Die Jugend wird immer brutaler", "unsere Kinder werden zu Tyrannen", "Eltern versagen völlig bei der Erziehung", "gewalttätige, archaische Erziehungsmethoden von Migrantenfamilien", so und ähnlich lauten tägliche Horrormeldungen. Doch wie weit können diese Feststellungen jenseits von Einzelbeobachtungen durch empirische Forschungsbefunde untermauert werden? Welche Details und welche Analysen sollten dabei berücksichtigt werden? Über die gesamte Lebensspanne betrachtet markiert die Jugendphase in allen Gesellschaften einen gefährdeten Schwellenzustand: Sie stellt ein Stadium physischer (Pubertät) und psychischer Umbrüche dar, in der vor allem die Frage der Identität eine zentrale Rolle spielt. Jugendliche können einerseits für ihre Handlungen und Verfehlungen nicht mehr den Schutzraum des Kindes beanspruchen, andererseits haben sie aber auch noch nicht die uneingeschränkten Möglichkeiten der Partizipation an der Lebenswelt des Erwachsenen.
Kulturhistorische Techniken wie Initiations- und Übergangsriten haben schon immer versucht, dieses anthropologische Datum des biografischen Überganges zu entschärfen. In modernen Gesellschaften haben jedoch solche überindividuellen Kulturtechniken an Relevanz eingebüßt; die Bewältigung dieses Überganges – vom Kind zum Erwachsenen – ist mehr denn je eine Frage des Einzelnen geworden.
Zwar widerspricht die Psychologie der Vorstellung, die Jugend sei immer und unausweichlich eine Zeit heftiger Krisen.
Die Erfahrung sozialer Anomie (das Gefühl, den eigenen "Platz in der Gesellschaft" noch nicht gefunden zu haben) scheint im Jugendalter am stärksten ausgeprägt zu sein. Die Adoleszenz ist für männliche wie weibliche Jugendliche häufig durch ein Fehlen an sozialer Einbettung, normativer Führung und klarer Verantwortlichkeiten gekennzeichnet. Delinquenz ist aus dieser Perspektive als eine Form zu verstehen, Grenzen zu testen und an der Welt der Erwachsenen zu partizipieren; sie ist auch als Zeichen eines jugendlichen Autonomieanspruchs zu werten.
Was den lebensgeschichtlichen Verlauf von Gewalthandlungen betrifft, so heben einschlägige Studien hervor, dass die Gewaltrate ab dem 13. Altersjahr stark ansteigt, aber spätestens nach dem 20. Jahr wieder absinkt. Eine genauere Analyse aus dem Jahr 1993
Die Delinquenz von Spätstartern weist eine eher vorübergehende Natur auf und ist häufig weniger gravierend; sie ist vielfach ein "Ausprobieren" sozialer Rollen und sozialer Normverletzungen, die abgelegt werden, wenn dieses Verhalten aus subjektiver Perspektive als nicht mehr funktional betrachtet wird. Vor allem bei der Billigung von Gewalt wird in der Forschung von einem Aging-out-Phänomen gesprochen: Mit zunehmendem Alter und der adäquateren Bewältigung von Entwicklungsaufgaben wird Gewalt kognitiv als eine Strategie der Konfliktlösung unattraktiver. Längsschnittstudien zeigen, dass nur rund ein bis vier Prozent aller Delinquenten ihre erste Straftat nach dem Alter von 17 Jahren begehen; ein adult onset crime (Beginn im Erwachsenenalter) scheint daher eher selten zu sein.
In einigen Studien wird auf die erhöhte Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte hingewiesen.
Darüber hinaus ist in Erinnerung zu rufen, dass die Lebenswelten von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte heterogener und spannungsreicher sind als die der Einheimischen. Sie müssen sowohl elterliche Inkonsistenzen und Unklarheiten als auch kulturelle Inkonsistenzen, unterschiedliche Anforderungen und Erwartungen austragen. Bei ihnen kommt darüber hinaus ein Konfliktfeld hinzu, das in dieser Form bei Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte nicht vorhanden ist: das Themenspektrum um ihre Integration, Assimilation, Separation sowie ethnische Diskriminierung im Alltag.
Rolle der Familie für das Gewalthandeln
Die Beschäftigung mit den Ursachen delinquenten Verhaltens kommt um die Institution der Familie nicht umhin, gehen doch gerade von ihr die bedeutendsten Impulse für Sozialisation und individuelle Entwicklung junger Menschen aus. Kulturhistorisch war Familie stets der Ort der primären Einweisung des Menschen in die Welt: In der Familie erfahren Kinder sowohl zuerst als auch am intensivsten elementare Gefühle wie Sicherheit, Geborgenheit, Liebe, Respekt oder Hilfsbereitschaft. Die eigenen Eltern sind die ersten Lehrerinnen und Lehrer, Bildnerinnen und Bildner des Menschen. Deshalb kann Familie sowohl ein zentraler Protektor als auch – im ungünstigen Fall – ein zentraler Risikofaktor im Leben junger Menschen sein. So zeigen beispielsweise Ergebnisse der Bindungstheorie, dass Kinder mit stabilen Bindungen an ihre primären Bezugspersonen über besser entwickelte soziale Fähigkeiten verfügen, während unsichere frühkindliche Bindungen, insbesondere bei Jungen, häufiger mit aggressivem Verhalten einhergehen.
Vor allem bei kindlichen Gewalttaten wird davon ausgegangen, dass die Erfahrung von Gewalt in der Erziehung den Kindern modellhaft vorführt, wie Konflikte mit Gewalt zu lösen sind.
Als psychologische Erklärung aus Resultaten der Bindungsforschung ist anzunehmen, dass Kinder, die im Elternhaus Gewalt erleiden, vermutlich zugleich bereits im Kleinkind- und Säuglingsalter nicht über verlässliche Bezugspersonen verfügten, somit von früh an eher misstrauisch gegenüber ihrer Umwelt waren und diese eher feindselig wahrgenommen haben. Im Kontakt mit anderen Kindern nehmen sie sich häufiger von diesen abgelehnt oder bedroht wahr, interpretieren die Handlungen anderer eher als feindselig oder provokativ und fühlen sich stärker genötigt, der vermeintlichen Bedrohung durch Gegenangriffe zuvorzukommen. Erlernte gewalttätige Muster werden dann in ähnlichen biografischen Kontexten wiederholt.
Nicht zuletzt zeigen Studien, dass in einem aggressiven Familienklima aufgewachsene Jugendliche nicht nur gegenüber Gleichaltrigen aggressiver waren, sondern sich auch als Erwachsene gegenüber ihren Kindern feindseliger verhielten als relativ unbelastet oder emotional akzeptiert aufgewachsene Jugendliche.
In anderen Arbeiten, so etwa bei der sehr aufwendigen und anspruchsvollen Längsschnittstudie "Rochester Youth Development Study",
Fasst man darüber hinaus die Ergebnisse familienpsychologischer Forschung zusammen, so sind sowohl für die Entwicklung als auch für die Verfestigung von Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen der Erziehungskontext beziehungsweise die elterlichen Erziehungsstile als eine bedeutsame Dimension herauszustellen.
Auf der anderen Seite können in der Familie natürlich auch Ressourcen identifiziert werden: So hat sich etwa gezeigt, dass ein als positiv erlebtes Familienklima Gewalt hemmende Wirkungen entfaltet. Insofern ist die Deutung naheliegend, dass ein harmonisch erlebtes Familienklima Kindern und Jugendlichen positive Orientierungen und Handlungssicherheiten vermittelt, die es ihnen ermöglichen, in gewaltförmigen Situationen sowohl gewaltfreie Konfliktlösungen zu wählen, als auch gegenüber Konformitätsdruck von Gleichaltrigen immun zu sein, indem sie beispielsweise auf die emotionale elterliche Unterstützung zurückgreifen können. Vermutlich "schützen" Eltern, die ihren Kindern im häuslichen Kontext Anerkennung, Akzeptanz und Verbundenheit bieten, diese davor, in Gewalthandlungen involviert zu werden.
Gilt das für alle Elternhäuser? Einige Ergebnisse legen nahe, hier schicht- und milieuspezifische Aspekte zu berücksichtigen, weil dieselben Erziehungspraktiken je nach Kontext unterschiedliche Auswirkungen zeigen können: So wirkte sich beispielsweise laut Studien aus den USA
Präventionsmaßnahmen
Wenn über Prävention und Intervention gesprochen wird, ist vorab zu klären, ob diese von ihrer Intention lobenswerten Maßnahmen auch immer die erwünschten Effekte zeitigen. Denn in bestimmten Konstellationen können Interventionen sogar Gewalt steigern.
Um die generelle Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen einschätzen zu können, muss die Zielgruppe im Vorhinein spezifiziert werden. Dabei sind universelle Ansätze (also jene, die beispielsweise alle Jugendlichen, alle Kinder oder alle Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichten etc. in den Fokus der Prävention nehmen) weniger effektiv als selektive Ansätze, die eher bei jenen Gruppen ansetzen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, das unerwünschte Verhalten auszubilden.
Methodisch ist bei allen Präventionsprogrammen das Problem der Effektivitätsmessung eine Herausforderung: Denn mit Prävention sind stets Maßnahmen gemeint, die vorbeugend wirken sollen und letztlich die Ausbildung beziehungsweise die Ausprägung eines unerwünschten Ereignisses oder eines unerwünschten Persönlichkeitsmerkmales (wie der Aggression oder der antisozialen Persönlichkeit) verhindern sollen. Erfolg ist deshalb schwer nachzuweisen, weil es darum geht, etwas nicht Vorhandenes, nicht Ausgebildetes oder die Unterdrückung eines solchen Merkmales direkt an das Wirken einer Maßnahme zu binden. Denn es ist ja nicht der Normalfall, dass sich solche Merkmale immer ausbilden, da ja auch unabhängig von Präventionsmaßnahmen eine Vielzahl von Menschen ohne antisoziale Tendenzen aufwächst.
Darüber hinaus sollten Programme, die gezielt Kompetenzen fördern, auch nachweisen können, dass diese Entwicklung keine natürliche Veränderung ist, sondern Kompetenzzuwächsen durch die Intervention geschuldet ist. Und es sollte gezeigt werden können, dass die im Programm erlernten Verhaltensweisen einen Transfer zulassen oder tatsächlich auch transferiert werden. Konkret heißt das, dass diese im alltäglichen Handeln zum Einsatz kommen; so etwa, wenn das Kind während der Maßnahme eine Reduzierung seiner Gewalttätigkeit zeigte, sich diese auch später in seinem Alltag wiederfinden lässt und nicht auf die spezifische Trainingssituation begrenzt war.
Gewaltprävention: Eine übergreifende Aufgabe
Jenseits dieser methodischen Anforderungen ist zu erwähnen, dass Gewaltpräventionsprogramme sich nicht nur auf das Individuum beziehungsweise auf die Familie beschränken dürfen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen sein müssen und den erweiterten sozialen Kontext (wie die Rolle der Gemeinde, die Rolle der Medien, Attraktivität des Quartiers, gesellschaftliche Notlagen) in den Blick nehmen müssen.
Auch sind Präventionsprogramme, die Gewalt im Kindesalter einzudämmen versuchen, besonders dann wirksam, wenn sie bei den Eltern beziehungsweise an deren Erziehungskompetenzen ansetzen. So konnte beispielsweise bei aggressiv-verhaltensauffälligen vierjährigen Kindergartenkindern (also einer selektiven Gruppe) mittels eines Elterntrainings und durch Einsatz von Familienhelfern das auffällige Verhalten deutlich reduziert werden. Die Effekte blieben auch nach einem Jahr stabil.
Im Allgemeinen wird bei jüngeren Kindern von einer kindzentrierten Sicht eher abgeraten; favorisiert werden familienzentrierte Maßnahmen. Denn in dieser Phase hat die Familie noch den stärksten Einfluss auf das kindliche Verhalten. Jedoch erweisen sich Elterntrainings allein als wenig wirksam, wenn Familien mehrfachen Belastungen und Risiken ausgesetzt sind (etwa Partnerschaftsprobleme, psychische Auffälligkeiten, soziale Isolation, sozioökonomische Benachteiligungen). Unter diesen Bedingungen ist nur mit mäßigen Erfolgen zu rechnen. Hier sind therapeutische sowie konkrete Verbesserungen der Lebenslage von Familien anzustreben.
Interventionsprogramme gegen jugendliche Gewaltbelastungen versprechen eher dann Erfolge, wenn sie recht früh beginnen (etwa in der Altersphase von der 3. bis 5. Klasse, in der sich das problematische Verhalten noch nicht verfestigt hat); und wenn sie im Training so durchgeführt werden, dass riskante (gefährdete) und nicht-riskante Jugendliche in einer Gruppe zusammen sind, also nicht nur eine "Behandlung" von "Gefährdeten" erfolgt. Ein "Mix" von "antisozialen" und "prosozialen" Jugendlichen scheint eher hilfreich zu sein.
Im Allgemeinen scheinen Trainings zur Förderung sozialer Kompetenzen Erfolg versprechend zu sein: Jugendliche, die an solchen Programmen teilnahmen, zeigten weniger antisoziale Verhaltensweisen. Dabei war zu beobachten, dass nach dem Training die kognitiven Fähigkeiten deutlich zunahmen und die Trainings auch vier bis sechs Monate nach der Maßnahme noch ihre Wirkung zeigten. Die "harten Daten des antisozialen Verhaltens, also das sichtbare Verhalten," nahmen hingegen nach der Maßnahme nur tendenziell ab.
Für die Interventionsforschung gilt als ein zentrales Prinzip, dass frühe Interventionen nur dann erfolgreich sind, wenn sie an die Familie beziehungsweise die familialen Werte und die Verwirklichung dieser Werte in Alltagsroutinen anknüpfen, hierbei also auch spezifische kulturelle Einflussfaktoren berücksichtigen.
Mit Blick auf Familien mit Zuwanderungsgeschichte heißt das, dass Interventionsmaßnahmen und Trainingsprogramme an deren alltagsweltliche Überzeugungen anschlussfähig sein sowie sprachliche und kulturelle Sensibilität zeigen müssen, wenn sie Effekte bei den betroffenen Kindern und Familien bewirken sollen.
Letztlich sind die Voraussetzungen für die Integration neuer Werte und Überzeugungen (wie etwa des Prinzips der Gewaltfreiheit) in die eigene Wertestruktur von Angeboten und Anforderungen in einem von dem Einzelnen akzeptierten sozialen Milieu abhängig. Lediglich von außen verordnete Anweisungen haben hingegen eher geringe Auswirkungen auf die intrinsische Motivation oder auf ein auf Überzeugungen basierendes Handeln.