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Familiale Einflussfaktoren auf delinquentes Verhalten Jugendlicher

Haci-Halil Uslucan

/ 13 Minuten zu lesen

Die Jugend wird immer brutaler", "unsere Kinder werden zu Tyrannen", "Eltern versagen völlig bei der Erziehung", "gewalttätige, archaische Erziehungsmethoden von Migrantenfamilien", so und ähnlich lauten tägliche Horrormeldungen. Doch wie weit können diese Feststellungen jenseits von Einzelbeobachtungen durch empirische Forschungsbefunde untermauert werden? Welche Details und welche Analysen sollten dabei berücksichtigt werden? Über die gesamte Lebensspanne betrachtet markiert die Jugendphase in allen Gesellschaften einen gefährdeten Schwellenzustand: Sie stellt ein Stadium physischer (Pubertät) und psychischer Umbrüche dar, in der vor allem die Frage der Identität eine zentrale Rolle spielt. Jugendliche können einerseits für ihre Handlungen und Verfehlungen nicht mehr den Schutzraum des Kindes beanspruchen, andererseits haben sie aber auch noch nicht die uneingeschränkten Möglichkeiten der Partizipation an der Lebenswelt des Erwachsenen.

Kulturhistorische Techniken wie Initiations- und Übergangsriten haben schon immer versucht, dieses anthropologische Datum des biografischen Überganges zu entschärfen. In modernen Gesellschaften haben jedoch solche überindividuellen Kulturtechniken an Relevanz eingebüßt; die Bewältigung dieses Überganges – vom Kind zum Erwachsenen – ist mehr denn je eine Frage des Einzelnen geworden.

Zwar widerspricht die Psychologie der Vorstellung, die Jugend sei immer und unausweichlich eine Zeit heftiger Krisen. Nichtsdestotrotz gelten Devianz, Rebellion und Fehlanpassungen als typische Symptome dieser Phase und markieren eine gewisse Problembelastetheit dieses Lebensabschnittes. Studien, die den Zusammenhang zwischen psychologischem Wohlbefinden und Alter untersuchten, verdeutlichen, dass in fast allen Bereichen des Lebens wie Familie, Arbeit oder materieller Wohlstand Menschen unter 30 Jahren am unzufriedensten sind, sich jedoch hinsichtlich ihrer körperlichen Gesundheit durchweg positiver als ältere Gruppen zeigen.

Die Erfahrung sozialer Anomie (das Gefühl, den eigenen "Platz in der Gesellschaft" noch nicht gefunden zu haben) scheint im Jugendalter am stärksten ausgeprägt zu sein. Die Adoleszenz ist für männliche wie weibliche Jugendliche häufig durch ein Fehlen an sozialer Einbettung, normativer Führung und klarer Verantwortlichkeiten gekennzeichnet. Delinquenz ist aus dieser Perspektive als eine Form zu verstehen, Grenzen zu testen und an der Welt der Erwachsenen zu partizipieren; sie ist auch als Zeichen eines jugendlichen Autonomieanspruchs zu werten.

Was den lebensgeschichtlichen Verlauf von Gewalthandlungen betrifft, so heben einschlägige Studien hervor, dass die Gewaltrate ab dem 13. Altersjahr stark ansteigt, aber spätestens nach dem 20. Jahr wieder absinkt. Eine genauere Analyse aus dem Jahr 1993 zeigt, dass es hier sinnvoll ist, zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden: eine, deren Gewalthandlungen sich weitestgehend auf die Adoleszenz beschränkt (adolescence-limited), und eine andere, die über die gesamte Lebensphase Gewalthandlungen zeigt (life-course-persistent antisocial behaviour). So lassen sich bei der Entwicklung aggressiven Verhaltens Frühstarter von Spätstartern unterscheiden, wobei das Alter von 14 Jahren als "Marker" zugrunde gelegt wird: Während Frühstarter oft durch eine häusliche Umgebung mit geringer elterlicher Aufsicht, negativen Erziehungspraktiken, aggressivem Verhalten während der Kindheit und einer Ablehnung durch Gleichaltrige charakterisiert sind, weisen Spätstarter während der Kindheit nur in geringem Maße aggressive Verhaltensweisen auf. Vielfach kommen Eltern von Spätstartern ihrer Aufsichtspflicht eher mäßig nach und haben selbst häufig Partnerschaftskonflikte.

Die Delinquenz von Spätstartern weist eine eher vorübergehende Natur auf und ist häufig weniger gravierend; sie ist vielfach ein "Ausprobieren" sozialer Rollen und sozialer Normverletzungen, die abgelegt werden, wenn dieses Verhalten aus subjektiver Perspektive als nicht mehr funktional betrachtet wird. Vor allem bei der Billigung von Gewalt wird in der Forschung von einem Aging-out-Phänomen gesprochen: Mit zunehmendem Alter und der adäquateren Bewältigung von Entwicklungsaufgaben wird Gewalt kognitiv als eine Strategie der Konfliktlösung unattraktiver. Längsschnittstudien zeigen, dass nur rund ein bis vier Prozent aller Delinquenten ihre erste Straftat nach dem Alter von 17 Jahren begehen; ein adult onset crime (Beginn im Erwachsenenalter) scheint daher eher selten zu sein. Dabei kann die häufig besorgte Rede von der "Verjüngung" der Delinquenzbelastung sowohl als ein sozialpolitisches Signal als auch eine "günstige Botschaft" gedeutet werden, weil dann nämlich eher zu erwarten ist, dass diese Jugendlichen vermutlich am Beginn einer "delinquenten Karriere" stehen und erzieherische Bemühungen eher einen Erfolg zeitigen werden.

In einigen Studien wird auf die erhöhte Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte hingewiesen. Doch bei der Deutung von Gewalthandlungen ist es unerlässlich, nicht allein auf den ethnischen Hintergrund zu fokussieren, sondern ebenfalls den Bildungshintergrund zu berücksichtigen. So ist in der Forschung gut belegt, dass Gewalthandlungen häufiger in Hauptschulen auftreten, Gymnasien dagegen mit diesem Problem deutlich weniger konfrontiert sind. Gleichzeitig ist eine deutlich stärkere Präsenz von Migrantenjugendlichen in Hauptschulen zu verzeichnen. Für Heranwachsende ist der besuchte Schultyp oft verbunden mit erlebter Benachteiligung und birgt schlechtere Zukunftsperspektiven und Chancen für späteres soziales Prestige, Einkommen und vor allem Selbstverwirklichung.

Darüber hinaus ist in Erinnerung zu rufen, dass die Lebenswelten von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte heterogener und spannungsreicher sind als die der Einheimischen. Sie müssen sowohl elterliche Inkonsistenzen und Unklarheiten als auch kulturelle Inkonsistenzen, unterschiedliche Anforderungen und Erwartungen austragen. Bei ihnen kommt darüber hinaus ein Konfliktfeld hinzu, das in dieser Form bei Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte nicht vorhanden ist: das Themenspektrum um ihre Integration, Assimilation, Separation sowie ethnische Diskriminierung im Alltag. Und nicht zuletzt bringen einige Familien und Jugendliche auch Traumatisierungen oder traumatische Kriegs- und Gewalterlebnisse aus den Herkunftsländern mit (so etwa aus dem Libanon oder Bosnien), die zu einer individuell deutlich höheren Gewalttoleranzschwelle führen.

Rolle der Familie für das Gewalthandeln

Die Beschäftigung mit den Ursachen delinquenten Verhaltens kommt um die Institution der Familie nicht umhin, gehen doch gerade von ihr die bedeutendsten Impulse für Sozialisation und individuelle Entwicklung junger Menschen aus. Kulturhistorisch war Familie stets der Ort der primären Einweisung des Menschen in die Welt: In der Familie erfahren Kinder sowohl zuerst als auch am intensivsten elementare Gefühle wie Sicherheit, Geborgenheit, Liebe, Respekt oder Hilfsbereitschaft. Die eigenen Eltern sind die ersten Lehrerinnen und Lehrer, Bildnerinnen und Bildner des Menschen. Deshalb kann Familie sowohl ein zentraler Protektor als auch – im ungünstigen Fall – ein zentraler Risikofaktor im Leben junger Menschen sein. So zeigen beispielsweise Ergebnisse der Bindungstheorie, dass Kinder mit stabilen Bindungen an ihre primären Bezugspersonen über besser entwickelte soziale Fähigkeiten verfügen, während unsichere frühkindliche Bindungen, insbesondere bei Jungen, häufiger mit aggressivem Verhalten einhergehen.

Vor allem bei kindlichen Gewalttaten wird davon ausgegangen, dass die Erfahrung von Gewalt in der Erziehung den Kindern modellhaft vorführt, wie Konflikte mit Gewalt zu lösen sind. Eltern dienen dabei als primäre Modelle kindlichen Verhaltens. Einheitlich zeigen die Befunde, dass Kinder mit Gewalterfahrung im Elternhaus häufig auch gegenüber Gleichaltrigen aggressiver sind als Kinder ohne Gewalterfahrung. Auch Gewalt befürwortende Einstellungen sind bei Jugendlichen mit familialer Gewalterfahrung deutlich stärker ausgeprägt als bei jenen ohne Gewalterfahrung, wobei dieser Zusammenhang sich für männliche Jugendliche als stärker erweist als für weibliche.

Als psychologische Erklärung aus Resultaten der Bindungsforschung ist anzunehmen, dass Kinder, die im Elternhaus Gewalt erleiden, vermutlich zugleich bereits im Kleinkind- und Säuglingsalter nicht über verlässliche Bezugspersonen verfügten, somit von früh an eher misstrauisch gegenüber ihrer Umwelt waren und diese eher feindselig wahrgenommen haben. Im Kontakt mit anderen Kindern nehmen sie sich häufiger von diesen abgelehnt oder bedroht wahr, interpretieren die Handlungen anderer eher als feindselig oder provokativ und fühlen sich stärker genötigt, der vermeintlichen Bedrohung durch Gegenangriffe zuvorzukommen. Erlernte gewalttätige Muster werden dann in ähnlichen biografischen Kontexten wiederholt.

Nicht zuletzt zeigen Studien, dass in einem aggressiven Familienklima aufgewachsene Jugendliche nicht nur gegenüber Gleichaltrigen aggressiver waren, sondern sich auch als Erwachsene gegenüber ihren Kindern feindseliger verhielten als relativ unbelastet oder emotional akzeptiert aufgewachsene Jugendliche. Gleichwohl die plakative Feststellung "Gewalt erzeugt weitere Gewalt, und geschlagene Kinder werden selber zu Schlägern" in dieser Verkürzung nicht haltbar ist – denn Gewalt erfahrende Kinder können später auch depressive Verstimmungen und Rückzugsneigungen haben –, ist festzuhalten, dass das Risiko der Gewaltweitergabe bei selbst erfahrener Gewalt steigt, weil in der individuellen Entwicklung vor allem der aggressive Stil der erlebten Interaktion, also die speziellen Muster der Konfliktaustragung und Emotionsregulierung der Eltern, erworben und weitergegeben werden.

In anderen Arbeiten, so etwa bei der sehr aufwendigen und anspruchsvollen Längsschnittstudie "Rochester Youth Development Study", sind die Zusammenhänge deutlicher. Die Studie konnte die Transmissionseffekte überzeugend belegen, da ein direkter Einfluss von erfahrener Gewalt auf die ausgeübte Gewalt festzustellen war. Dabei hatte die elterliche Gewalterfahrung im Alter von 12 bis 17 Jahren deutlich stärkere Effekte auf das eigene Gewaltverhalten (um das 5,2-fache gegenüber unbelasteten Jugendlichen) im Vergleich zu Jugendlichen, die Gewalt im Alter von 0 bis 11 Jahren erfuhren (um das 1,7-fache gegenüber unbelasteten Jugendlichen). Am stärksten jedoch war die Gewaltbelastung der Jugendlichen, wenn sie bereits früh begann und immer noch anhielt. Ferner sind gesicherte Zusammenhänge zwischen elterlicher körperlicher Züchtigung und jugendlichem Befinden wie etwa Depressivität, Suizidalität und Selbstwertgefühl vorzufinden. Mit anderen Worten: Hohe Gewalterfahrungen schlagen sich auch in erhöhten Raten an Depressivität von Jugendlichen nieder.

Fasst man darüber hinaus die Ergebnisse familienpsychologischer Forschung zusammen, so sind sowohl für die Entwicklung als auch für die Verfestigung von Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen der Erziehungskontext beziehungsweise die elterlichen Erziehungsstile als eine bedeutsame Dimension herauszustellen. Dabei kann von einer Inkonsistenz der Erziehungsstile zwischen den Elternteilen (Mutter, Vater oder andere primäre Bezugspersonen) und einer zeitlichen Inkonsistenz innerhalb der Verhaltensweisen eines Elternteils unterschieden werden, etwa der unterschiedlichen Reaktionen bei einander vergleichbaren erzieherischen Situationen. Zu vermuten ist, dass erzieherisch unberechenbar erlebte Elternteile die Kompetenz von Kindern und Jugendlichen, das Verhalten von Koakteuren im Alltag angemessen zu antizipieren, vermindern, weshalb diese dann häufiger in Konflikte mit Gleichaltrigen geraten und durch die höhere Konfliktanfälligkeit auch ein höheres Maß an Verletzbarkeit zeigen oder vermehrt in die Opferrolle geraten. Psychologisch betrachtet hat eine inkonsistente Erziehung (das heißt eine Unklarheit über die gültigen erzieherischen Normen) für Kinder in der Regel negative Folgen für die Entwicklung, weil sich dadurch ein "internales" Kontrollbewusstsein – das Gefühl, die Umwelt durch das eigene Handeln steuern und mitgestalten zu können – schwächer ausbildet.

Auf der anderen Seite können in der Familie natürlich auch Ressourcen identifiziert werden: So hat sich etwa gezeigt, dass ein als positiv erlebtes Familienklima Gewalt hemmende Wirkungen entfaltet. Insofern ist die Deutung naheliegend, dass ein harmonisch erlebtes Familienklima Kindern und Jugendlichen positive Orientierungen und Handlungssicherheiten vermittelt, die es ihnen ermöglichen, in gewaltförmigen Situationen sowohl gewaltfreie Konfliktlösungen zu wählen, als auch gegenüber Konformitätsdruck von Gleichaltrigen immun zu sein, indem sie beispielsweise auf die emotionale elterliche Unterstützung zurückgreifen können. Vermutlich "schützen" Eltern, die ihren Kindern im häuslichen Kontext Anerkennung, Akzeptanz und Verbundenheit bieten, diese davor, in Gewalthandlungen involviert zu werden.

Gilt das für alle Elternhäuser? Einige Ergebnisse legen nahe, hier schicht- und milieuspezifische Aspekte zu berücksichtigen, weil dieselben Erziehungspraktiken je nach Kontext unterschiedliche Auswirkungen zeigen können: So wirkte sich beispielsweise laut Studien aus den USA körperliche Bestrafung erst dann negativ aus, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten wurden. Leichte körperliche Bestrafungen führten in manchen Familien zu geringeren Verhaltensproblemen, während dieselbe Maßnahme (wie Klaps auf den Po) in anderen Familien die Eltern-Kind-Beziehung stärker belastete und eher als ein Zeichen mangelnder Erziehungskompetenz gedeutet wurde. Ferner sind die Folgen einer harschen Disziplinierung bei Vorliegen einer grundsätzlich emotional warmen Beziehung zwischen Eltern und Kindern längst nicht so gravierend wie bei einer emotional problematischen Beziehung.

Präventionsmaßnahmen

Wenn über Prävention und Intervention gesprochen wird, ist vorab zu klären, ob diese von ihrer Intention lobenswerten Maßnahmen auch immer die erwünschten Effekte zeitigen. Denn in bestimmten Konstellationen können Interventionen sogar Gewalt steigern. Insbesondere bei sogenannten high-risk youths, Jugendliche mit einem hohen Gefährdungspotenzial, können Gruppentrainingsmaßnahmen eher kontraproduktive Effekte entfalten, wenn diese Jugendlichen in einem postpubertären Alter sind. Zurückgeführt wird dieser Effekt auf negative Verstärker, die von der Peergroup ausgehen: Der Einfluss Gleichaltriger war dabei etwa neun Mal stärker als beispielsweise der von Erwachsenen. Die höhere Dichte der negativen Einflüsse durch Gleichaltrige unterminierte auch den von Erwachsenen ausgehenden positiven Einfluss.

Um die generelle Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen einschätzen zu können, muss die Zielgruppe im Vorhinein spezifiziert werden. Dabei sind universelle Ansätze (also jene, die beispielsweise alle Jugendlichen, alle Kinder oder alle Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichten etc. in den Fokus der Prävention nehmen) weniger effektiv als selektive Ansätze, die eher bei jenen Gruppen ansetzen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, das unerwünschte Verhalten auszubilden.

Methodisch ist bei allen Präventionsprogrammen das Problem der Effektivitätsmessung eine Herausforderung: Denn mit Prävention sind stets Maßnahmen gemeint, die vorbeugend wirken sollen und letztlich die Ausbildung beziehungsweise die Ausprägung eines unerwünschten Ereignisses oder eines unerwünschten Persönlichkeitsmerkmales (wie der Aggression oder der antisozialen Persönlichkeit) verhindern sollen. Erfolg ist deshalb schwer nachzuweisen, weil es darum geht, etwas nicht Vorhandenes, nicht Ausgebildetes oder die Unterdrückung eines solchen Merkmales direkt an das Wirken einer Maßnahme zu binden. Denn es ist ja nicht der Normalfall, dass sich solche Merkmale immer ausbilden, da ja auch unabhängig von Präventionsmaßnahmen eine Vielzahl von Menschen ohne antisoziale Tendenzen aufwächst.

Darüber hinaus sollten Programme, die gezielt Kompetenzen fördern, auch nachweisen können, dass diese Entwicklung keine natürliche Veränderung ist, sondern Kompetenzzuwächsen durch die Intervention geschuldet ist. Und es sollte gezeigt werden können, dass die im Programm erlernten Verhaltensweisen einen Transfer zulassen oder tatsächlich auch transferiert werden. Konkret heißt das, dass diese im alltäglichen Handeln zum Einsatz kommen; so etwa, wenn das Kind während der Maßnahme eine Reduzierung seiner Gewalttätigkeit zeigte, sich diese auch später in seinem Alltag wiederfinden lässt und nicht auf die spezifische Trainingssituation begrenzt war.

Gewaltprävention: Eine übergreifende Aufgabe

Jenseits dieser methodischen Anforderungen ist zu erwähnen, dass Gewaltpräventionsprogramme sich nicht nur auf das Individuum beziehungsweise auf die Familie beschränken dürfen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen sein müssen und den erweiterten sozialen Kontext (wie die Rolle der Gemeinde, die Rolle der Medien, Attraktivität des Quartiers, gesellschaftliche Notlagen) in den Blick nehmen müssen.

Auch sind Präventionsprogramme, die Gewalt im Kindesalter einzudämmen versuchen, besonders dann wirksam, wenn sie bei den Eltern beziehungsweise an deren Erziehungskompetenzen ansetzen. So konnte beispielsweise bei aggressiv-verhaltensauffälligen vierjährigen Kindergartenkindern (also einer selektiven Gruppe) mittels eines Elterntrainings und durch Einsatz von Familienhelfern das auffällige Verhalten deutlich reduziert werden. Die Effekte blieben auch nach einem Jahr stabil.

Im Allgemeinen wird bei jüngeren Kindern von einer kindzentrierten Sicht eher abgeraten; favorisiert werden familienzentrierte Maßnahmen. Denn in dieser Phase hat die Familie noch den stärksten Einfluss auf das kindliche Verhalten. Jedoch erweisen sich Elterntrainings allein als wenig wirksam, wenn Familien mehrfachen Belastungen und Risiken ausgesetzt sind (etwa Partnerschaftsprobleme, psychische Auffälligkeiten, soziale Isolation, sozioökonomische Benachteiligungen). Unter diesen Bedingungen ist nur mit mäßigen Erfolgen zu rechnen. Hier sind therapeutische sowie konkrete Verbesserungen der Lebenslage von Familien anzustreben.

Interventionsprogramme gegen jugendliche Gewaltbelastungen versprechen eher dann Erfolge, wenn sie recht früh beginnen (etwa in der Altersphase von der 3. bis 5. Klasse, in der sich das problematische Verhalten noch nicht verfestigt hat); und wenn sie im Training so durchgeführt werden, dass riskante (gefährdete) und nicht-riskante Jugendliche in einer Gruppe zusammen sind, also nicht nur eine "Behandlung" von "Gefährdeten" erfolgt. Ein "Mix" von "antisozialen" und "prosozialen" Jugendlichen scheint eher hilfreich zu sein.

Im Allgemeinen scheinen Trainings zur Förderung sozialer Kompetenzen Erfolg versprechend zu sein: Jugendliche, die an solchen Programmen teilnahmen, zeigten weniger antisoziale Verhaltensweisen. Dabei war zu beobachten, dass nach dem Training die kognitiven Fähigkeiten deutlich zunahmen und die Trainings auch vier bis sechs Monate nach der Maßnahme noch ihre Wirkung zeigten. Die "harten Daten des antisozialen Verhaltens, also das sichtbare Verhalten," nahmen hingegen nach der Maßnahme nur tendenziell ab.

Für die Interventionsforschung gilt als ein zentrales Prinzip, dass frühe Interventionen nur dann erfolgreich sind, wenn sie an die Familie beziehungsweise die familialen Werte und die Verwirklichung dieser Werte in Alltagsroutinen anknüpfen, hierbei also auch spezifische kulturelle Einflussfaktoren berücksichtigen.

Mit Blick auf Familien mit Zuwanderungsgeschichte heißt das, dass Interventionsmaßnahmen und Trainingsprogramme an deren alltagsweltliche Überzeugungen anschlussfähig sein sowie sprachliche und kulturelle Sensibilität zeigen müssen, wenn sie Effekte bei den betroffenen Kindern und Familien bewirken sollen.

Letztlich sind die Voraussetzungen für die Integration neuer Werte und Überzeugungen (wie etwa des Prinzips der Gewaltfreiheit) in die eigene Wertestruktur von Angeboten und Anforderungen in einem von dem Einzelnen akzeptierten sozialen Milieu abhängig. Lediglich von außen verordnete Anweisungen haben hingegen eher geringe Auswirkungen auf die intrinsische Motivation oder auf ein auf Überzeugungen basierendes Handeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Leo Montada, Delinquenz, in: Rolf Oerter/ders. (Hrsg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim 1995.

  2. Vgl. Walter R. Gove, The Effect of Age and Gender on Deviant Behavior: A Biopsychosocial Perspective, in: Alice S. Rossi (ed.), Gender and the Life Course, New York 1985.

  3. Vgl. Terrie Moffitt, "Life-Course Persistent" and "Adolescent-Limited" Antisocial Behaviour, in: Psychological Review, (1993) 100, S. 674–701.

  4. Vgl. David Farrington/Lloyd E. Ohlin/James Wilson (eds.), Understanding and controlling crime, New York 1986.

  5. Vgl. Dirk Baier et al., Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum, KFN-Forschungsbericht 109/2010.

  6. Vgl. Christian Babka von Gostomski, Einflussfaktoren inter- und intraethnischen Gewalthandelns bei männlichen deutschen, türkischen und Aussiedler-Jugendlichen, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, (2003) 23, S. 399–415.

  7. Vgl. Kismet Seiser, "Das ist bei türkischen Familien so …". Psychodynamische, kulturelle und migrationsspezifische Aspekte der Beratung von Migrantenfamilien", in: Klaus Menne/Andreas Hundsalz (Hrsg.), Jahrbuch für Erziehungsberatung, München 2006.

  8. Vgl. Murray A. Straus, Beating the devil out of them: Corporal punishment in American families, Boston 1994.

  9. Vgl. Angela Ittel/Poldi Kuhl/Nicole Werner, Familie, Geschlechterrolle und Relationale Aggression, in: Angela Ittel/Maria von Salisch (Hrsg.), Lügen, Lästern, Leiden lassen, Stuttgart 2005.

  10. Vgl. Ronald L. Simons et al., Intergenerational transmission of harsh parenting, in: Developmental Psychology, (1991) 27, S. 159–171.

  11. Vgl. zu den zentralen Ergebnissen der Studie: OJJDP Fact Sheet 103/1999, online: Externer Link: http://www.ncjrs.gov/pdffiles1/fs99103.pdf (8.10.2012).

  12. Vgl. Terence P. Thronberry, The apple doesn’t fall far from the tree (or does it?), in: Criminology, (2009) 47, S. 297–325.

  13. Vgl. Elizabeth T. Gershoff, Corporal punishment by parents and associated child behaviors and experiences, in: Psychological Bulletin, (2002) 128, S. 539–579.

  14. Vgl. Friedrich Lösel/Thomas Bliesener, Zum Einfluß des Familienklimas und der Gleichaltrigengruppe auf den Zusammenhang zwischen Substanzgebrauch und antisozialem Verhalten von Jugendlichen, in: Kindheit und Entwicklung, (1998) 7, S. 208–220.

  15. Vgl. Kirby Deater-Deckard/Kenneth A. Dodge, Externalizing Behavior Problems and Discipline Revisited, in: Psychological Inquiry, (1997) 8, S. 161–175.

  16. Vgl. Andreas Beelmann et al., Zur Entwicklung externalisierender Verhaltensprobleme im Übergang vom Vor- zum Grundschulalter, in: Kindheit und Entwicklung, (2007) 4, S. 229–239.

  17. Vgl. Thomas J. Dishion/Joan McCord/François Poulin, When interventions harm, in: American Psychologist, 54 (1990) 9, S. 755–764.

  18. Vgl. Ulrike Lehmkuhl/Gerd Lehmkuhl/Manfred Döpfner, Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen. Frühe Verhaltensindikatoren, Verlauf und Interventionsansätze, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, (2002) 45, S. 984–991.

  19. Mario Gollwitzer, Ansätze zur Primär- und Sekundärprävention aggressiven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen, in: ders. et al. (Hrsg.), Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2007.

  20. Vgl. Michael J. Guralnick, International perspectives on early intervention: A search for common ground, in: Journal of Early Intervention, (2008) 30, S. 90–101.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Haci-Halil Uslucan für bpb.de

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PD Dr. phil., geb. 1965; Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung, Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Duisburg-Essen; Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI), Altendorfer Straße 3, 45127 Essen.
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