"One man, one vote" – so lautet das zentrale Gleichheitsversprechen der Demokratie. Mit gleichen Wahl- und Beteiligungsoptionen zwischen der Stimmabgabe sollen allen Bürgerinnen und Bürgern ähnliche Partizipationschancen offenstehen und alle Bevölkerungsgruppen politische Entscheidungen prinzipiell gleich beeinflussen können. Soweit zum Versprechen und zum Ideal von Demokratie. Dieses Versprechen wurde noch nie vollständig eingelöst und das Dilemma politischer Ungleichheiten schon lange konstatiert.
Vieles weist darauf hin, dass Ungleichheiten bei politischer Partizipation und Repräsentation in Zukunft sogar zunehmen werden. Denn die wachsenden ökonomischen Ungleichheiten haben Auswirkungen auch auf den politischen Bereich.
An diesen Befund schließt sich eine Reihe von Fragen an, die im Folgenden diskutiert werden: (1) Bestandsaufnahme ungleicher Partizipation und Repräsentation: Wie sieht politische Ungleichheit konkret aus? Welche Gruppen partizipieren in welchen Beteiligungsoptionen? (2) Effekte ungleicher Partizipation und Repräsentation: Ist politische Ungleichheit schlecht? Welche Bedeutung hat das geringe Beteiligungsniveau einiger Gruppen für demokratische Gesellschaften? (3) Reformvorschläge: Können neue partizipative Beteiligungsverfahren politische Gleichheit herstellen? Wie kann Repräsentationslücken begegnet werden?
Bestandsaufnahme
Art und Umfang politischer Partizipation und Repräsentation hängen ab von Faktoren wie Bildung, Geschlecht oder Alter. Wie sehen diese konkret aus? Bezüglich der Wahlbeteiligung sind gegenläufige Entwicklungen zu erkennen. Insgesamt nimmt die Wahlbeteiligung ab. Nicht die gesamte Bevölkerung hat sich jedoch in gleicher Weise zurückgezogen. Bemerkenswert ist die Entwicklung des weiblichen Teils: Während Frauen jahrelang seltener als Männer zur Wahlurne gingen, hat sich dies mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Frauen unter 60 Jahren gehen heute häufiger wählen als ihre männlichen Altersgenossen.
Bei Personen aus bildungsfernen Schichten sieht die Situation anders aus.
Doch nicht nur Gleichheit beim Wählen ist ein zentrales Versprechen von Demokratie, sondern prinzipiell gleiche Chancen aller Bürgerinnen und Bürger auf politische Entscheidungspositionen. Wie ungleich beziehungsweise gleich sind diese Chancen verteilt? Hinsichtlich der Repräsentation von Frauen kann mittlerweile von einer Erfolgsgeschichte gesprochen werden. Nach Jahrzehnten, in denen Frauen in der Politik dramatisch unterrepräsentiert waren, sind sie seit den 1990er Jahren zunehmend stärker vertreten (Vgl. Abbildung 1 der PDF-Version).
Anders sieht die Situation bei den Angehörigen der unteren Bildungs- und Einkommensgruppen aus. Sie scheinen immer weniger Chancen zu haben, in politische Elitepositionen aufzusteigen. So hat die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten einen Hochschulabschluss, und in den Führungsgremien sind mittlerweile nahezu ausschließlich Akademikerinnen und Akademiker zu finden.
Bei vielen nicht institutionalisierten Beteiligungsformen jenseits von Wahlen (wie etwa Petitionen oder Demonstrationen) sieht die Situation ähnlich aus. Geschlechterunterschiede scheinen auch bei diesen Verfahren zu verschwinden, während Unterschiede hinsichtlich Bildung und Einkommen sich immer stärker verfestigen. Personen mit höheren Bildungsabschlüssen sind auch hier besser vertreten (Vgl. Abbildung 2 der PDF-Version).
Besonders stark ausgeprägt ist der Unterschied zwischen Langzeiterwerbslosen beziehungsweise dauerhaft "Armen" und jenen, die kontinuierlich im Erwerbsleben stehen. Allerdings scheint auch hier das Bildungsniveau die zentrale Variable zu sein, denn es ziehen sich auch bei den "Langzeit-Armen" die Bildungsfernen am stärksten zurück.
Wie sehen die Partizipationsmuster von Menschen mit Migrationshintergrund aus? Zwar haben viele von ihnen kein Wahlrecht und sind bei nicht institutionalisierten Beteiligungsverfahren nur schwach vertreten. Bei der Repräsentation in politischen Elitepositionen ist seit einigen Jahren jedoch ein leichter Anstieg zu erkennen. In Vertretungskörperschaften auf lokaler, Länder- und Bundesebene sind Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund zunehmend öfter vertreten.
Effekte
Die politische Abstinenz bildungsferner und einkommensschwacher Personen sowie die wachsenden Macht- sowie Einflussasymmetrien haben fatale Folgen und könnten auf lange Sicht sogar Demokratie, Gesellschaft und Ökonomie gefährden.
Erstens richten sich politische Entscheidungsträger eher nach den Präferenzen partizipierender Gruppen. Generell ist die Vertretung von Gruppeninteressen der zentrale Motor von Repräsentation – denn Repräsentanten wollen von ihrer jeweiligen Wählerschaft (wieder) gewählt werden. Bevölkerungskreise, die sich politisch nicht beteiligen, entschwinden vom Radarschirm politischer Repräsentanten. So wies Martin Gilens nach, dass die Responsivität
Besonders auffallend ist der vollständige Mangel an Responsivität gegenüber den Interessen der untersten Einkommensgruppen. Ob dieses Ergebnis nur für die USA zutrifft oder auch für Deutschland, wird noch zu untersuchen sein.
Unter dieser selektiven Responsivität leidet, zweitens, politische Legitimität: Vor allem Personen aus den unteren Bildungs- und Einkommensschichten sind überzeugt, dass Politikerinnen und Politiker sich nicht um ihre Interessen kümmern und dass sie keinen Einfluss auf die Regierung haben.
Auf lange Sicht aber können Demokratien ohne Zustimmung und Unterstützung ihrer Bevölkerung kaum stabil bleiben. Wenn immer größere Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass sie aus politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind – und sich zunehmend selber ausschließen –, wächst die politische Entfremdung. Aus der Politiker- und Politikverdrossenheit kann eine Institutionen- und schließlich sogar Demokratieverdrossenheit entstehen – inklusive Abwanderung zu extremen Parteien.
Diese Verdrossenheit wird vermutlich, drittens, nicht beim politischen System stehen bleiben. Vielmehr sind sogenannte Spill-over-Effekte wahrscheinlich: Bei politisch Marginalisierten könnte auch das Interesse an Partizipation in der Zivilgesellschaft und der Ökonomie verschwinden. Ein Effekt wäre, dass sozioökonomische Ungleichheiten ansteigen.
Mindestens ebenso riskant ist jedoch eine andere Gefahr: Mit der Verweigerung politischer und sozioökonomischer Partizipation bildungsferner und einkommensschwacher Schichten könnte ein Kernelement modernder, leistungsstarker Gesellschaften verlorengehen: der Glaube an die Möglichkeiten des Aufstiegs (soziale und politische Mobilität). Wenn große Bevölkerungsgruppen nicht mehr an soziale und politische Mobilität glauben, wenn sie auf dem Erwerbsarbeitsmarkt infolge mangelnder Erfolgsaussichten nicht mehr reüssieren wollen, wird auf lange Sicht vermutlich die Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaften leiden. Untersuchungen zu diesen möglichen Entwicklungen stehen für Deutschland noch aus.
Reformvorschläge
Wie kann nun der politischen Ungleichheit entgegengewirkt werden? Drei unterschiedliche Reformvorschläge lassen sich identifizieren (Vgl. Tabelle der PDF-Version). Zum einen wird gefordert, dass politische Repräsentanten nicht mehr selektiv, sondern inklusiv die Präferenzen der Bürgerschaft berücksichtigen, also auch die Interessen der unteren Bildungs- und Einkommensschichten (inklusive Responsivität). Allerdings dürften die Erfolgsaussichten dieser Forderung gering sein. Denn, wie bereits erwähnt, können angesichts der geringen Wahlbeteiligung dieser Bevölkerungsgruppen sowie des fehlenden Wahlrechts für nicht-deutsche politische Repräsentanten vermutlich nur begrenzt zur Responsivität motiviert werden. Auf Wiederwahl können sie ja nur hoffen, wenn sie die Interessen von Wählerinnen und Wählern vertreten.
Zum zweiten können Reformen darauf abzielen die Selbstvertretung (deskriptive Repräsentation) politisch bislang schwach vertretener Gruppen in politischen Entscheidungsgremien zu stärken (Quotenregelung). Die dahinterstehende Logik lautet, dass sich Lebenskontexte verschiedener Bevölkerungsgruppen unterscheiden, woraus sich spezifische Bedürfnisse und Präferenzen entwickeln. Deshalb werden Personen aus den jeweiligen Gruppen als deren optimale Vertreter erachtet.
Diese Lösung hat sich bei der Vertretung von Frauen sowie von ethnischen Minderheiten als relativ erfolgreich erwiesen (Vgl. Abbildung 1 der PDF-Version). Ob diese Lösung allerdings für jede marginalisierte Gruppe und in jedem politischen Kontext anwendbar ist, ist fraglich.
Zum dritten werden seit einigen Jahren neue, partizipative Beteiligungsoptionen propagiert, vor allem direktdemokratische sowie deliberativ-konsultative Verfahren. Auch bislang politisch wenig aktive Bevölkerungsgruppen könnten, so hoffen viele, dort ihre Interessen vertreten und gehört werden.
Doch ist diese Hoffnung realistisch? Umfassende Analysen liegen zwar noch nicht vor, aber es zeichnet sich bereits eine differenzierende Debatte ab. So lautet die Frage nicht mehr schlicht, ob partizipative Verfahren eine Garantie – oder eher eine Gefahr – für politische Gleichheit darstellen. Von Interesse ist heute vielmehr, welche Verfahren mit welchem Verfahrensdesign politische Gleichheit verbessern oder Ungleichheit verschärfen. Die folgende Zusammenstellung ist als ein erster Schritt zu betrachten,
Betrachtet man die Effekte direktdemokratischer Beteiligungsverfahren
Ähnlich unklar ist die Situation in Deutschland. Eine Studie aus dem Jahr 2006
Die Abstimmung zur Schulreform in Hamburg (2010) demonstrierte im Gegensatz dazu erhebliche Ungleichheiten. Es ging dabei um eine Schulreform, von der vor allem Kindern aus bildungsfernen Schichten profitiert hätten. Eine Bürgerinitiative aus mehrheitlich ressourcenstarken Kreisen initiierte einen Volksentscheid, bei dem 56 Prozent der Teilnehmenden gegen die Reform stimmten. Die Beteiligungsquote in den wohlhabenden Bezirken war dabei besonders hoch, in den ärmeren Bezirken demgegenüber sehr niedrig. Es war offensichtlich nicht gelungen, Letztere zu mobilisieren. Und Migranten ohne europäischen Pass, deren Kinder mittlerweile einen hohen Anteil der Hamburger Schüler stellen, durften per se nicht an der Abstimmung teilnehmen.
Deliberativ-konsultativ sind Verfahren, bei welchen Bürgerinnen und Bürger sich im Dialog mit politischen Themen befassen und abschließend eine Empfehlung an die politischen Repräsentanten abgeben, wie etwa Bürgerhaushalte oder Bürgerpanels.
Wie steht es nun um die politische Gleichheit bei diesen Verfahren? Hinsichtlich der Partizipationsraten gilt auch bei diesen Verfahren die generelle Regel: Je höher die Anforderungen von Partizipation in Bezug auf Zeit, Fähigkeiten und Ressourcen sind, desto seltener werden bildungsferne und einkommensschwache Personen teilnehmen. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass sich politische Ungleichheiten verschärfen.
Politik und Wissenschaft haben diese Gefahr vielfach erkannt und experimentieren mit neuen Verfahren zur Integration "schwacher Interessen" wie etwa mit spezifischen Programmen ("Soziale Stadt"
Zwar zeigen Studien, dass auch politisch weitgehend marginalisierte Bürger sich engagieren, wenn sie von der Teilnahme eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhoffen. Aber auch dann sind spezifische Maßnahmen, die diese Beteiligung unterstützen, notwendig.
Ausblick
Politische Partizipation und Repräsentation waren schon immer ungleich verteilt. Seit den 1990er Jahren konnten Frauen jedoch aufholen, während die unteren Bildungs- und Einkommensschichten zurückfielen.
Die zunehmende politische Ungleichheit führt dazu, dass Interessen dieser Schichten immer weniger berücksichtigt werden und politische Legitimität sinkt – bis hin zur Demokratieverdrossenheit.
Mittelfristig könnte sich politische Apathie auf zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche ausweiten. Besonders gefährlich wird es, wenn viele Bürgerinnen und Bürger ihre Hoffnung auf soziale Mobilität verlieren. Wenn sie sich aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten nicht nur aus der Politik, sondern auch aus der Zivilgesellschaft und dem Arbeitsmarkt zurückziehen, wird auf lange Sicht vermutlich die Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft leiden.
Neue partizipative Verfahren eignen sich dabei nur bedingt als "Heilung". Generell tauchen altbekannte Probleme der Ressourcen- und Einflussasymmetrien auf, und unter dem Deckmantel von partizipativer Demokratie können sich ressourcen- und organisationsstarke Gruppen durchsetzen. Nur wenn die Organisatoren partizipativer Verfahren Maßnahmen zur Inklusion schwacher Interessen und zur inklusiven Responsivität der politischen Repräsentanten ergreifen, kann politische Gleichheit verbessert werden.