Die Vorstellung, dass einige Völker nicht in der Lage sind, sich selbst zu regieren, und daher auf die Hilfe von "zivilisierteren" Völkern angewiesen sind, die für sie freundlicherweise die Regierungsgeschäfte übernehmen, erscheint heutzutage ebenso absurd wie anachronistisch. Dennoch wird bisweilen auch Jahrzehnte nachdem fast alle Kolonien ihre Unabhängigkeit erkämpft oder gewährt bekommen haben, immer noch der Vorwurf des Kolonialismus laut: Wir lebten auch nach der formalen Dekolonisation nicht in einer nachkolonialen, sondern in einer neokolonialen Weltordnung.
Dieser Beitrag will diesem Vorwurf nachgehen und anhand einiger Beispiele die Brüche und Kontinuitäten untersuchen, die sich bei einer eingehenderen Beschäftigung mit der nachkolonialen Ära auffinden lassen. Dazu wird zunächst definiert, was unter Kolonialismus und Neokolonialismus zu verstehen ist, bevor Phänomene aus verschiedenen Bereichen – Weltwirtschaft, Militär, Entwicklungszusammenarbeit, Landwirtschaft, Biodiversität, Migration sowie Kultur und Medien – im Hinblick auf diese Definitionen diskutiert werden. Dabei wird auch darauf eingegangen, ob und inwiefern der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank "Instrumente der Ausbeutung" des Globalen Südens sind oder Globalisierung und Entwicklungszusammenarbeit als neue Formen des Kolonialismus zu bezeichnen sind.
Kolonialismus und Neokolonialismus
Der Historiker Jürgen Osterhammel definierte Kolonialismus wie folgt: "Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen der Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen."
Die hier beschriebene ideologisch verbrämte Herrschaft über "kulturell Andersartige"
Damit ist die Frage der Existenz des Kolonialismus im 21. Jahrhundert
Elemente einer solchen vertraglich abgesicherten Souveränitätseinschränkung sind vielfältig: Am häufigsten anzutreffen sind Mitspracherechte des dominanten Staates bei der Regierung, Schutz seiner Staatsangehörigen vor einheimischer Jurisdiktion, die Stationierung seiner Truppen und die Festlegung der einheimischen Wirtschafts-, vor allem der Zollpolitik. Davon unterscheidet Osterhammel nichtkoloniale Einflussnahme auf der Grundlage militärischer oder wirtschaftlicher Überlegenheit, die allerdings nicht mit vertraglicher Kodifizierung von Sonderrechten einhergeht.
In ähnlicher Weise wurde nach der Dekolonisation vom ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah der Begriff des Neokolonialismus geprägt: Trotz formaler Souveränität würde das wirtschaftliche und politische System mancher Staaten von außen gesteuert. Unter diesen Bedingungen würden Auslandsinvestitionen nicht zu "Entwicklung", sondern zu "Ausbeutung" führen und die Kluft zwischen armen und reichen Ländern vergrößern. Neokolonial kontrollierte Staaten würden auch als Werkzeuge in Stellvertreterkriegen der Supermächte missbraucht. Somit sei Neokolonialismus die schlimmste Form des Imperialismus, da sich der dominante Staat durch die formale Souveränität der entsprechenden Staaten auch jeder Verantwortung und Rechenschaft entledigt habe.
In der Folge wurde der Begriff oftmals als Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung verwendet, um die vermeintliche Kontrolle der Länder der "Dritten Welt" durch solche der "Ersten Welt" anzuprangern, vor allem die Kontrolle über Ressourcen, Wirtschaftspolitik und Absatzmärkte, aber auch Abhängigkeiten in anderen Bereichen wie Kultur und Medien.
An dieser Stelle offenbart sich ein Dilemma: Einerseits würden die betreffenden Regierungen und Unternehmen zu Recht einwenden, dass Bestrebungen zur Kontrolle der Ressourcen und Märkte zu ihrer Überlebenssicherung notwendig und in einem kapitalistischen beziehungsweise nationalstaatlichen System üblich und somit legitim seien.
Weltwirtschaft
Auf der Suche nach Brüchen und Kontinuitäten zwischen kolonialer und nachkolonialer Ära in der Weltwirtschaft ist zunächst festzuhalten, dass die koloniale Arbeitsteilung (Rohstoffproduktion für den Export im Süden, Technologieproduktion im Norden) zwar in vielen Fällen noch Bestand hat, aber spätestens seit den 1970er Jahren systematisch durch Industrialisierungsprozesse vor allem in Süd-, Ost- und Südostasien aufgebrochen wurde.
Der Vorwurf des Neokolonialismus ist jedoch selten auf dieser allgemeinen Ebene formuliert worden, sondern richtete sich im Bereich der Weltwirtschaft meist gegen die Akteure IWF und Weltbank. Dazu ist zunächst zu sagen, dass die Stimmrechte in den Exekutivdirektorien beider Gremien nach der letzten Reform einige Länder des Globalen Südens (besonders China) deutlich stärker gewichten als früher, ihre Berechnung nach Kapitalanteilen ist jedoch noch immer alles andere als demokratisch. In der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) haben Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen immer noch mehr als doppelt so viele Stimmen (12,82 Prozent) wie die Vertreterinnen und Vertreter der etwa 50 afrikanischen Staaten (5,46 Prozent).
Die Hauptkritik richtete sich gegen die Strukturanpassungskredite der beiden Institutionen, die mit wirtschaftspolitischen Auflagen verknüpft waren: Nach Meinung der Fürsprecher initiierten diese sinnvolle Reformen und Sparmaßnahmen,
Vergleichende Studien
Südkorea:
Nachdem das mittlerweile hochindustrialisierte Südkorea 1997 weitgehend unverschuldet von der Asienkrise getroffen wurde, kam der IWF mit einem "Rettungspaket" von 57 Milliarden US-Dollar zu Hilfe: immense Kredite um die Rechnungen der Gläubiger zu begleichen, verbunden mit wirtschaftspolitischen Auflagen. Dass die Austeritätsprogramme die Krise verschärften und die Arbeitslosigkeit in die Höhe trieben, ist kaum bestritten
Bemerkenswert ist auch, dass der IWF-Kredit erst gewährt wurde, nachdem alle Präsidentschaftskandidaten der anstehenden südkoreanischen Wahlen versichert hatten, sich an die Auflagen zu halten; und dass die IWF-Position in den Verhandlungen eng mit einem Vertreter des US-amerikanischen Finanzministeriums abgesprochen wurde; aber auch, dass der südkoreanische Finanzminister wegen seiner IWF-unfreundlichen Haltung entlassen und durch einen ehemaligen IWF-Mitarbeiter ersetzt wurde.
Von den vier Merkmalen quasi-kolonialer Kontrolle ist hier eine Einschränkung der Souveränität hinsichtlich der vertraglichen Festlegung der Wirtschaftspolitik anzutreffen und zumindest auf der informellen Ebene auch hinsichtlich einer Mitsprache bei der Regierungsbildung, wenn Personalentscheidungen so deutlich vom IWF beeinflusst werden.
Ghana:
Das zweite Beispiel betrifft Ghana und ist zeitlich nach der Umwandlung der Strukturanpassungs- in Armutsbekämpfungsprogramme ab 1999 angesiedelt. Nachdem der Anteil der einheimischen Geflügelproduktion am ghanaischen Markt zwischen 1992 und 2001 durch hochsubventionierte Dumpingexporte vor allem aus der EU von 95 auf 11 Prozent zurückgegangen war (was entsprechende Folgen für die Arbeitsmarktsituation vor Ort hatte), verabschiedete das Parlament 2003 ein Gesetz zur Erhöhung der Einfuhrzölle von 20 auf 40 Prozent (Act 641). Nach Konsultationen mit dem IWF – der IWF sprach von Ratschlägen, Parlamentsmitglieder von Druck, Verbände der Bäuerinnen und Bauern von einem Diktat – wurde das Gesetz kurze Zeit später zurückgenommen. Der IWF hatte unter anderem argumentiert, der Schutzzoll würde der Armutsbekämpfung schaden.
Auch wenn die Merkmale der vertraglich festgelegten Souveränitätseinschränkung in diesem Fall abwesend sind, erscheint der Vorwurf neokolonialer Einflussnahme nachvollziehbar und die Parallele mit dem Freihandelsimperialismus des britischen Empire naheliegend. Ähnliche Mechanismen zur Druckausübung, um Freihandel in der Weltwirtschaft durchzusetzen – der in der Regel vor allem kapitalstarken und wettbewerbsfähigen Konzernen aus dem Globalen Norden ermöglicht, die Märkte des Globalen Südens zu erobern –, finden sich in den Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO).
Militärinterventionen und Protektorate
Noch deutlicher werden die Kontinuitäten zur kolonialen Ära, wenn wir uns die Militärinterventionen der vergangenen Jahrzehnte im Kosovo, in Afghanistan, im Irak und ihre politischen und wirtschaftlichen Implikationen ansehen. Die UN-Übergangsverwaltung im Kosovo UNMIK hat (in Anordnung 2000/47) ihr eigenes sowie das Personal der peacekeeping force KFOR für immun gegenüber der Rechtsprechung kosovarischer Gerichte erklärt; auch führte sie (in der Provisorischen Verfassung) die freie Marktwirtschaft ein und übertrug dem Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen die Verantwortung für die Geld- und Wirtschaftspolitik – ohne jedes Mandat der Bevölkerung.
Auch in der afghanischen Verfassung sind freie Marktwirtschaft und Investorenschutz festgeschrieben. Umfangreiche Zollreduktionen, Steuerbefreiungen und Optionen auf vollständigen Gewinntransfer ins Ausland garantieren günstige Bedingungen für ausländische Unternehmen.
Eine solche Immunität galt ebenso für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der 2004 aufgelösten Coalition Provisional Authority, der US-Besatzungsbehörde im Irak: Hier standen die Verordnungen der Behörde über den irakischen Gesetzen, wurden Zölle und Handelsbarrieren abgebaut und ein "günstiges Investitionsklima" (hinsichtlich Steuerbefreiung und Gewinntransfer) geschaffen, und schließlich wurde sichergestellt, dass der Großteil der Verordnungen auch nach der formalen Unabhängigkeit des Irak in Kraft bleiben.
In allen drei Fällen ist nach der obigen Definition eindeutig von einer quasi-kolonialen Ordnung zu reden. In zahlreichen anderen Ländern ist die Stationierung ausländischer Truppen in Militärstützpunkten auch heute noch übliche Praxis. Dies bezieht sich nicht nur auf die USA (mit 900 solcher Stützpunkte), sondern beispielsweise auch auf die Militärbasen Frankreichs in Afrika
Entwicklungszusammenarbeit
Komplizierter sind die Sachverhalte im Politikfeld Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Jenseits der deutlich sichtbaren konzeptionellen und personellen Kontinuitäten
Der oft im selben Atemzug genannte Vorwurf der außenwirtschaftspolitischen Instrumentalisierung der EZ ist zwar kaum weniger plausibel, liegt jedoch bei näherer Betrachtung quer zu dem eben erwähnten: Wenn EZ vollständig den außenwirtschaftlichen Interessen untergeordnet ist und nur den Unternehmen aus dem Globalen Norden zugute kommt (man denke an die vielbeschworenen Berechnungen, wie viel Gewinn die Hilfe bringt), kann sie nur suboptimal als Bestechung für die Eliten funktionieren – und noch weniger als Versprechen für die Mehrheit und als Unterstützung einer altruistischen Samariteridentität. Die drei Dimensionen der EZ – geopolitische Einflussnahme, Außenwirtschaftsförderung und tatsächliche Hilfe – sind daher zu unterscheiden und ihre jeweiligen Anteile am konkreten Beispiel zu untersuchen.
Selbst die EZ als Hilfe ist seitens Post-Development-Denkschulen als eurozentrisch, kulturimperialistisch und herrschaftsförmig kritisiert worden.
Die außenwirtschaftliche Instrumentalisierung der EZ erfolgte besonders über die Lieferbindung: So wurden beispielsweise EZ-Gelder für einen Staudamm an die Auflage gebunden, die zur Konstruktion notwendigen Güter und Dienstleistungen bei einer deutschen Firma zu kaufen. Allerdings ist der nicht gebundene Anteil der EZ mittlerweile auf knapp 85 Prozent angestiegen.
Doch auch hier sind Ambivalenzen unübersehbar: Einige Schwellenländer wie Brasilien und Argentinien haben ihre Schulden beim IWF in den vergangenen Jahren vorzeitig zurückgezahlt, die Schuldenerlasse für die ärmsten Ländern sind oft immer noch unzureichend, wurden aber seit 1999 zunehmend substanzieller, und der weitaus größte Teil der EZ wird mittlerweile nicht mehr als Kredit (loan), sondern als Schenkung (grant) vergeben.
Ein letzter Punkt betrifft den Trend zur Budgethilfe innerhalb der EZ. Um "Projektinseln" (geberorientierte Projekte und Parallelstrukturen zur staatlichen Politik) zu vermeiden, wird EZ zunehmend als Zahlung in den Haushalt der Empfängerregierung geleistet. Im Gegenzug sind allerdings Vertreterinnen und Vertreter der Geberländer und -organisationen über Foren des Politikdialogs institutionalisiert an der Haushaltsplanung der jeweiligen Regierung beteiligt.
Land grabbing, Biodiversität, Migration
Auch in weiteren Bereichen sind Vorwürfe neokolonialer Politik geäußert worden. Die Nichtregierungsorganisation Grain hat in einer Broschüre die (rechtlich legale) Aneignung von landwirtschaftlichen Nutzflächen im großen Maßstab durch finanzstarke ausländische Investoren als land grabbing bezeichnet und mit kolonialen Praktiken verglichen, da sie mit dem Verlust der Verfügungsmacht lokaler Gemeinschaften über das Ackerland einhergeht.
Im Bereich der Biodiversität nannte Vandana Shiva 2002 die "Biopiraterie" als den Kolonialismus des 21. Jahrhunderts.
Auch in der Migrationspolitik sind vor allem der EU neokoloniale Praktiken vorgeworfen worden. Hierbei ging es meist um die Externalisierung der Migrationspolitik, das heißt um die Kontrolle und Abwehr potenzieller Migrantinnen und Migranten in die EU durch nordafrikanische und osteuropäische Staaten, die im Rahmen von Abkommen dazu verpflichtet werden und im Gegenzug finanzielle und materielle Unterstützung erhalten.
Fazit
Drei Punkte lassen sich als Fazit festhalten. Erstens sind die Brüche zwischen kolonialer und nachkolonialer Ära unverkennbar. Sie manifestieren sich allerdings oft darin, dass ehemalige Kolonien in der internationalen Arbeitsteilung oder beim Thema land grabbing die Position einnehmen, die ehemals den Kolonialmächten vorbehalten war, während europäische Länder wie Griechenland Souveränitätseinschränkungen erfahren. Mit anderen Worten: Die Asymmetrien bestehen fort, auch wenn Auf- oder Abstieg in der Hierarchie nicht mehr so eng an die Hautfarbe gebunden ist, viele Länder nehmen auch heute noch eine ähnliche Position im Weltsystem ein wie in der kolonialen Ära.
Zweitens finden sich auch in der heutigen Weltordnung stellenweise überraschend deutliche Phänomene quasi-kolonialer Kontrolle, vor allem in der Folge militärischer Interventionen, aber auch im Rahmen ökonomischer Strukturen und Prozesse. Diese Kontrolle wird jedoch meist nicht von einem Staat, sondern von einer internationalen Organisation, den Vereinten Nationen oder einem multilateralen Gremium ausgeübt.
Drittens weist die Mehrzahl der als Neokolonialismus bezeichneten Phänomene keine Merkmale quasi-kolonialer Kontrolle auf, sondern bezieht sich auf eine als kolonial empfundene Kontrolle der Wirtschaft durch ausländische Akteure. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die betreffenden Phänomene oft nichts weiter sind als die "ganz normalen" Auswüchse der aus einem globalisierten Kapitalismus und Staatensystem bestehenden Weltordnung. Die legitime marktwirtschaftliche und liberaldemokratische Normalität der einen ist der Neokolonialismus der anderen. Und meist gehören Erstere zum privilegierten Teil der Menschheit.