In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!“
Eine Aufarbeitung des Geschehens unter dem Stichwort der "Vergangenheitsbewältigung“ erfolgte zunächst nur zögerlich und allenfalls in moralischen Kategorien, da die pragmatische Bewältigung des Alltags alle Kräfte benötigte. Der notwendige Wiederaufbau fokussierte die Energie nach außen und beförderte damit auch die Reaktualisierung klassischer Männlichkeitsqualitäten wie Kraft, Leistung und Disziplin. Diese Entwicklung wurde später vorwurfsvoll mit dem Wort von der "Unfähigkeit zur Trauer“ belegt. Erst mit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre setzte eine kritische Auseinandersetzung mit der Generation der Väter ein. Damit verbunden wurden auch sukzessive "heroische“, soldatische und schließlich generell traditionelle Männlichkeitsentwürfe problematisiert. Die erste umfassende Darstellung zu diesem Thema erschien 1977.
Traditionelle Männlichkeit
Die traditionelle Männerrolle besteht vor allem aus Erfolg, Leistung, Härte, Macht, Distanz, Konkurrenz und Kampf. James M. O’Neil, der einst in den USA Hunderte von Untersuchungen über den männlichen Erziehungsprozess geprüft und zusammengefasst hat, kam 1982 zum Ergebnis, dass Männer sozialisiert werden, wettbewerbsbetont, leistungsorientiert und sachkompetent zu sein. Bereits achtjährige Jungen hätten diese Maxime verinnerlicht und wüssten, dass sie kämpfen, sich anstrengen und arbeiten müssten und dass sie nicht schwach und passiv sein dürften, wenn sie Männer werden wollten.
Robert Brannon hat schon 1976 die herrschenden Erwartungen an das Mann-Sein in besonders plastischer Form auf den Punkt gebracht: Erstens, der Junge und spätere Mann müsse in seiner Sozialisation alles vermeiden, was den Anschein des Mädchenhaften hat ("No sissy stuff“). Zweitens, nur wer Erfolg hat, sei ein richtiger Mann. Der Weg zum Erfolg führe ausschließlich über Leistung, Konkurrenz und Kampf ("Be a big wheel“). Drittens, der Junge und spätere Mann müsse wie eine Eiche im Leben verwurzelt sein. Er müsse jedem Sturm trotzen, hart, zäh und unerschütterlich ("Be a sturdy oak“). Und viertens, der Junge und spätere Mann wage alles. Er sei per se ein Siegertyp ("Give ’em hell“).
Um Männlichkeit muss gerungen werden. Der große Berliner Soziologe Georg Simmel (1858–1918) bezeichnete in diesem Verständnis Weiblichkeit als ein "Sein“ und Männlichkeit als ein "Tun“. "Welche Rolle in der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen jedem zukam, war eigentlich von der Natur her nur für die Frauen bestimmt (…) Dieser Mangel eines naturgegebenen Tätigkeitsinhalts wies (den Mann) auf schöpferische Freiheit, macht ihn zum Träger der Arbeitsteilung.“
Der einzelne Mann muss seine eigene Lebensweise von Männlichkeit finden und auch immer wieder neu interpretieren. Der individuelle Freiheitsgrad ist aber durch die Tradition eingeschränkt. Dabei ist es zunächst einmal irrelevant, ob die Begründung für diese Traditionen heute als falsch oder unzeitgemäß bewertet wird. Entscheidend ist vielmehr, dass es diese Tradition gibt und dass sie über eine Vielzahl von gesellschaftlichen Zwängen und Interessen auch unsere Gegenwart bestimmt. Was unsere Vorfahren uns an Bildern von Männlichkeit weitergegeben haben, ist für uns vorgegebene Realität, an der wir uns orientieren und die wir in unserer Erziehung verinnerlichen. Diese Verinnerlichung bestimmt unsere Sichtweise von uns selbst und von den anderen; sie strukturiert überdies unser Erleben und ist damit in gewisser Weise unsere Wirklichkeit, was auch Veränderung – entgegen aller kognitiven Einsicht – so sehr erschwert.
Veränderte Männlichkeit
Die Männlichkeit ist seit den späten 1960er Jahren dabei, sich prinzipiell anders aufzufächern als in den Jahrhunderten zuvor. Das betrifft nicht nur ökonomische, politische und kulturelle Machtpositionen, sondern geht wesentlich tiefer. Getroffen ist der Androzentrismus, das heißt die absolute Selbstverständlichkeit, dass Männer herrschen, die Gesetze machen, die Welt erklären und alle darauf hören. Der Mann ist die längste Zeit der unbestrittene Herrscher der Außenwelt gewesen. Ökonomische Veränderungen bedingen diese Entwicklung.
Die landläufige Meinung, dass erst der moderne Feminismus die traditionelle Männlichkeit in Auflösung gebracht habe, ist irrig. Schon in den 1950er Jahren lebten in den USA die Beats neue Männlichkeiten. Die Literatur vor allem von Jack Kerouac dokumentiert dies ebenso wie die Werke von Allen Ginsberg oder Alan Watts. In Deutschland versuchten einige Jahre später die sogenannten Gammler Vergleichbares. Schon äußerlich unterschieden sie sich mit ihren langen Haaren und gewollt ungepflegter Kleidung von der traditionellen Männlichkeit. In ihrer Lebensauffassung klinkten sie sich bewusst aus der "männlichen“ Leistungsgesellschaft aus und beschworen "kontraproduktive“ Werte wie Müßiggang, Unordnung und Spontaneität. Bundeskanzler Ludwig Erhard versprach damals: "Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören.“ Die NPD verlangte "endlich Maßnahmen (…) um das ganze Problem (…) radikal und im Sinne des gesunden Volksempfindens zu lösen“.
Die erwähnten Veränderungen dokumentieren sich unter anderem in verschiedenen Befragungen. 1975 unternahm die Soziologin Helge Pross die erste "repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau“.
Zehn Jahre später erschien die "Brigitte-Studie“. Die Veränderung der Frauen hatten ihrzufolge zu einem stärkeren Einstellungswandel bei den Männern geführt: "Verunsichert sind sie (…). Aber der neue Mann ist noch eine geringe Minderheit“.
1988 erschien die Untersuchung "Geschlechtsrollen im Wandel“, die vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) im Auftrag des Bundesfamilienministeriums erstellt wurde.
Dass die Männerwelt inzwischen stark in Bewegung geraten war, dokumentiert die Berliner Männeruntersuchung von 1990.
Untersuchungen um die Jahrtausendwende und danach belegen, dass diese Trends sich gefestigt haben. "Männer im Aufbruch“ titelt eine Befragung von 1998 und macht einen steigenden Anteil "neuer Männer“ aus.
Der Schluss, dass die traditionelle Männlichkeit inzwischen überholt ist, wäre jedoch fahrlässig. Ebenso ist es eine Fehlannahme, von einer veränderten Sozialisation auszugehen. Empirische Studien konstatieren, dass für den Umgang mit Jungen noch immer der Verhaltenskodex der traditionellen Männlichkeit verbindlich ist.
Frauenfokussierung
Wenn man den Blick von der eindimensionalen Betrachtung der Männlichkeit auf die Gesamtlandschaft der Geschlechter lenkt, so wird man nicht nur das Ende des Androzentrismus konstatieren müssen, sondern damit eng verbunden auch eine generelle Entwertung von Männlichkeit und eine Fokussierung auf die Lebenswirklichkeit der Frauen. Der Mann galt über Jahrhunderte als Schöpfer von Zivilisation und Kultur; er war verantwortlich für Schutz und Fortbestand des Gemeinwesens. Mit dem Feminismus setzte eine grundlegende Umwertung von Männlichkeit ein. Männer werden seither vorgestellt als Zerstörer der Natur, Kriegstreiber, Gewalttäter, Kinderschänder oder – in der Werbung – als Trottel. In ihrem Buch "Pornographie“ postulierte die amerikanische Radikalfeministin Andrea Dworkin ebenso schlicht wie dezidiert: "Terror strahlt aus vom Mann, Terror erleuchtet sein Wesen, Terror ist sein Lebenszweck.“ Das Dworkinsche Lösungsrezept: "Ich möchte einen Mann zu einer blutigen Masse geprügelt sehen.“
Wurden früher Mut, Leistungswille oder Autonomie von Männern hochgelobt, so werden diese einstigen Qualitäten heute als Aggressivität, Karrierismus und Unfähigkeit zur Nähe stigmatisiert.
Nebst der Misandrie hat sich im Laufe dieser Entwicklung eine selektive Wahrnehmung zugunsten der Frauen und zuungunsten der Männer etabliert. Ein signifikantes Beispiel dafür ist der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2011.
Ein weiteres Beispiel ist die offizielle Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt: Danach sind grundsätzlich Frauen die Opfer gewalttätiger Männer. Die Realität zeigt hingegen, dass Frauen, legt man einen weiten Gewaltbegriff zugrunde, in gleichem Maße gewalttätig sind: In einer jüngeren Befragung erwiesen sich 34,5 Prozent der Männer und 30,4 Prozent der Frauen als gewaltaktiv, wobei Männer stärker zu (sichtbarer) physischer Gewalt tendieren und Frauen zu (unsichtbarer) Kontrollgewalt und verbaler Gewalt. Auch die Opfererfahrungen halten sich die Waage: 41 Prozent der Frauen und 45 Prozent der Männer gaben an, schon einmal Opfer von Gewalt geworden zu sein. Von Partnergewalt zeigten sich beide Geschlechter mit etwa 20 Prozent gleichermaßen betroffen.
Männliche Problemlagen
Inzwischen gelten Frauen als die eigentlichen Gewinnerinnen der Modernisierung; ihr Aufstieg im Laufe der vergangenen 30 Jahre ist eklatant. Sie machen die besseren Schulabschlüsse, studieren häufiger, dominieren ganze Fachbereiche und stellen die Mehrheit der kompetenten Berufsanfänger. Die Emanzipationsverlierer hingegen sind heute Jungen und Männer. Das lässt sich selbst in der Arbeitswelt dokumentieren, wo angeblich die Dominanz der Männer verankert ist. Die Entwicklung der Wirtschaft tendiert seit geraumer Zeit in Richtung des "weiblichen“ Dienstleistungsgewerbes und zur sukzessiven Schrumpfung der "männlichen“ Industriearbeit. Entsprechend steigt die weibliche Erwerbstätigkeit, während die männliche ebenso kontinuierlich abnimmt. Das alimentiert nicht gerade die Zukunftsperspektiven der nachwachsenden Generation. In den USA spricht man mittlerweile nicht mehr von Rezession, sondern von He-cession. Grundsätzlicher ausgedrückt: Die männliche Ernährerrolle ist die längste Zeit allgemein verbindlich gewesen. Das bedroht eine männliche Identität, die sich seit Jahrhunderten primär über die Arbeitsleistung bestimmt, und verunsichert ein männliches Selbstwertgefühl, das seine Energie aus dem Wissen bezogen hat, für die eigene Familie verantwortlich zu sein. Bricht dieses Verständnis von Männlichkeit zusammen, brechen auch die Grundfesten von Männlichkeit weg. Dieser Vorgang kann gar nicht dramatisch genug geschildert werden, zumal – trotz aller Veränderungen – das soziale Verständnis von Männlichkeit noch immer zentral an der Erwerbsarbeit festgemacht wird.
Andere Tatbestände werden öffentlich noch weniger zur Kenntnis genommen: Rund Dreiviertel der Suizidtoten in Deutschland sind Männer. Seit 2006 schwanken die Zahlen zwischen 74,5 und 78 Prozent. In der Adoleszenz sind gar 86 Prozent der Suizidtoten männlich. In den vergangenen vier Jahren ist die Suizidquote von Männern und männlichen Jugendlichen noch einmal signifikant angestiegen, während jene, die Frauen und Mädchen betrifft, kontinuierlich abnimmt.
Das fügt sich ein in eine gesamthaft desaströse Gesundheitsbilanz von Männern. Die moderne Gesundheitsforschung bezeichnet Männer inzwischen als das kranke oder das eigentlich schwache Geschlecht. Die Lebensqualität vieler Männer hat in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Beratungsstellen für Männer machen auf folgende Problembereiche aufmerksam: Männer haben wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien, vermissen wirkliche Freundschaften und soziale Netze, klagen über emotionale Probleme und leiden zunehmend an Impotenz.
Auch das viel beklagte Geburtenproblem hat einen engen Zusammenhang mit der Krise der Männlichkeit. Diverse Studien dokumentieren, dass der Familien- und Kinderwunsch bei jungen Frauen massiv höher ist als bei jungen Männern.
Entsprechend neuer Daten des Statistischen Bundesamtes ist seit 1991 die Quote der alleinlebenden Männer um 81 Prozent gestiegen.
Das unbekannte Geschlecht
Dass Männer in der offiziellen Geschlechterpolitik nur als Objekt der Kritik ins Visier geraten sind, ist problematisch. Grundsätzlich läuft es der demokratischen Verfasstheit eines Staatswesens zuwider, wenn ein ganzes Geschlecht aus politischen Bemühungen ausgespart bleibt. Zwar ist die Männerfrage seit längerem gestellt,
Im April 2011 brachten die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im Deutschen Bundestag den Antrag "Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ ein.
Das deutet auf einen Perspektivwechsel hin, der bisher allerdings noch nicht eingelöst wurde. Generell wird man bemerken müssen, dass es seit geraumer Zeit an Empathie für das männliche Geschlecht fehlt. Jungen und Männer haben – wohlgemerkt für ihre geschlechtsspezifischen Anliegen – keine Advokaten. Das gilt auch für das, was sich als Männerforschung etikettiert; letztere hat sich von Anfang an explizit als feministisch oder zumindest pro-feministisch verstanden. Entsprechend argumentiert sie nicht nur häufig an den pragmatischen Bedürfnissen der Männer vorbei, sondern nimmt auch deren vielfache Bedürftigkeiten nicht wahr. Das ist pikanterweise auch das Problem bei männerpolitischen Organisationen wie beispielsweise dem Bundesforum Männer. Dieser Mangel befördert den Antifeminismus, der in den vergangenen Jahren stark aufgekommen ist.
Freuds Diktum von den Frauen als dark continent hat sich historisch gedreht. Die Welt der Frauen ist heute differenziert erforscht, während Männer eher das unbekannte Geschlecht repräsentieren. Dazu haben sie allerdings auch selbst beigetragen, weil sie sich – im Gegensatz zu den Frauen – um ihre eigene Verfasstheit zu wenig kümmern.