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Ältere – Taktgeber in der alternden Gesellschaft?

Bettina Munimus

/ 14 Minuten zu lesen

Die gesellschaftliche Alterung verändert das Kräfteverhältnis zwischen Alt und Jung. Immer mehr Ältere im Ruhestand stehen einer kleiner werdenden Gruppe von jüngeren Erwerbstätigen gegenüber. Diese gesellschaftliche Entwicklung veranlasste den Bundespräsidenten a.D. Roman Herzog vor einer möglichen "Rentnerdemokratie" zu warnen. In der Vorstellung einer solchen "Rentnerdemokratie" hätten die Älteren das Sagen, die sich als ein großer grauer Block unter einer sozialstaatlichen Interessenlage oder eine Wertebasis subsumieren lassen. Vor dem Hintergrund des Umbaus des Sozialstaats, der Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrisen und nicht zuletzt der ökologischen Frage würden in verteilungspolitischen Debatten die Jüngeren stets das Nachsehen haben. Dieses Szenario setzt voraus, dass die zweifellos große Zahl der Älteren gemeinsame Interessen teilt und diese in einem organisierten Kollektiv in den demokratischen Willensbildungsprozess einbringt. Aber welche Interessen eint eine Alterskohorte und wie werden diese hierzulande vertreten und durchgesetzt? Folgt der großen Zahl eine Macht der Älteren?

Die heute lebenden Seniorinnen und Senioren sind eine historisch einzigartige Altengeneration. Die sozialstaatlich gut abgesicherte (westdeutsche) Altenpopulation, deren Lebensweg mehrheitlich durch wirtschaftliche Prosperität und sozialen Aufstieg geprägt ist, ist im Alter mit "üppigen" Ressourcen ausgestattet. Die "Woopies" (Well-off older people) konsumieren freudig und haben das Bild des sparsamen Verbrauchers längst abgelöst. Rentner und Pensionäre verfügen heute über ein hohes Bildungsniveau und vielseitiges Erfahrungswissen. Sie sind bis ins hohe Alter mehrheitlich gesundheitlich fit und mobil und können im Ruhestand, weitgehend frei von beruflichen und familiären Pflichten, ihre Zeit selbstbestimmt einteilen. Insbesondere Letzteres ist elementare Voraussetzung für gesellschaftliches Engagement. Dies spiegelt sich auch in den hohen Engagementquoten der über 65-Jährigen wider. Die gealterten westdeutschen Partizipationskohorten der 1960er und 1970er Jahre gelten wie keine andere Generation als organisationsfreudig und machtpolitisch versiert. Insbesondere die Geburtsjahrgänge 1940 bis 1950 traten während der "intellektuellen Wendezeit" in die traditionellen Großorganisationen ein, "marschierten durch die Institutionen" oder schlossen sich in den 1980er Jahren den sozialen Bewegungen an. Heute, 40 Jahre später, stellen sie in den beiden Volksparteien CDU und SPD das Gros der aktiven Parteibasis und prägen das mittlerweile ergraute Bild der beiden. Lokal verankert, sozial vernetzt und mit freier Zeit agieren sie als wichtige zivilgesellschaftliche Multiplikatoren. Die heutigen Ruheständler beweisen, dass mit dem Übergang in den Ruhestand nicht per se der Rückzug ins Private erfolgt und die gewonnenen Jahre keineswegs als passive "Restzeit" empfunden werden.

Die agilen "jungen Alten" revolutionieren das Bild vom Alter. Sie fühlen sich nicht nur im Schnitt zehn Jahre jünger, wie kürzlich die umfassende Generali Altersstudie 2013 darlegte, der große Teil möchte zudem nicht unter dem Etikett "Senior" zum "alten Eisen" gehören. Die mittlerweile in ihr sechstes oder siebtes Lebensjahrzehnt gekommenen "68er" haben den juvenilen Zeitgeist ihrer Jugend verinnerlicht. Seither ist die Maxime Forever Young über alle Altersgrenzen hinweg zum kulturellen Leitbild erhoben. Herrschten einst Altersstereotype vor, die für Armut, Vereinsamung und Gebrechlichkeit standen, unterstreicht das neue Kompetenzmodell die Potenziale und Chancen des Alters. Es mag paradox klingen: Alternde Gesellschaften werden erfahrener, zufriedener, aktiver und zugleich mental jünger sein. Diese Rahmenbedingungen legen die Frage nahe, ob damit neue Handlungs- und Machtoptionen für ein neu entflammtes Emanzipationsprojekt im Ruhestand erwachsen.

Alle Alten gleich?

Die rund 20 Millionen Menschen im Ruhestand eint ein gemeinsames Interesse: ein würdiges, selbstbestimmtes und materiell hinreichend abgesichertes Leben im Alter. Gleichwohl ist die Gruppe der Älteren höchst heterogen und unterscheidet sich nach Geschlecht, Vermögen, Milieu, Gesundheit und letztlich auch nach biografischen Merkmalen. Als "sozialrechtlich homogenisierte Großgruppe" sind Renten- und Pensionsempfänger umfassend von einer sozialstaatlichen Leistung abhängig, auch wenn die einzelnen Lebenslagen und der individuelle Bedarf verschieden sein mögen. Geht man von einer gemeinsamen Interessenlage von Personen im Ruhestand aus, stellt sich die Frage, unter welchen Prämissen sich ein "latentes" Interesse zu einem "manifesten" Interesse entwickelt und wann das "organisierte" Interesse zu kollektivem Handeln führt. Grundsätzlich gilt: Je geringer das Bewusstsein für das Interesse ist, desto schwächer ist auch die Motivation, es zu verwirklichen. Und je geringer die ideellen und materiellen Ressourcen sind, desto schwächer ist ein Interesse. Im Marxschen Sinne müsste auf der Ebene eines "emphatischen Generationenbewusstseins" der Übergang von einer "Generation an sich zu einer Generation für sich" erfolgen. Das Interesse an einem "guten Leben im Alter" wird von allen Generationen gleichermaßen geteilt, wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven: Während es für die ältere Generation im Ruhestand ein Gegenwartsinteresse mit unmittelbarem Lebensbezug und akuter Betroffenheit darstellt, sieht es die erwerbstätige Generation als ein mittelbares Zukunftsinteresse, das durch seine zeitliche Entfernung abstrakt erscheint. In diesem Sinne ist es nur verständlich, dass die materielle Absicherung, die Sicherung des erwirtschafteten Eigentums und das Bewahren des unmittelbaren Lebensumfeldes wichtige Konstanten des Wohlbefindens im Ruhestand darstellen. Sind diese Gegenwartsinteressen durch eine gefühlte Missachtung der Lebensleistung bedroht, etwa aufgrund einer ungünstigen Rentenentwicklung, regt sich Widerstand.

Haben Ältere aufgrund ihres Sozialstatus’ originäre Eigeninteressen und können divergierende Interessenlagen zu einem Ausbruch von Generationenkonflikten führen? Die heutigen Beziehungen zwischen Kinder-, Eltern- und Großelterngeneration sind so gut wie noch nie. Ältere helfen bei der Betreuung ihrer Enkel und stecken der jüngeren Generation regelmäßig einen kleineren oder größeren Geldbetrag zu. Die positiven intergenerationalen Beziehungen verleiten politische Akteure zu dem Schluss, dass sich diese auch auf die gesellschaftliche Sphäre übertragen lassen. Jüngere Studien belegen jedoch, dass die Ansichten von Älteren und Jüngeren bei sozialpolitischen Verteilungsfragen auseinanderliegen. Der Sozialwissenschaftler Harald Wilkoszewski lieferte erstmals einen Nachweis über einen vorhandenen Alterseffekt. Dieser besagt, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit sinkt, sozialpolitische Maßnahmen für gut zu erachten, die nicht die eigene Altersgruppe und die originären Eigeninteressen betreffen. Je älter die Person ist, zudem kinderlos, desto geringer ist die Bereitschaft, beispielsweise den Ausbau der Kinderbetreuung politisch mitzutragen. Ausgehend von diesem Befund wäre eine denkbare Konsequenz für politisches Handeln: Je älter die Gesellschaft ist, desto schwieriger ist es für die Politik, politische Entscheidungen etwa im Bereich Bildung und Familie durchzusetzen.

Politische Auseinandersetzungen werden in Demokratien idealtypisch durch Wahlen entschieden. Dabei gibt es eine feste Gleichung: Masse ist Macht. Schon heute ist jeder dritte Wahlberechtigte 60 Jahre oder älter. Dagegen stellten Wählerinnen und Wähler bis 30 Jahre bei der Bundestagswahl 2009 lediglich rund 16,4 Prozent des Elektorats dar. Bereits heute besitzt die Wählergruppe "60 plus" eine strukturelle Mehrheit bei Wahlen. Gewinnt eine Partei 50 Prozent in dieser Gruppe, gilt der Wahlsieg als sicher. Angesichts dieser Entwicklung ist die Frage berechtigt, ob Ältere durch diese elektorale Hegemonie ihre originären Eigeninteressen durchsetzen. Neben ihrem wachsenden Anteil sind ältere Bürgerinnen und Bürger überdurchschnittlich wahlaktiv. Bei vergangenen Bundestagswahlen lag ihre Wahlbeteiligung regelmäßig über 80 Prozent (Abbildung (vgl. PDF-Version)). Diese höhere Beteiligung erklärt sich durch Kohortenunterschiede. Jene westdeutschen Geburtskohorten, die in den prägenden Jugendjahren und im frühen Erwachsenenalter den Zweiten Weltkrieg und den deutschen Wiederaufbau erlebten, zeigen einen großen Bürgersinn und ein prinzipielles Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der repräsentativen Demokratie. Sie sehen im demokratischen Wahlgang eine Staatsbürgerpflicht. Wählen gehen als habitueller Akt muss erlernt werden, dies lässt zumindest die Wahlabstinenz der jüngeren Kohorten nachvollziehbar erscheinen.

Gleichwohl nahm die Gruppe der Nichtwähler in den vergangenen 20 Jahren in allen Altersgruppen zu. Bei der Bundestagswahl 2009 lag die Wahlbeteiligung über alle Altersgruppen hinweg bei 71,4 Prozent und erreichte damit einen historischen Tiefstand seit Bestehen der Bundesrepublik. Für eine alternde Demokratie spielt zunehmend der Umstand eine Rolle, dass zum statistischen Pool der Nichtwähler auch jene Personen gezählt werden, die zwar über das Wahlrecht verfügen, aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung dieses jedoch nicht mehr ausüben können. Mit einer längeren Lebenserwartung nimmt die Zahl pflegebedürftiger und demenzkranker Personen zu. Bereits heute leben in Deutschland 1,4 Millionen Demenzkranke, die Zahl soll sich bis 2050 verdoppeln.

Um Altersunterschiede im Wahlverhalten zu erklären, liefert die Wahlforschung zwei Ansätze: das Stadium des Individuums im Lebenszyklus und die Zugehörigkeit zu einer Geburtenkohorte. Die erste These erklärt die Unterschiede zwischen Jung und Alt damit, dass Alters- beziehungsweise Lebenszykluseffekte als direkte Korrelate des Alterns existieren. Politische Präferenzen, Einstellungen und Wahlentscheidungen orientieren sich zyklisch an bestimmten Lebensabschnitten. Solche Effekte seien auf psychologische Erfahrungen im Lebensverlauf zurückzuführen. Mit fortschreitendem Alter rücken demnach zentrale Werte des Konservatismus wie Sicherheit, Ordnung und Stabilität in den Mittelpunkt der politischen Präferenz. Menschen seien eher am Erhalt des Status quo interessiert und orientierten sich an der Stabilität des subjektiven Wohlbefindens. Die gerontologische Persönlichkeitsforschung sieht auf der Individualebene mit steigenden Lebensjahren eine zurückgehende Offenheit für Neues. Gleichzeitig nehme mit mehr Lebenserfahrung die Wahrscheinlichkeit zu, sozial kompetent und anpassungsfähig zu sein. Für eine alternde Gesellschaft bedeutet diese Charakterisierung einerseits eine höhere Zufriedenheit und Gelassenheit durch Milde und Weisheit als Kriterien eines kulturellen Selbstverständnisses. Andererseits lässt sich vermuten, dass Seniorengesellschaften eine eher fortschrittsskeptische, gar veränderungsverweigernde Haltung einnehmen. Die der älteren Wählerschaft zugeschriebenen Altersmerkmale versuchen sich die Unionsparteien als strategischen Vorteil zunutze zu machen, indem sie etwa die innere Sicherheit oder die Sicherung der Rente als wahlpolitische Themen bedienen oder einem gesellschaftlichen (Werte-)Wandel skeptisch gegenüberstehen. Tatsächlich gab es in der Geschichte der Bundesrepublik eine Präferenz der über 60-Jährigen für die Unionsparteien und die FDP: Das bürgerliche Lager gewann stets die Mehrheit der Zweitstimmen der über 60-jährigen Wählerinnen und Wähler.

Die zweite These, die "Kohortenthese", erklärt die hohe Zustimmung der älteren Wählerschaft für die Unionsparteien abweichend durch Kohorten- beziehungsweise Generationeneffekte. Eine in derselben Zeitphase geborene Gruppe teilt prägende Sozialisationserfahrungen als Jugendliche und junge Erwachsene, die maßgeblich auf die politischen Einstellungen wirken. Die Erfahrungen als Erstwähler sind hier entscheidend. Der Konservatismus der Älteren, die noch unter der Regierungszeit Konrad Adenauers politisch sozialisiert wurden, ist demnach lediglich einem "transitorischen Zustand" geschuldet. Die elektorale Stärke dieser Kohorte ist dadurch zu erklären, dass die Unionsparteien nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Ära der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Stabilität in der Bundesrepublik regierten. Die These findet auch darin ihre Bestätigung, dass die SPD bei der Bundestagswahl 2009 unter Männern über 60 Jahren in Westdeutschland ihr bestes Ergebnis erzielte. Deren politische Sozialisation fiel in die Regierungszeit Willy Brandts.

Die ältere Wählerschaft orientiert ihre Wahlentscheidung nicht allein an single issues wie Rente oder Pflege zur Wahrung ihres sozialpolitischen Besitzstands. Dies indizieren zumindest die fehlenden Wahlerfolge der Rentnerparteien. Ältere Wählerinnen und Wähler legen nach dem Übergang in den Ruhestand ihre bisherigen politischen Sympathien nicht ab. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass Ältere sich wahltaktisch anders verhalten als Erwerbstätige. Diesem denkbaren Umstand tragen Parteien jeglicher Couleur durch Ausrichtung ihres Politikangebotes Rechnung. Allen voran haben die Sozialstaatsparteien CDU/CSU und SPD die alternde Wählerklientel insbesondere in Wahlkampfzeiten fest im Blick. Die wiederkehrende Rentendebatte gerade im Vorfeld von Bundestagswahlen ist unübersehbar. Insbesondere die Volksparteien neigen zu einer seniorenfreundlichen Politik, welche die Gruppe der Älteren hinsichtlich finanzieller Sanierungsmaßnahmen verschont, um die wahlpolitische Macht einer numerisch wachsenden Wählerschicht nicht gegen sich aufzubringen.

Derzeit ist in Deutschland keine breite politische Formation der (jungen) Alten zu beobachten. Zu heterogen sind ihre Interessen, Lebenslagen und Bedürfnisse, als dass auf dieser Grundlage ein gemeinsames Bewusstsein im Sinne einer Interessenvertretung entlang des Alters heranwachsen könnte. Für eine Interessenseparierung scheint es bislang auch keinen Anlass zu geben: Das Organisations- und Institutionengefüge fußt hierzulande auf der Idee der Generationensolidarität, die fundamental die politische Kultur und die Leitbilder prägt. Alle politischen Akteure fühlen sich normativ einer "Politik für alle Lebensalter" verpflichtet. Dieser normative Konsens zugunsten einer sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe der Älteren machte es möglich, dass deren spezifische Interessen innerhalb von altersübergreifenden Organisationen aggregiert, artikuliert und vermittelt werden konnten. Demgemäß ist Seniorenpolitik als eine themenübergreifende Querschnittsaufgabe zu verstehen, die in hohem Maße mit anderen Politikfeldern verzahnt ist. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Interessen der Älteren in sozialer, materieller und partizipativer Hinsicht agieren im Feld der Seniorenpolitik ganz unterschiedliche Akteure. Indes: Einige dieser Interessenvertreter sind mitgliederstark, präsentieren sich als machtbewusste pressure group und zeigen sich äußerst konfliktbereit.

Der Dachverband BAGSO (Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen) vertritt über 100 unterschiedliche, meist an Geselligkeit ausgerichtete Vereinigungen. Diese innere Heterogenität erschwert eine gemeinsame Positionsfindung. Gleichwohl ist zu beobachten, dass die BAGSO zunehmend in sozialpolitischen Fragen Stellung bezieht. Wenngleich nur in beratender Funktion, so bringen Ältere ihre Interessen in den vielen Seniorenbeiräten und -parlamenten auf kommunaler und Landesebene in den politischen Prozess ein.

Für die acht DGB-Gewerkschaften stellt sich zunehmend die eigene Seniorenfrage. Jedes fünfte Mitglied steht außerhalb des Erwerbslebens. Weitgehend unbemerkt zählen die Arbeiternehmervertretungen heutzutage mit zu den größten Organisationen für Ältere. Aufgrund der Kopplung von Lohn- und Rentenentwicklung vertreten die gewerkschaftlichen Solidargemeinschaften die Interessen ihrer 1,3 Millionen Gewerkschaftsseniorinnen und -senioren indirekt stets mit. Durch gestiegene Partizipationsforderungen der langjährigen Mitglieder sehen sie sich zunehmend mit der Aufgabe konfrontiert, die Interessen der verrenteten Älteren und der erwerbstätigen Jüngeren auszubalancieren.

Die Sozialverbände treten seit einigen Jahren zunehmend lauter als Fürsprecher der Älteren in Erscheinung. Allein der Sozialverband VdK Deutschland zählt 1,6 Millionen Mitglieder, zusammen mit dem Sozialverband Deutschland (SoVB) und der ostdeutschen Volkssolidarität sind etwa 2,4 Millionen meist ältere Menschen organisiert. Mittlerweile vergeht keine rentenpolitische Debatte, ohne dass die ehemaligen Kriegsopferverbände für ihre Klientel in die Bresche springen. Mit Drohgebärden wie "20 Millionen Rentner sind 20 Millionen Wähler!" ermahnte der langjährige Präsident des Sozialverbands VdK, Walter Hirrlinger, die Politik, in sozialpolitischen Fragen nicht zulasten der Rentner zu entscheiden. Die Sozialverbände werden im politischen Berlin tatsächlich als mächtige Veto-Akteure wahrgenommen, wenngleich ihre eigentliche Gestaltungsmacht begrenzt ist.

Der Interaktionsmacht einer Drohung, also der Ankündigung einer Sanktion, bedienen sich bisweilen auch die parteieigenen Seniorenorganisationen. Insbesondere die Senioren-Union der CDU baut mit dem Verweis auf die Zahl der Älteren in Partei und Gesellschaft eine wirksame Drohkulisse auf, sobald Jüngere Kritik an politischen Entscheidungen äußern, die ihre Gegenwartsinteressen betreffen. So musste beispielsweise der junge CDU-Politiker Jens Spahn den Aufruf zum Boykott seiner Wiederwahl durch die Senioren-Union erfahren, als er im Jahr 2008 öffentlich die von der Vorgängerregierung beschlossene Rentengarantie infrage stellte.

Antizipierte Macht der Älteren

In CDU und SPD stellen mittlerweile Mitglieder über 60 Jahre die Mehrheit, unter 30-Jährige stellen in beiden Parteien nicht einmal mehr acht Prozent. Die meisten der langjährigen Mitglieder über 60 Jahre wollen ihr aktives Engagement in gewohnter Weise aufrechterhalten, ohne jedoch Politik als Beruf auszuüben. Diese Altersgruppe ist in den höheren Führungsgremien der Parteien und Parlamente unterrepräsentiert. Bundestagsabgeordnete über 60 Jahre sind im aktuellen Deutschen Bundestag (17. Wahlperiode) gerade einmal mit 16,4 Prozent vertreten. Gleichwohl kommt den älteren Mitgliedern als präsente Mehrheit bei der Kandidatenauswahl und in Nominierungsversammlungen große Bedeutung zu. Mandats- und Amtsträger sind an ihre lokale Parteibasis rückgekoppelt und müssen für sich und ihre (erneute) Kandidatur werben. Dass die Altersstruktur der Mitgliederbasis insbesondere bei der Wahl von Ämtern und Mandaten eine Rolle spielt, zeigt sich etwa daran, dass Funktionäre und Mandatsträger mancherorts von vorneherein Wünsche und Erwartungen aufnehmen, um vermuteten Konfliktlagen prophylaktisch entgegenzuwirken und um Wohlwollen und Unterstützung für ihre Kandidatur zu erhalten. In diesem Sinne kommt den Älteren aufgrund ihrer großen Zahl eine antizipierte Macht zu. Gewiss, im Wettbewerb um Wählerstimmen formulieren etablierte Parteien trotz zunehmender Alterung der eigenen Basis Politikinhalte, die Jung und Alt, Erwerbstätige und Rentner ansprechen. Das Ausbalancieren der Interessen von und zwischen Alt und Jung wird jedoch zur zentralen Vermittlungsaufgabe der Politik.

In einer alternden Gesellschaft wird Anerkennung als Würdigung von subjektiver und kollektiver Lebensleistung eine wichtige Rolle spielen. Solange dabei die Gegenwartsinteressen unversehrt bleiben und politische Entscheidungen keine nachteilige persönliche Betroffenheit auslösen, entschließen sich Ältere nicht, sich einer breiten, auf einer singulären Interessenlage basierenden Bewegung anzuschließen. Die passive Repräsentationsthese behält ihre Gültigkeit, wonach sich ältere Menschen in ihren Interessen von Jüngeren adäquat vertreten fühlen. Indes: Wenn sich bei klammen Finanzkassen, insbesondere auf der kommunalen Ebene, verteilungspolitische Fragen etwa dahingehend stellen, ob Kindergärten gebaut und Schulen saniert oder Gehwege barrierefrei gestaltet werden sollen, sind Konflikte nicht auszuschließen.

Wolfgang Streeck empfiehlt einen besonnenen Umgang mit den sich veränderten Mehrheitsverhältnissen: "Eine kluge Politik in einer alternden Gesellschaft wird gemeinsame Interessen von Alt und Jung in den Vordergrund stellen und die sozialen Bindungen zwischen den Generationen pflegen. (…) Eine in diesem Sinne gute Politik ist schwierig, aber sie ist auch möglich, nicht zuletzt, weil es der Politik selber gegeben ist, durch Wahl einer geeigneten öffentlichen Sprache, insbesondere durch Vermeidung spalterischer Rhetorik, die Probleme so zu definieren, dass sie einer gemeinsamen und ausgleichenden Bearbeitung zugänglich bleiben." Deutschland wird weiter und vor allem stärker altern. Doch in einer Gerontokratie, einer Herrschaft der Alten, werden wir nicht leben, wenn die Interessen von Jung und Alt weiterhin solidarisch in Einklang gebracht werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Welt vom 12.4.2008.

  2. 2009 erhielten 2,5 Prozent der über 65-Jährigen eine staatliche Grundsicherung. Gleichwohl bestehen zwischen Pensionsbezügen und Rentenleistungen erhebliche Unterschiede. Vgl. Jan Goebel/Markus M. Grabka, Zur Entwicklung der Altersarmut in Deutschland, DIW-Wochenbericht 25/2011, S. 5.

  3. Bereits heute ist die Nachfrage der über 50-Jährigen an privaten Konsumgütern und Dienstleistungen für annähernd 50 Prozent der Ausgaben verantwortlich. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.), Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2010, S. 460.

  4. Vgl. Thomas Gensicke, Freiwilliges Engagement älterer Menschen, in: ders./Sibylle Picot/Sabine Geiss, Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004, Wiesbaden 2004, S. 265–301.

  5. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie, Bonn 2007, S. 268.

  6. Vgl. Bettina Munimus, Alternde Volksparteien, Bielefeld 2012.

  7. Vgl. Generali Zukunftsfonds/Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.), Generali Altersstudie 2013, Frankfurt/M. 2012, S. 532.

  8. Gerd Göckenjan, Zur Wandlung des Alterbildes seit den 1950er Jahren im Kontext und als Folge der Großen Rentenreform von 1957, in: Deutsche Rentenversicherung, (2007) 2–3, S. 137.

  9. Vgl. Ulrich Willems/Thomas von Winter, Interessenverbände als intermediäre Organisationen, in: dies. (Hrsg.), Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 9f.

  10. Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaften, Frankfurt/M. 2005, S 203.

  11. Vgl. Jörg Tremmel, Generationengerechtigkeit in der Verfassung, in: APuZ, (2005) 8, S. 18.

  12. Vgl. Generali Altersstudie (Anm. 7); Shell Deutschland (Hrsg.), 16. Shell-Jugendstudie, Frankfurt/M. 2010.

  13. Vgl. Harald Wilkoszewski, Alte versus Junge, in: Manuela Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hrsg.), Deutsche Kontraste 1990–2010, Frankfurt/M. 2010, S. 355–386.

  14. Andere Untersuchungen zeigen, wie sich altersspezifische Einstellungs- und Verhaltensunterschiede auf das Wahlverhalten auswirken. Die Wahlabsicht sei weniger durch rein altersspezifische Interessenlagen als vielmehr durch die Determinante der Elternschaft beeinflusst. Vgl. Michael Bergmann/Laura Konzelmann/Hans Rattinger, Deutschland auf dem Weg in die "Rentner-Demokratie"?, in: Politische Vierteljahresschrift, 53 (2012) 3, S. 371–393.

  15. Vgl. Bundeswahlleiter (Hrsg.), Wahl zum 17. Deutschen Bundestag, Heft 4, Wiesbaden 2010, S. 8.

  16. Vgl. Achim Goerres, Das Wahlverhalten älterer Menschen, in: Jürgen Kocka/Martin Kohli/Wolfgang Streeck (Hrsg.), Altern in Deutschland, Bd. 8, Stuttgart 2009, S. 304f.

  17. Vgl. Der Tagesspiegel vom 5.9.2012.

  18. Vgl. Ursula M. Staudinger, Was ist Alter(n) der Persönlichkeit?, in: Heinz Häfner/dies. (Hrsg.), Was ist Alter(n)?, Berlin 2008, S. 87f.

  19. Vgl. Manfred Schmidt, Die Demokratie wird älter, in: Peter Graf Kielmansegg/Heinz Häfner (Hrsg.), Alter und Altern, Berlin 2012, S. 174.

  20. Sighard Neckel, Altenpolitischer Aktivismus, in: Leviathan, 21 (1993) 4, S. 542.

  21. Vgl. Wolfgang Schroeder/Bettina Munimus/Diana Rüdt, Seniorenpolitik im Wandel, Frankfurt/M. 2010, S. 53.

  22. Vgl. M. Schmidt (Anm. 19), S. 166.

  23. Vgl. Wolfgang Schroeder/Bettina Munimus/Diana Rüdt, Integrierende oder separierende Interessenvertretungspolitik?, in: Zeitschrift für Sozialreform, 54 (2008) 3, S. 226.

  24. Vgl. Wolfgang Schroeder/Bettina Munimus, Gewerkschaften als Interessenvertreter der älteren Generation?, in: WSI Mitteilungen, 64 (2011) 3, S. 107–113.

  25. Vgl. W. Schroeder/B. Munimus/D. Rüdt (Anm. 23), S. 296ff.

  26. Vgl. B. Munimus (Anm. 6), S. 322.

  27. Vgl. S. Neckel (Anm. 20), S. 542.

  28. Wolfgang Streeck, Droht Deutschland eine Rentnerdemokratie?, in: MPIfG Jahrbuch 2009–2010, S. 51.

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Dr. rer. pol., geb. 1980; Lehrbeauftragte an der Universität Kassel; Projektmanagerin in der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft, Schumannstraße 5, 10117 Berlin. E-Mail Link: munimus@eaf-berlin.de