. Vgl. Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Bonn 1994, online: Externer Link: http://www.fes.de/fulltext/historiker/00625.htm (9.4.2013).

  13. Vgl. Steve Bruce, Politics and Religion, Oxford 2003, S. 42.

  14. Vgl. Philip Gorski, Historicizing the Secularization Debate, in: American Sociological Review, 65 (2000) 1, S. 138–167.

  15. Vgl. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alingments, in: dies. (eds.), Consensus and Conflict, New Jersey 1995, S. 138.

  16. Vgl. Philipp Manow, Wahlregeln, Klassenkoalitionen und Wohlfahrtsstaatsregime, in: Zeitschrift für Soziologie, 36 (2007) 6, S. 421.

  17. Vgl. Geneviève Zubrzycki, The Crosses of Auschwitz, Chicago 2006, S. 54f.

  18. Vgl. P. Manow (Anm. 16), S. 422.

  19. Vgl. Urs Altermatt, Religion und Nation, in: Dieter Ruloff (Hrsg.), Religion und Politik, Chur 2001, S. 48.

  20. Katholische Staatskirchen existieren in Malta, Andorra und Liechtenstein. In Griechenland hat die Griechisch-Orthodoxe Kirche nahezu staatskirchlichen Charakter.

  21. Vgl. Lars Friedner, Kirche und Staat in Schweden, in: G. Robbers (Anm. 7), S. 587.

  22. Vgl. Alessandro Ferrari, State Regulation of Religion in the European Democracies, in: Y. Fischer/G. Motzkin (Anm. 1), S. 103–112.

  23. Vgl. David Hanley, Die Zukunft der europäischen Christdemokratie, in: U. Willems/M. Minkenberg (Anm. 2), S. 231–255.

  24. Vgl. für eine Übersicht über alle als religiös einzustufenden Parteien in Europa: John Madeley, Acta non verba, in: Jeff Haynes/Anja Hennig (eds.), Religious Actors in the Public Sphere, London 2011, S. 17ff.

  25. Vgl. Peter Berger et al., Religious America, Secular Europe?, Aldershot 2008.

  26. Vgl. Anja Hennig, Moralpolitik und Religion, Würzburg 2012, S. 61.

  27. Vgl. J. Casanova (Anm. 1), S. 72.

  28. Vgl. ebd.; vgl. zur Umfrage: Die Zeit vom 27.4.2013, online: Externer Link: http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-04/islam-bedrohung-studie (20.4.2013).

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Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft, Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität Viadrina, Postfach 1786, 15230 Frankfurt/O. E-Mail Link: ahennig@europa-uni.de